J. G. Rheinberger wünscht Franz von Holstein das Neujahr an


Brief von Joseph Rheinberger an Franz von Holstein [1]:

 

4.1.1874

Sehr geehrter Freund!

Es ist ein guter alter Brauch, sich das neue Jahr anzuwünschen, wie sehr man auch in unsrer aufgeklärten Zeit dagegen mit Neujahrswunschenthebungskarten ankämpft - man denkt unwillkürlich zurück an All das, was sich seit dem letzten Neujahr ereignet; man schaut in sich, um sich, hinter sich - und gewahrt mancherlei, das zu Freud oder Leid, oder Beherzigung oder Warnung dient. Indem ich nun um mich schaute, entdeckte ich mit Entsetzen unter meinen Briefschulden die gräulichste - die Briefschuld an Sie, verehrtester Freund. Wenn ich auch nun ein paar Tage zu spät komme, so hoffe ich doch, dass Sie meine besten Glückwünsche für Sie und Ihre geehrte Frau nicht weniger herzlich aufnehmen werden. Wie steht es denn eigentlich mit Ihrem "Erben von Morley" [2]? Da die "Genoveva" [3] nun glücklich überwunden ist, so sollte ich meinen, dass keine weiteren Hindernisse mehr wären.

Indessen kommt ein tückischer Freiherr [4] aus Norddeutschland und führt uns die Stehle weg - ein geradezu unersetzlicher Verlust (nicht für Norddeutschland, sondern für München). Frl. Stehle singt nämlich in jeder Vorstellung besser als das vorige Mal - ich glaube, sie thut es uns zum Trotz; sie bleibt übrigens hier – singt also vielleicht hie und da in einem Concert. Unser Heldentenor Nachbaur ist aus Cholerafurcht durchgebrannt. Nichts als die Erinnerung an ein hohes  

[im Original Note abgebildet]

hinterlassend. Meine bessere Hälfte und meine schlechtere (letztere bin ich selbst) arbeiten jetzt an einer Chor- und Soloballade [5]. Sonst schreibe ich gern lustige Sachen, da ich das musikalische Bauchweh, Weltschmerz genannt, nicht ausstehen kann, so beharrlich dessen Apostel es uns vorzeigen lassen und lobpreisen - kommt nun auf einmal so ein bezopfter (kommt von Zopf mit einem F) [6] überwundener Komponist, namens Haydn, (ein "grosser" Mann hat ihn einmal einen Lakaien geheissen) und führt uns am Christkindtag seine Jahreszeiten vor - "geistreich wars zwar nicht, hat auch niemand Kopfweh oder Krämpfe bekommen, aber ein Jubel war in dem Publikum, dass sich fast niemand dem gewaltigen Eindruck entziehen konnte ... sah ich sogar ein Mitglied "eines Komponistenvereins" verschämt hinter einer Säule applaudieren (der Arme wird kuriose Busse tun).

[im Original folgen Noten]

Bum!

Dieses kleine geniale Impromtu ist mit unsäglich verschämtem Ausdruck zu beginnen, mit titanenhaftem Crescendo bis zum grossen Bum durchzukämpfen, bei welchem drei grosse Trommeln mit einem "welterlösenden" (geringer können wir's nimmer tun, die Nachfrage ist zu stark) Krach das endlose, allgemeine "Nichts" in nebel(nibel)haftes  Grauen und wollüstiges Dämmern auflösen. So etwas bringt ein "Lakai" nicht zustande. Im Heruntersteigen über die Treppe des Odeons äusserte sich ein genialisch aussehender junger Mann (bleich und langhaarig, die ungelöste Wonnedifferenz sichtlich im Busen tragend) zu seiner ihm angeschmiegten Begleiterin: "Das ist alles nichts als Musik - wir aber wollen Ideen, grosse, weltbeherrschende Ideen" - und wie ähnliches Geschwafel lautete. Der arme Tropf! Was würde er zu meiner Ideentrilogie sagen, womit ich (wenn das Zeitalter erst reif genug ist ) die Welt in Erstaunen zu setzen gedenke! Meine Ideentrilogie heisst: I. "Der Urschlamm", II. "Die schrecklichen Folgen der natürlichen Zuchtwahl", III. "Der Affe".

Die dem Ganzen vorangehende Ouverture dauert 2 1/2 Stunden und schildert "den Kampf ums Dasein". Sie beginnt mit dem Wahnsinnsmotiv.

[im Original folgen Noten]

Erlassen Sie mir, geliebter Freund, die weitere Schilderung, es greift mich zu sehr an. Nur eines erlaube ich mir anzudeuten: die zerschmetternde Wirkung im 7611. Takt, wo sich genanntes Wahnsinnsmotiv mit dem Choleramotiv kreuzt! Diese Modulation werden wenige überleben! - - - - - I. Abend. Vorhang auf – Bühne leer - nichts als Urschlamm, soweit das Auge reicht. - Der Dirigent klopft, er beginnt mit einer Generalpause von genau 15 Minuten, welche er mit dem Chronometer in der Hand gewissenhaft auszutaktieren hat – man strengt sich an zu hören und hört doch nichts – es ist eben das grosse, gewaltige Nichts, aus dem erst alles werden soll; - nach diesen 365 Takten Generalpause 5/4 Adagio beginnen die Kontrabässe mit dem tiefen

[Noten]

durch 212 Takte; weitere Generalpause von 119 Takten, dann antwortete eine Flöte mit

[Noten]

durch ebenfalls 212 Takte - der Hörer fängt an nervös zu werden; - er sieht starr auf den Urschlamm, derselbe teilt sich in Tausende von Molekülen, welche immer festere Gestalt annehmen und sich während der folgenden Musik bereits zu "Muscheln" gestalten:

[Noten]

Bemerken Sie, wie hier das Werden aus dem Nichts geschieht? Graut Ihnen schon? Mir auch! Sie können sich den Reichtum an Ideen des II. Satzes denken, wenn die Muschel und die Muschelin allein 500 Metamorphosen durchzumachen haben, bis wir beim III. Teil angelangt sind. Die Introduktion zu demselben malt das werdende Selbstbewusstsein des Darwinschen Stammvaters, dessen Kummer über seinen letzten Rückenwirbel, der ihm das bequeme Sitzen unmöglich macht - seine Seelenkämpfe, dieses Überflüssige los zu werden um sich dadurch zum Menschen aufzuschwingen. Glauben Sie mir, die 24 Tonarten reichen nicht hin, um alle diese titanischen Kämpfe zu malen. Erlassen Sie mir das Übrige. Ich habe bewiesen, dass es nicht an riesigen Ideen fehlt. Wie harmlos nehmen sich dagegen die Haydn'schen Versuche aus - wie kindisch ist nicht diese sogenannte absolute Musik, so ungefähr träumte mir nach Aufführung der Jahreszeiten. Wie ein Alp rang es sich mir von der Brust - ich wurde wach und empfand mit Entzücken, dass ich nicht an der Schwelle des Jahres 1974, sondern 1874 war.

______________

[1] (1826-1878), Komponist, lebte in Leipzig. Er und seine Gattin Hedwig waren mit dem Ehepaar Rheinberger befreundet.
[2] Oper von Franz von Holstein.
[3] Oper von Robert Schumann.
[4] Sophie Stehle vermählte sich am 28.2.1874 mit dem kgl. preuss. Kammerherrn Gustav Frhr. von Knigge.
[5] "Toggenburg". Ein Romanzyklus von Fanny von Hoffnaass, für Soli, Chor und Pianofortebegleitung, op. 76.
[6] Diese Bemerkung zielt auf den als Parteigänger Liszts und Wagners bekannten Dramaturgen Hermann Zopff (1826-1883), der seit 1868 die "Neue Zeitschrift für Musik" herausgab. (Vgl. Th. Kroyer "Joseph Rheinberger", Rgensburg 1916, S. 120. Kroyer gibt dort den zitierten Brief Rheinbergers wieder, der zuvor als "Eine unbekannte Persiflage Jos. Rheinbergers auf die Zukunftsmusik" in "Die Wahrheit", Heft 5, Jg. 50, Leutkirch 1906, veröffentlicht worden war.).