Rheinberger über seine Kompositionstätigkeit, die Jahreszeit, Träumereien u.v.m. Im Anhang: "Stätte der Erinnerung" von Martin Greif und eine Erläuterung zu einem Bild.


München, den 15. 10. 00.

Meine theure Freundin!

Nichts ist mir heimeliger, als nach vollbrachter Tagesarbeit beim Schein der Lampe ein Stündchen mit Ihnen, d. h. an Sie schriftlich zu verplaudern. Gestern Abend hatte ich den sehr lieben Besuch eines Florentiner Freundes, der, immer in der Welt herumreisend, etwa alle zwei Jahre München berührt und als passionierter Musiker mich in's Herz geschlossen hat u. jedesmal besucht. So lieb mir der Freund, so interessant mir seine Konversation war - als die Briefstunde kam, wurde ich zappelig und fürchtete, Sie warten zu lassen. Ist das nicht einfältig? Sei es; es macht doch ein "Stück Glück" für mich aus, thut Niemandem weh, geht Niemanden etwas an - auch Sie nicht - es ist ganz für mich allein! Sie sehen, wie das einsame Leben Egoisten erzieht! Sie waren vielleicht mit meinem letzten Briefe nicht zufrieden - ich wenigstens war es nicht - der plötzlich scharf einsetzende Herbst hat meinen leidigen Nerven zugesetzt u. das wird sich dem Geschreibsel der letzten Seite eingeprägt haben. Und doch möchte ich vor Ihnen immer als harmonische Natur erscheinen. -

Alle Jahre fordert die Kgl. Akademie der Künste in Berlin von ihren Mitgliedern (zu denen ich auch gehöre) einen Bericht über die im Laufe des Jahres gefertigten Arbeiten. Wenn meine Kompositionsunthätigkeit anhält, werde ich anno 1901 zum erstenmal mit einem - - - antworten können. Ist das nicht arg? Und noch dazu fühle ich keine Gewissensbisse. Und der Winter, vor dem mir graut, vor der Thür! Zum Glück war ich in früheren Jahren sehr produktiv und darf mir etwas "Ausspannen" schon gönnen. - Also 80, nicht 81 wie ich vermuthete? ich wollt' es hiesse 83 - warum? Preisrätsel! – Brockhaus hat mich am Stilfserjoch verrathen; das "Muss man eben leiden" wie so vieles Andere, wenn man sich in die Öffentlichkeit begibt. Von Jung auf hatte ich eine wahre Scheu davor, meinen Namen an den Strassenecken und Säulen angeschlagen zu sehen - das habe ich heutzutage noch nicht ganz überwunden; ebenso peinlich ist es mir, im Zuhörerraum der Aufführung eines eigenen Werkes anzuwohnen. Bei einer Darstellung meiner ersten Oper am hiesigen Hoftheater war ich auf der Galerie. Eine Dame, die mich von ungefähr kennen mochte, neigte sich zu mir herüber und sagte: "Ach, es muss für Sie doch ein himmlisches Gefühl sein so Ihr Werk auf der Bühne lebendig werden und so vorzüglich aufgeführt zu sehen und zu hören!" In demselben Augenblick nahm der Dirigent im Orchester statt eines stürmischen ein langsames Tempo, und ich antwortete: "Ja, gnädige Frau! es ist - zum Teufelholen!" Meine gute Frau kicherte hinter ihrem Fächer und gab der ob meiner seltsamen Antwort konsternierten Gnädigen die nöthige Aufklärung. - Man ist bei öffentlicher Vorführung seiner Werke überhaupt von fabelhafter Feinfühligkeit und Empfindlichkeit, so dass ein ganz ungetrübter Genuss höchst selten ist. Da ist's nun zu Hause bei Freund Blüthner ein ander Ding - die unbelauschten musikalischen Stunden sind mir die liebsten; macht man Etwas schlecht, so ist man nur sich selbst Rechenschaft schuldig.

 

16. 10.

Kaum kann ich's glauben. - dass dies schon der siebente Brief ist - in Kreuth war ich froh, dass Sie mir von Trafoi aus den Wunsch äusserten, einmal (im Lauf des Jahres) Nachricht von mir aus München zu erhalten; und jetzt fände ich es grausam, wenn ich einmal einen Monat, oder nur 14 Tage ohne Nachricht von Ihnen wäre! - Der Philosoph Plato sagt irgend einmal, ich weiss nicht mehr bei welcher Gelegenheit: "Zwei Rosse sind vor des Menschen Seele gespannt: das eine edel und lenksam, das andere mit glühendem Auge, tückisch und hartnäckig." Bei jedem Zweifel, jedem seelischen Zwiespalt fällt mir dies Wort ein - und ich frage mich: welches Ross ist jetzt wohl das stärkere? solch einfältige Ideen nehmen mich oft tagelang gefangen; es muss also doch ein wahrer Kern in ihnen stecken. Das erste Ross ist offenbar weiss und zieht rechts, das andere ist dunkel - wie mag die Fahrt enden? - Der Herbst kommt nun mit Macht; die Waldreben vor Ihrem Fenster (von dem Sie leider nie herunterblicken, so oft ich auch hinschaue) werden es auch empfinden. Die Blumen auf meinem Balkon, die vor 8 Tagen noch in voller Frische prangten, lassen ihre Köpfchen hängen und entblättern sich allmählig. Alles athmet Resignation - ich auch! Die Allerseelentagsstimmung wirft ihre Schatten voraus. - In Tirol fand ich einmal folgende Inschrift[1]: "Wir leben - und wissen nicht wie lang - wir sterben - und ahnen's doch nicht wann - wir reisen - und wissen nicht wohin - mich wundert's, dass ich noch fröhlich bin!" Das ist ächte Volkspoesie; wie schön und zart empfunden ist die vierte Zeile! - Den Eingang Ihres letzten lieben Briefes, der mir anfangs klar schien, wurde mir bei wiederholtem Lesen unverständlicher; das ist eigentlich die umgekehrte Ordnung. Sie können sich, meine verehrte Freundin, mir gegenüber immer vollständig aussprechen, indem Ihre Äusserungen sicher bei mir ruhen - das ist ja so selbstverständlich, dass ich's gar nicht zu schreiben brauchte. Wie freue ich mich immer, wenn Sie mir Vertrauen entgegenbringen; ich glaube nicht, dass Sie je einen treueren und aufrichtigeren Freund haben werden. Wenn Sie aber, wie ich fürchte, so Manches in meinen Briefen melancholisch finden, so haben Sie Nachsicht, - ich bin aus vielen Gründen oft todestraurig, und meine dann, überhaupt keines frohen Gedankens mehr fähig zu sein. Mit gewaltsamem Aufraffen wird und muss das auch überwunden werden. Der Winter ist eben mein spezieller Feind, nach Weihnachten, wenn die schlimmen Erinnerungszeiten vorüber sind, und mit dem wachsenden neuen Jahre das Gefühl des nahenden Frühlings und Sommers wach wird, bessert sich gewöhnlich mein Zustand - vielleicht auch diesmal! Sie werden sich denken, dass nach den guten Lehren, die ich Ihnen zur Verbannung böser Launen und Stimmungen gegeben, ich wie ein Arzt sei, der den eigenen Heilmitteln misstraut. Doch trifft das nicht zu, da meine Natur durchaus nicht launisch, nur von jung auf sehr zur Melancholie geneigt ist. Das "dunkle Pferd" Plato's!

 

Den 19. 10.

Heute habe ich sicher auf einen Brief gehofft - und als ich um 10 von der Akademie kam, fand ich die lieben Schriftzüge auf meinem Schreibtisch. Tausend Dank, dass Sie mich nicht täuschten! Sodann fuhr ich zum Geburtstagsbesuch zu meinem Grabe[2] (südl. Friedhof); suchte auch die benachbarte Ruhestätte Völderndorff's auf, dem ich einen (nicht bestellten) Gruss von Ihnen überbrachte. (Er nannte Sie, wenn wir von Ihnen sprachen, "Jette" - das mochte ich nicht leiden; man soll Ihren schönen Namen nicht soubrettenhaft verstümmeln). Ihr lieber Brief athmet wieder all' die Eigenschaften aus, durch welche Sie mir so unendlich theuer geworden sind! Wie gerne lese ich Ihre Selbstschilderung und möchte auf so Vieles gleich mündlich antworten - statt dankbar zu sein, dass ich es wenigstens mit etwas Verspätung schriftlich thun kann. Die Krankheit Ihres Herrn Bruders und die damit verbundene Beunruhigung Ihrer hochverehrten Frau Mutter thut mir leid und ich hoffe auch Ihretwegen auf guten Verlauf; ich habe den Patienten (heisst er nicht Ewald?) früher ein paarmal schon in Kreuth gesehen - er sah meiner freundlichen Korrespondentin ähnlich; nicht? - Dass Ihnen "Blackhouse" gefallen würde, wusste ich wohl - und hat mich Ihr Urtheil sehr interessiert - es ist ein schönes Buch von überraschender Kenntnis der Tiefen des menschlichen Herzens, gibt Manches zu denken und endet - vernünftig. - Sie glauben, dass mir Ihr Radfahren missfallen würde? im Gegentheil: ich finde es so natürlich, dass sich die Jugend in junger Gesellschaft austobt; und wie konnten Sie mich für so pedantisch halten, ein Vergnügen zu bemängeln, dass Ihre Frau Mutter billigt? Zudem freue ich mich über Alles, was Ihnen Freude macht. - Latein (Französisch) und Rechnen müssen Sie lehren? 0, da möchte ich zuhören! Über das Latein musste ich mich oft ärgern, weil mir meine Frau darin "über" war: was ich nur ungefähr wusste, konnte sie präzis, und das war für den Mann doch ärgerlich. Aber Noten schreiben musste sie lernen, alle Schlüssel transponieren, Partiturlesen, so recht wie ein treuer Kamerad; in Harmonielehre war sie schon früher meine fleissige Schülerin und sie hatte es dahin gebracht, selbst Lieder zu komponieren und korrekte Klavierbegleitung dazu zu setzen; aber da war (gottlob) ich "über". - Auch in Ihrem heutigen Briefe klingt ein leiser pessimistischer Grundton durch, der mich ganz eigen berührt; aber was hilft da mein Kopfzerbrechen? es kann ja die angeborene Eigenthümlichkeit eines tiefen Gemüthes sein, das sich über den nahenden Ernst des Lebens beunruhigt, wie vor einer unausweichlichen Gefahr. Wohl glaube ich, dass die Harmonie Ihres Lebens nicht ernstlich gestört werden kann durch solches Beängstigen über die ungewisse Zukunft - man muss lernen seiner Träumereien und trüben Stimmungen Herr zu werden, und bei Ihrer grossen geistigen Begabung, Ihrem vernünftigen Urtheil und im Kreise einer glücklichen Häuslichkeit ist das gewiss nicht zu schwer! Wie gut, dass Sie jetzt recht "hauswirtschaften" müssen; und - keine philosophierenden Bücher lesen! (Stattdessen rathe ich, lieber Briefe nach München zu schreiben.) Das Gedicht von M. Greif ist auf der Rückseite; es könnte überschrieben sein "Herzogswäldchen 190?" - Wie gut, dass man die Zukunft nicht kennt! -

 

21. 10. Sonntag.

Heute ist's trüb und nebliges Wetter, was aber nicht abhält, nach Berlin zu schreiben und zu denken. Gestern erhielt ich einen Brief von Frl. Emmy R.; wenn Sie sie einmal zufällig begegnen, werden Sie wieder einen "alten" Gruss aus Kreuth erhalten. - Sie sind also auf den Schrecken schon vorbereitet. Ist der linke Arm wieder gut? Ich habe mir gestern eine Stahlfeder tief in den Ballen der rechten Hand eingestossen und kann deswegen nur langsam schreiben. - Lessing ist ein grosser Kritiker, hochbedeutender Stylist; aber seine Seelenwanderungsfantasie hat ausser dem schönen Klang keinen Hintergrund und widerspricht direkt dem Christenthum, dessen Stamm ja wir beide angehören, wenn auch auf verschiedenen Zweigen - nicht wahr? Ach, da wäre noch Viel zu sagen, aber der Raum ist zu Ende und ich muss heute noch einige andere Briefe absolvieren, die aber bedeutend kürzer sein werden. - Leben Sie wohl verehrteste Freundin, und seien Sie versichert der herzlichsten Ergebenheit

Ihres treuen Freundes
Jos. Rheinberger

Stätte der Erinnerung

Ich sah an einem stillen Ort
Das Gras sich sacht erfrischen;
Ich sah ergrünen, was verdorrt,
Ich dachte wohl ein Liebeswort -
Der Winter lag dazwischen.
Mein Herz, was wird dir gar so bang?
Die Blumen blüh'n auf's Neue,
Und wIeder tönt der Vogelsang;
Dir schien der Winter ja so lang -
Was quält dich Lieb und Treue?
Du siehst doch an der Sonne Licht
Den Wald sich schnell belauben,
Und sagt dir ein Vergissmeinnicht:
Ich lieb' dich, bis mein Auge bricht, -
Du brauchst es nicht zu glauben.
Die Linde blüht am Waldessaum
Und deckt mit kühlem Schatten
Das stille Plätzchen unter'm Baum -
Wohl kenn' ich's noch, es war ein Traum,
Den wir zusammen hatten.

Martin Greif


Erläuterung des Bildes[3]

Moderne Kunstwerke bedürfen um verstanden und nach Verdienst gewürdigt werden zu können der Erklärungen, sonst kann es ja vorkommen, dass man z. B. ein etwas in interessantem Dunkel gehaltenes Porträt in gewisser Entfernung für einen Baum oder Sumpf halten kann. Damit nun ein solcher Irrthum bei vorliegendem Meisterwerk unmöglich werde, habe ich nach eingehender Betrachtung durch die Loupe folgendes Resultat feststellen zu können geglaubt: Der junge Hr. Bernhard aus St. Petersburg, der im August in Kreuth als Momentattenthäter Photographien verübte, hat auch beiliegende harm- und arglose Opfer meuchlerisch geliefert. Die nilpferdartige Masse neben dem weissen Fleck (der meiner Berechnung nach Fr. Emmy R. sein möchte) ist wohl Ihr ergebendster Korrespondent. Die dritte Figur auf der Bank ist wahrscheinlich eine Dame - in diesem Fall könnte Frau Rintelen jun. gemeint sein. - Die beiden vis-a-vis sitzenden Herren, von denen der jüngere ein fast wirkliches Gesicht besitzt, sind Vater und Sohn R. Der Jüngere muss wohl der Sohn sein, wie ich wegen der weissen Radfahrermütze vermuthe; den Älteren glaube ich an dem hinter ihm hängenden Sonnenschirm, der sehr porträtähnlich ist, zu erkennen. Die Krone des Ganzen aber sind die Fensterläden meines Zimmers, deren Auffassung viel Geist verräth - es sind nämlich die einzigen nicht festgemachten Fensterläden, wodurch der künstlerische Beruf des Bewohners von No. 47 angedeutet ist! Ganz im Hintergrund sieht man einige schadenfrohe Gesichter, die aber auch nicht ungerupft durchkommen, z. B. Schwester Marianne und die Breslauer Damen. Ich bin überzeugt, dass die verehrte Leserin dieses geistvolle Bild nun vollauf zu würdigen wissen wird. -

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[1] fand ich einmal folgende Inschrift = Nach der Überlieferung soll Kaiser Maximilian I die Inschrift eigenhändig an die getäferte Wand eines gotischen Zimmers auf Burg Tratzberg in Tirol geschrieben haben: «Leb, waiss nit wie lang, - Und stürb, waiss nit, wann, - Muess faren, waiss nit wohin, - Mich wundert, dass ich so frelich bin.»

[2] zu meinem Grabe=vgl. S. 21/Z. 21/Z. 12 f

[3] Erläuterung des Bildes = Photographie unbekannt