Rheinberger über sein Verhältnis zu König Franz von Neapel, Prinzess Amalia (Herzogin von Urach) und seiner Schwester, die im Kloster lebte.


München, 8. 1. 1901

Meine theure Freundin!

Wenn ich so in Gedanken in meinen Kreuther Erinnerungen herumkrame, gedenke ich auch gern des guten unglücklichen Königs Franz von Neapel, mit dem ich zwar nicht viel konversierte, der sich mir aber zweimal recht freundschaftlich erwies. Im Juli 1893, als ich nach Kreuth gekommen war, liess ich in dem dortigen, mir und meiner Frau so lieben Kirchlein Trauergottesdienst (Requiem) für meine Verstorbene abhalten (es ist dies eine Feier, die Ihr Ritus nicht kennt). Da die Kirchenfarbe schwarz war, so wusste der nach mir eintretende König, dass es sich um ein Requiem für eine bestimmte Persönlichkeit handelte. Er frug leise den Messner, der auf mich deutete. Nun kannte der König meine Frau und mich wahrscheinlich vom Sehen, hatte aber nie mit uns gesprochen. Trotzdem kam er auf mich zu und fasste und hielt meine rechte Hand und sah mir mit seinen melancholischen, kohlschwarzen Augen freundlich in's Gesicht; ich verstand ihn recht wohl, war etwas verlegen, da er meine Hand nicht los liess; endlich wollte ich seine Hand küssen, was er aber nicht zugab - sodann deutete er zum Himmel, kniete sich neben mir nieder und blieb so bis zum Schluss des Gottesdienstes. Es hat mich dies einfache, herzliche Benehmen des unglücklichen, geächteten und mit Unrecht viel verleumdeten Monarchen doch tief gerührt, besonders, wenn ich an seine furchtbaren Schicksale dachte. -

Da es von je ein Lieblingswunsch Miez' war, dass das Kirchlein gemalte Fenster bekomme, so betrieb ich vor zwei Jahren diese Angelegenheit, liess die beiden Fenster rechts und links malen (St. Josef und Sta. Francisca) während Herr Kommerzienrath Valckenberg das grosse Fenster mit dem Madonnabild malen liess. Wenn nun die Kreuther Morgensonne ihre freundlichen Strahlen durch die farbigen Fenster giesst, so bekommt der ganze Raum einen wohligen, warmen und freundlichen Ausdruck, der bis dahin gefehlt hatte; besonders unser gemeinschaftlicher Freund Völderndorff war hocherfreut darüber.

Ein andermal nahm sich König Franz meines grossen Hundes Donald (des "lieben Wauwaule's") an. Er kehrte mit dem alten Förster von Kreuth von einer erfolglosen Jagd zurück. Der Förster, den der Misserfolg genierte, sagte zum König: "Der Hund des Professor Rheinberger hat alles Wild aus der Gegend verscheucht." "Das ist nicht wahr", sagte der König, "der Hund ist immer bei seinem Herrn in der Ebene, wie ich es selbst täglich bemerkte." Prinzess Amalie (Herzogin von Urach) erzählte es meiner Frau und fügte bei: "Onkel König war sehr entrüstet über die lügnerische Ausrede des Jägers." Sie sehen, dass man meinen "Wauwaule" überall gerne hatte. -

Was mir sehr gefiel, ist, dass Sie sich in Ihrer Güte auch der armen Spatzen erbarmen, die jetzt eine schwere Zeit durchzumachen haben - früh 7 Uhr waren es 15 Grad Reaumur. -

Das Alles ist nicht interessant und braucht es auch nicht zu sein - ich interessiere mich aber aufs Höchste für meine Leserin, die dann auch in dem zwanglosen Plauderton (bei dem man Alles untereinander wirft) und der ihr so gut ansteht, antworten wird. -

Haben Sie zufällig den Roman "Quo vadis"? ("Wo gehst du hin?") von Sienkiewisz gelesen? Das Buch hat diesen Schriftsteller mit einem Schlage berühmt gemacht und er wird in seiner Heimat Polen beispiellos gefeiert. Es wurde mir von allen Seiten hoch gerühmt, und ich will es nächstens auch lesen. Leichtere deutsche Romanwaare interessiert mich längst nicht mehr; französische lese ich höchstens einmal wegen der Sprache - aus letzterem Grunde hatte ich auch das berühmte Buch: "Vie de Jesus Christ" von P. Didon mit in Kreuth, in dem ich Vieles fand, das mir neu war. Es muss Sie nicht verwundern, dass ich da und dort religiöse Lektüre vornehme - allein wenn man einmal älter ist, wie ich es nun geworden bin, gewinnt man von selbst über gar Vieles ernstere und positivere Ansichten - aber - fürchten Sie ja nichts - ohne dieselben jungen Damen zuzumuthen! Wenn Sie einmal etwas Heiter-ernstes lesen wollen, so nehmen Sie doch Immermanns "Münchhausen" vor, (es ist auch in der billigen Reclam-Ausgabe da) ich war vor 35 Jahren, als ich es las, hoch entzückt; ich gab es dann Miez, der es gar nicht gefiel. Auf Ihr Urtheil, das ich seiner Selbständigkeit wegen hoch schätze, wäre ich sehr neugierig, - es pressiert aber gar nicht, da Sie zuerst lesen sollen, was Sie selbst gewählt haben. Übrigens ist schon der Anfang jenes Buches originell, indem es mit dem elften Kapitel beginnt. Im Ganzen veralten aber die deutschen Romane sehr bald. Die englischen halten sich länger. Zu meinen vielen Fehlern, die ich Ihnen schon bekannte, gehört auch der, dass ich sehr egoistisch sein kann. Ich gönne Ihnen zwar Paris, aber den Parisern gönne ich Sie nicht; ich gönne Sie überhaupt ausser Ihren Angehörigen gar Niemanden auf der Welt! Wie Sie sehen, wachsen meine Fehler lawinenmässig an, und sind noch nicht zu Ende. Einige muss ich mir aber doch für künftige Briefe noch vorbehalten. Was Sie aber für einen scharfen Blick haben und in mir als siebenjährigen Jungen schon das später zur Blüthe gelangte Misstrauen erkannten! Nun, Scherz beiseite: ich traue Ihnen grosse Menschenkenntniss - viel mehr als man sonst in so jungen Jahren zu haben pflegt - zu; und das ist für's Leben viel werth. Ich lese so gerne und aufmerksam in Ihren lieben Briefen, um mir Ihr Charakterbildniss festzustellen, und da entgeht nichts meiner Aufmerksamkeit; Sie haben zwar gesagt, ich sehe Sie so, wie ich mir wünsche, dass Sie seien, also mit einiger Zuhilfenahme von Phantasie. Ach! das ist nicht nöthig, denn gerade so wie Sie sind (nach Ihren Briefen zu urtheilen) verehre ich Sie am meisten - aber ich sollte es Ihnen eigentlich nicht sagen, um Sie nicht zu verwöhnen, oder dass Sie mich am Ende gar der Schmeichelei beschuldigen! Wie oft (jetzt lachen Sie mich herzhaft aus) hatte ich mir schon vorgenommen, in künftigen Briefen mit keinem Wort meine hohe Verehrung zu meiner edlen Gebieterin zu verrathen, und bin immer schmählich gescheitert. Vielleicht versuche ich es doch einmal; dann werden Sie meinen Brief wenigstens originell finden! -

 

den 9. 1. 01. Abends.

Eben erhielt ich einen der seltenen Briefe von meiner einzigen noch lebenden Schwester[1], von der Sie wohl gar nichts wussten. Sie ist barmherzige Schwester (eine mit den grossen weissen Spitzhauben, die Sie wohl schon gesehen haben) in dem Mutterkloster Zams in Tirol. Sie ist sieben Jahre älter als ich und hatte es im Jahre 1851 schwer erkämpft in diesen strengen Orden eintreten zu dürfen, indem die Eltern lange ihre Einwilligung nicht geben wollten. Aber mit bewunderungswürdiger Energie setzte sie es durch - ich erinnere mich noch gut, wie ich einmal zufällig dazu kam, als sie vor dem strengen Vater kniete und weinend um seine Einwilligung bat. Das ergriff mich so, dass ich von dort an "zu ihr half". Ungefähr zu der Zeit als ich nach München kam, legte sie die drei grossen Gelübde (Armuth, Keuschheit, Gehorsam) ab und wurde eingekleidet. Erst nach 22 Jahren sah ich sie wieder, indem Fanny und ich sie im Kloster besuchten und im Jahre darauf, als sie uns in München (auf 1/Z Stunde) sah - sonst in diesem halben Jahrhundert nie. Von einem solchen Opferleben sich einen Begriff zu machen, ist schwer: fünfzig Jahre lang täglich (ohne Ausnahme) von früh 6 bis Abends 8 Uhr im Dienste der Kranken, der Armen, der verwahrlosten Jugend - niemals Etwas für sich, kein Vergnügen, keine Erholung als etwa 1 Stunde Gartenarbeit, keinen Dank, keine Anerkennung, allen Verläumdungen, Anfeindungen (besonders durch die Presse) wehrlos gegenüberstehend, ohne alles persönliche Eigenthum, ausser einigen Büchern, - ansteckenden Krankheiten heldenmüthig trotzend - und zum Schlusse eines solchen (aus reiner Gottesliebe) vollendeten Lebens ein einfaches Grabkreuzchen mit der Inschrift: Hier ruht Schwester Maxentia Rh.; sie ruhe in Frieden! Vor einem solchen Charakter beuge ich mich tief, auch wenn es meiner leiblichen Schwester gilt! Selbst Miez wurde stutzig und ergriffen, als sie diesen Einblick erhielt - was ist doch das, was man im weltlichen Leben "Entsagung" nennt, dagegen! Dabei ist sie stets heiter, sanft - sie schrieb mir, sie fühle sich vollkommen glücklich und war niemals auch nur eine Stunde krank, trotz der aufreibenden, schweren Arbeit bei einfachster Verpflegung. Sie haben, theure Freundin, durch das Wort, dass Olga ein schweres Opferleben vor sich habe, mich veranlasst, Ihnen Obiges zu erzählen. Da meine arme, irre Nichte wie es scheint unheilbar ist, habe ich erwirkt, dass sie von meiner Schwester Maxentia (früher hiess sie Johanna) in's Kloster ausnahmsweise als Pensionärin aufgenommen wurde. Dort fühle sich die arme Hermine verhältnissmässig wohl, sei sanft, gehorsam, mit leichten Arbeiten beschäftigt, sei bei den Schwestern und Pensionärinnen sogar sehr beliebt - aber sie spreche nie. Es ist doch was eigenthümliches um so einen kranken Geist! Schliesslich bin ich doch froh, dass Olga und Emma dieser Sorge enthoben sind! Verzeihen Sie, dass ich Sie mit dieser langen Familiengeschichte unterhielt - Sie sehen wenigstens daraus, dass man nicht immer sich sorglos seines Daseins erfreuen kann. -

 

10. 1.

Noch in keinem Winter war ich so besorgt, meine Gesundheit zu hüten, wie heuer - können Sie sich denken warum? Nur, um mich der Möglichkeit eines Wiedersehens in Kreuth im Sommer nicht zu berauben! Sonst war ich niemals ängstlich. Sie schreiben im Laufe Ihres Briefes: "... ich kann mein Selbst halt nicht umstossen und zu dem Selbst gehört alles Schlechte, das Ihnen missfällt... " Das hat meine gütige Gebieterin wohl nicht im Ernst geschrieben, sondern nur gedacht, mich damit zu strafen - ich küsse die liebe Hand, die mir diese Strafe verordnete und bitte dann wieder in Gnaden aufgenommen zu werden - mehr kann ich leider nicht thun. Es ist eben schlimm, wenn man sich niemals persönlich aussprechen kann - man hätte sich so viel zu sagen, kein Missverständniss wäre möglich, jedes Wölkchen leicht zu verscheuchen - begreifen Sie nun meine Sehnsucht nach einem sommerlichen Wiedersehen? Und wenn sich dasselbe verwirklicht, ob wir uns dann nicht befremdeter im persönlichen Verkehr als in dem gewohnten schriftlichen, gegenüber stehen? (Wenn ich so etwas zu fragen habe, sehe ich immer zu Ihrem kleinen Stuttgarter Bildchen hinauf - aber dort sind Sie so in Ihre Arbeit vertieft, dass es aussieht, als hätten Sie Nichts gehört!) -

 

Abends.

Jetzt erst ist meine gemüthliche Zeit - die leidigen Tagesarbeiten vorüber, das heimelige Gefühl, nicht in die abscheuliche Kälte hinausgehen zu müssen, mich ungestört dem Plaudern hingeben zu können, die Wahrscheinlichkeit, dass die so sehr verehrte Freundin gleichzeitig meiner Wenigkeit brieflich gedenkt, das Alles muss mich über manches Ernste trösten. -

Mir ging es wie Ihnen, dass ich ungern an Hochzeitsfeierlichkeiten theilnahm. Als ich zum erstenmal als "Brautführer" bei der Hochzeit eines Kollegen fungieren musste (vor 40 Jahren) hatte unser Wagen bei der Fahrt zur Kirche das Unglück, ein Kind zu überfahren. Es gab einen grossen Auflauf, der Wagen musste halten. Eine Frau aus dem Volke kam an das Wagenfenster und rief der Braut in's Gesicht: "Das gibt eine unglückliche Heirath. Denken Sie an mich!" Es war eine furchtbar peinliche Situation. Leider ging diese unheilvolle Profezeiung in Erfüllung: es wurde die unglücklichste Ehe! Natürlich war jener Vorfall nicht schuld, aber Vorbedeutung kann man als unheimlich fühlen, ohne abergläubisch zu sein. So erzählte mir Moriz von Schwind einen Vorfall, den er auf Ehrenwort als wahr versicherte und der ihn noch lange "gruseln" machte. Er wohnte in den 20ger Jahren als junger und blutarmer Maler in einem alten, morschen Hause in entlegener Vorstadt. Eines Abends spät, als er nach Hause kam, sah er von der Strasse aus Lichtschein in seiner Dachstube leuchten. Beunruhigt stieg er die Treppe hinauf und sperrte sein Zimmer auf. Dasselbe war erhellt, und sich selbst sah er an der Staffelei sitzen! Mit lautem Schrei schlug er die Thüre zu, stürzte die Treppe hinunter und suchte einen Freund auf, der seine Geschichte belachte, aber ihm Nachtquartier gewährte. Früh gingen Beide zu Schwind's Wohnhaus, das nur mehr ein Schutthaufen (weil in dieser Nacht eingestürzt) war! (Auch Ille, Schwind's Schüler, wusste diese Geschichte.) über ähnliche Geschichten kann man sich mit dem Wort abfinden: sie seien eben unerklärlich, oder sich mit dem kühlen Zweifel begnügen: was man nicht selbst gesehen, sei man nicht verpflichtet zu glauben - beides sind ja berechtigte Standpunkte. Doch in Betreff des Ersteren erlaube ich mir die ernste Einwendung, dass ich eigene Erfahrungen gemacht habe, und zwar wiederholt; doch will ich meine theure Freundin nicht das "gruseln" lehren und zum Realen zurückkehren.

 

11. 1. Abends,

Heute sind es fünf Monate, dass ich Sie zuletzt sah - wie einem Alles zum Erinnerungstage wird, wenn man - "nicht ganz gescheidt ist" - wird mir Jemand entgegnen, (vielleicht nicht mit Unrecht) - aber man lasse mir meine Thorheit - ich halte die Welt auch nicht für klüger, als ich selbst bin - bietet mir die Erinnerung doch auch eine Quelle reinsten und edelsten Glückes. Die Erinnerung an den fernen, mir so nahen Freund; es ist derselbe, der mir so übermüthig-liebenswürdig schrieb: "warum hast Du Dir gerade den ausgesucht?" - Die Freunde sucht man sich nicht aus: sie sind da, man weiss nicht wie - man liebt sie, und weiss nicht warum - man verliert sie, und weiss nicht wann. Und so ist echte Freundschaft gar nicht Verstandessache - ebensowenig wie das Kunstverständniss - es muss etwas "je ne sais pas quoi" dabei sein. - Und somit bitte ich mir meine lieben Erinnerungstage zu lassen. In der Jugend sieht man (begreiflicherweise) gern vorwärts, aber schon auf der Mittagshöhe des Lebens wirft man gerne einen Blick zurück, um den ganzen Inhalt des Lebens im Auge zu behalten - später liebt man es (ebenfalls begreiflicherweise) sich an den Rückblick auf das Unwiederbringliche, Verlorene zu halten, das sich in der Ferne verklärt. Wer in seiner Jugend einen grossen Schmerz erlebte, liebt denselben (verklärt) im Alter, und möchte ihn nicht missen. Ein Mensch, der sein ganzes Leben nur glücklich war, muss (nach meiner Meinung) im Alter ganz ungeniessbar sein. Wenn ich heute schon einen Brief von meiner theuren Freundin erwartete, so ist das nur ein Zeichen, wie ich hierin schon verwöhnt bin; da ich jenes Glück, das nur einem siebenten Theil der Menschen blüht, (nämlich ein Sonntagskind zu sein) so bekomme ich den Ersehnten wohl erst übermorgen und habe also "Sonnabends" Fasttag; wer aber so oft im Leben "warten" musste, ergibt sich in Geduld - und wird dafür dieser Brief umso länger. Die achte Seite ist schon wieder voll! -

Wie gut, treu, schön und wahr ist Alles, was Sie in Ihrem letzten Briefe sagen - ich kann gar nicht genug betonen, wie tief mich Ihr Ernst berührt hat, dass Sie es übers Herz brachten, meinen Sie (anscheinend) betrübenden Brief ein zweitesmal zu lesen! Wie sehr verehre ich Sie dafür! Ach, und doch kann ich Ihnen nicht viel sein, und das Wenige auch nicht für lange! Ich habe eben wieder einmal meine "schwarzen Stunden", wie Mordaunt Mertoun in Walter Scott's "Piraten", der mir in meiner Jugend so grossen Eindruck machte, dass ich anfing, ihn als Oper zu bearbeiten. Glücklicherweise gab ich den Plan wieder auf, da das Sujet doch zu sehr an den "Flying Dutchman" erinnerte. Fast 50 Jahre sind es, dass ich W. Scott mit grosser Begeisterung gelesen, und die Eindrücke noch so neu!

Immer muss ich wieder auf Ihren Brief, der mir so tiefen Eindruck gemacht hat, zurückkommen! wie unsäglich ergreift es mich, wenn Sie sich über das Höchste und Tiefste des Seelenlebens aussprechen - wie das wahrhaft Edle zum Durchbruch kommt! Ich habe mit Niemandem noch über diese Fragen korrespondiert, - dies Gefühl ist mir darum neu. Denn in den vielen (und langen) Briefen, die ich seinerzeit mit Miez wechselte, war davon, da wir auf diesem Gebiet von Anfang an einig waren, nie die Rede. Und so muss ich denn sagen, dass Sie wahrscheinlich dessen nicht bewusst sind, welche Gewalt Sie in Ihrer Sprache (für mein Gefühl) haben - es sind eben die echten Herzenstöne, die sich geltend machen. -

 

12. 1. Mittags.

Heute Nachts drei volle Stunden geschlafen; diesen Glücksfall werde ich wohl büssen müssen - ich könnte sonst übermüthig werden. -

Soeben kommt Ihr lieber, ersehnter Brief an, der mich wie seine Vorgänger beglückt, der sorgen- und schattenlos ist und mich nicht einmal den morgigen Sonntag abwarten liess - der aber einen furchtbaren Rechnungsfehler enthält, indem meine theure Gebieterin vom 11. August bis 11. Januar 6 Monate rechnet, während ich nur deren 5 herausbringe! Also auch hierin treffen wir uns nicht! Wer wird da wohl nachgeben müssen? "Denn mit Euch hab ich des Streitens mich begeben" -. Möchte das gütige Geschick uns in Kreuth diesen kalenderlosen Monat zusetzen - wie glücklich wäre ich - aber solche Wunder ereignen sich in unserer ungläubig und materiell gewordenen Zeit nicht mehr. Oft sage ich mir: "Du hast Gott zu danken, dass du einmal glücklich warst; du hast nicht mehr das Recht auf ein zweites, wenn auch kurzes Glück zu rechnen." Das ist wohl ein bitterer Trost - ach! Ich wäre schon mit den vier erwarteten Wochen des Zusammenseins zufrieden! -

Und das kleine liebe "Vergissmeinnichtlein" haben Sie auch bemerkt? Es war das letzte von dem Strauss vom unvergesslichen elften August, der mir ein so lieber Merktag geworden ist. -

Nun leben Sie wohl, meine hochverehrte Gebieterin, und bleiben Sie gütig gesinnt Ihrem alten Freunde und Verehrer

Jos. Rheinberger

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[1] meiner einzigen noch lebenden Schwester =Johanna (Hanni) Rheinberger (1832-1917) lebte als Schwester Maxentia im Mutterhaus der Barmherzigen Schwestern in Zams (Tirol). Von 1906 bis 1914 war sie Generaloberin.