Rheinberger bewertet das Wirken von Franz Xaver Witt.


München, 12. October 1888.

An die Directon der k. Musikschule.

Der gehorsamst Unterzeichnete beehrt sich einer hohen Direction auf deren Anfrage in Betreff des Herrn Pfarrer Dr. Witt folgendes zu erwidern:

Herr Dr. Witt ist bekanntlich Praeses des weitverbreiteten Cäcilien-Vereines, sowie Eigenthümer und Redakteur zweier Kirchenmusikblätter; wohl mehr durch diese Eigenschaft, denn als Componist hat er sich, namentlich in Niederbayern grossen Einfluss errungen.

Dass er als Theologe (der sich von jung auf mit Kirchenmusik beschäftigte) auf dem Gebiete der Liturgie eine Autorität sein mag, soll hier nicht in Frage gestellt sein, obschon Professor von Schafhäutl in seinem "Spaziergang durch die liturgische Musikgeschichte" charakteristische Streiflichter auf das Bestreben des Cäcilienvereines und dessen liturgisches Puritanertum wirft. Die Polemik Witt's zeichnet sich im Ganzen mehr durch maasslose Leidenschaftlichkeit als musikalische Gründlichkeit aus. So schreibt er in einem seiner Organe: „Die moderne Kirchenmusik Haydn's ist vielfach nur eine Lüge, ein Haydn'sches Kyrie ist eben kein Kyrie eleison, d.h. kein Ruf um Erbarmen, sondern ein Hopsasa."

Allerdings hat Haydn's Kirchenmusik einen freudigen Zug, der aber in ächter Frömmigkeit wurzelt, wie seine unsterbliche Schöpfung.

Ein Mann, der in obengenannter Weise über Werke der grössten Tondichter aller Zeiten urtheilt, kann mir nicht als Autorität gelten.- Die mir bekannten Kirchenkompositionen Witt's ergehen sich in dem Bemühen, die klassischen Meister des 16. und 17. Jahrhunderts zu imitieren; äusserlich genommen gelingt das stellenweise ganz gut; man vermeidet Leittöne, wo sie das moderne Ohr verlangt, setzt hie und da unvermittelte Akkordfolgen, - man ergeht sich in längeren dürrklingenden zweistimmigen Stellen, bringt häufige Plagalschlüsse, fährt von einer griechischen Tonart in die andere […] und bringt somit etwas zustande, das dem Laien wie alte Musik vorkomme, aber doch nur ein Zerrbild der Ächten ist, weil ihr die eigentliche Wärme, die musikalische Wahrhaftigkeit fehlt, weil diese Musik nur gewollt, nicht gewachsen ist. Man wende nicht ein, dass diese Musik nicht sinnlich wirken wolle, denn alle Kunst, Tonkunst wie Malerei und Skulptur wirkt zunächst sinnlich; dass sie aber im edelsten Geiste sinnlich wirke, ist Aufgabe des kirchlichen Künstlers. Wer diess nicht anerkennen will, der entferne nach Weise der Calvinisten allen Schmuck aus dem Tempel und reduziere die Kirchenmusik in gleichem Sinne. Wir muthen keinem Maler zu, unsere Kirchen mit Kopien der alten Kölnerschule zu versehen; eckige Gesichter, verdrehte, steife Glieder, hölzern erscheinende Falten würden uns heute in der Andacht eher stören, obgleich sie zu ihrer Zeit fromm empfunden waren und im Original noch rühren können. Nicht das "wahre Alte" stört, wohl aber das "unwahre" Nachgefälschte. Warum soll ich mich, sooft ich in die Kirche gehe, künstlich in das fünfzehnte oder sechzehnte Jahrhundert versetzen? Mozart's Ave verum ist vollständig modern und doch denkbar edelste Kirchenmusik.

Selbst ein moderner Palestrina (wenn er existiren würde) müsste heut zu Tage in gutem und wahren Sinne "modern" componiren. Orlando, Palestrina schrieben zu ihrer Zeit "Gegenwartsmusik" und keine Vergangenheits- oder Zukunftsmusik. Keinem Poeten wird es einfallen in dem Dialekt und in der Sprachweise eines früheren Jahrhunderts zu dichten und diess für die einzig richtige Poesie auszuposaunen; denn jeder, auch der kirchliche Künstler gibt, fussend auf unwandelbaren Gesetzen, dem Empfinden und den Anschauungen seiner Zeit und mit den Kunstmitteln seiner Zeit Ausdruck.

Als Kontrapunktiker ist Herr Witt nicht bedeutend, wenn er in seinen (mir bekannten) Messen und Motetten sich als solcher versucht, kommt er selten über die bekannten "Vier Einsätze" hinaus, er kehrt schleunig an das rettende Ufer der bewährten Accordfolgen, die sich ja beliebig bis ins Unendliche fortsetzen lassen, zurück. Auf dem Gebiete des rein Kontrapunktischen ist das Imitiren eben bedeutend schwieriger und gerade hierin sind die genannten alten Meister unnachahmlich.

Der moderne Kontrapunktist muss aber die Bach'sche Schule in sich aufgenommen haben, wenn er nicht immer wieder längst Gehörtes reproduciren will: denn nur jene Schulung bildet und stählt das musikalische Combinationsvermögen in der Weise, dass das Starre des Contrapunktes sich jedem Gedanken, jeder Norm frei und ungezwungen fügt. Das ist nun allerdings nicht Sache aller im Cäcilien-Vereinscatalog empfohlenen Meister, doch sei hier ausdrücklich und rühmend hervorgehoben, dass der Cäcilienverein auch Componisten besitzt, die ihrem Generalpräses an Talent und Können weit überlegen sind, z.B. Künstler wie Greith, Haller, Haberl, Stehle.

Auf dem Gebiete der Orgel-Composition endlich ist mir Herr Pfarrer Witt ganz unbekannt; es sind mir diesem Felde gar keine Anhaltspunkte gegeben, ihn als Autorität anzuerkennen; denn Orgelbegleitung untergeordneter Art, wie etwa bei Litaneien, Marienlieder etc. zählen hier nicht. Wenn eine Empfehlung (wie im vorliegenden Falle mit dem Werke 'Der Kontrapunkt für die Orgel' von Fuchs) Werth und amtliche Bedeutung haben soll, so darf sie meines Erachtens nur von einem Manne ausgehen, der sich durch eigene Leistung als erfahrener Lehrer und Componist für diese Instrumente (wie z.B. Dr. Herzog) zur Autorität hinaufgearbeitet hat. Andere Gutachten können höchstens relativen Werth haben, indem sie sich nur auf den allgemein musikalischen, nicht speziell pädagogischen Inhalt beziehen können, und sind, genau betrachtet, ziemlich überflüssig.

Eurer hohen Direction

gehorsamster

Josef Rheinberger

1. Prof. und Hofcapellmeister.

München, 12. October 1888.

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