J. G. Eduard Stehle bemüht sich eifrig um Rheinbergers Kirchenmusik im Dom zu St. Gallen.


St. Gallen, d. 1. März 1893.

Hochverehrtester Herr!

Zu Ihrer herrlichen Orchestermesse in C op. 169 meine besten Glückwünsche; habe sie mit dem Chor (96 Sänger) bereits zu studiren angefangen, Kyrie, Sanctus, Benedictus u. Agnus sind fertig, alles ist entzückt u. begeistert für die Messe, an Ostern wird die Aufführung sein, alles besetzt, aber das 2te Fagott nicht, da wir keins haben; die Kapelle (im Sommer in Ragaz[1], im Winter hier) ist sehr gut, wir haben auch 7 Abonnementsconzerte hier und die Neunte schon 2-mal gehabt.

Nach der Aufführung werde ich darüber berichten im Chorwächter[2] u. auch auf Ihre Männermesse mit Orchester[3] (oder Orgel) op. 172 hinweisen. Möge der Himmel Ihnen durch die edle Kunst Trost und Balsam über den herben erlittenen Verlust Ihrer unvergesslichen Gattin verleihen! -

Sehen Sie Herrn Prof. Victor Gluth[4] in der Musikschule? Habe ihm nach Ihrem verdankenswerthen Rath am 21. Dezb. v. J. „Frithjofs Heimkehr“[5] gesandt, die „Stimmen der Kritik“ beigelegt, um seine Prüfung des Werkes gebeten, und für eine eventuelle Aufführung durch seinen „Oratorienverein“ jedwede Erleichterung bei Bezug der Chorstimmen und leihweise Gratis-Überlassung der Orchesterpartitur u. Instrumentalstimmen in Aussicht gestellt, aber bis jetzt keinerlei Nachricht erhalten. Wenn es Ihnen nicht zu viel Mühe macht, so würde ich recht sehr bitten, gelegentlich in der Musikschule Gluth einmal zu fragen, wie die Sache eigentlich steht! Ich fürchte, für diese Saison jedenfalls schlecht!

Mit hochachtungsvollsten Grüssen

Ihr ergbstr. Stehle.[6]

 

 

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[1] Bad Ragaz, Badekurort im Oberland des Kantons St. Gallen (Schweiz).
[2] „Der Chorwächter“, Organ der schweizerischen Cäcilien-Vereine, St. Gallen 1876ff. (Seit 1960: „Katholische Kir- chenmusik“)
[3] Ihre Männermesse mit Orchester = Messe in B-dur für Männerchor und Orgel oder Blasorchester, op. 172, komp. 1892
[4] Prof. Victor Gluth = (1852-1917), Schüler Rheinbergers, seit 1883 Professor an der Kgl. Akadamie der Tonkunst in München
[5]  „Frithjofs Heimkehr“ = Oratorium für Soli, Chor und Orchester, op. 64, von J. G. E. Stehle, komp. 1888.
[6] Johann Gustav Eduard Stehle (1839-1915), württembergischer Kirchenmusiker und Komponist, seit 1874 Domkapellmeister in St. Gallen.