Die "Oberrheinischen Nachrichten" kündigen an, den Rechenschaftsbericht der Regierung zu veröffentlichen


Artikel in den "Oberrheinischen Nachrichten" [1]

14.10.1922

Der Rechenschaftsbericht der fürstlichen Liechtensteinischen Regierung an den Landtag

I.

Unterm 26. April ds. Js. ist vom Landtag der fürstl. Regierung die Anregung unterbreitet worden, einen Bericht über die gesamte Landesverwaltung einschl. Staatsrechung, über die Regierungstätigkeit und Präsidialakten für die Zeit von 1919 bis heute vorzulegen. [2] Die Anregung entsprang dem begreiflichen Wunsche, Einblick in das von der früheren Regierung hinterlassene Erbe zu gewinnen und für den neuen Landtag Unterlagen für allenfalls nötige Reformen an die Hand zu bekommen. –

Besagter Bericht [3] ist nun, im Umfange von 50 Druckseiten in mühevoller Arbeit erstellt, dieser Tage den Herren Abgeordneten zugestellt und in der ersten Sitzung des heute zusammengetretenen Landtages von Regierungschef [Gustav] Schädler mit kurzen Ausführungen eingebracht worden, die den Inhalt der einzelnen Absätze entsprechend erläuterten und ergänzten. [4] Auch auf diese Ausführungen wird bei den Einzelkapiteln eingegangen werden.

Mit dieser Lesung im Landtag ist der Bericht auch der Öffentlichkeit und Allgemeinheit übergeben, sodass auch seiner Verwertung in der Presse nichts mehr im Wege steht. Und das ist gut so; denn wenn irgend eine Vorlage, so gibt der vollkommen neutral gehaltene Rechenschaftsbericht mit seinen streng aktenmässig erstellten und aktenmässig belegten Feststellungen Gelegenheit und Anlass, mit den Gegnern der derzeitigen Landtagsmehrheit und in gewissem Umfange auch der derzeitigen Regierung gründliche Abrechnung zu halten und ihnen samt ihrer Presse, dem L. V. wieder einmal, diesmal vielleicht "überzeugend", vor Augen zu führen, wie wenig Berechtigung gerade für diese Gegenseite besteht, die öffentliche Meinung mit Artikeln, wie dem jüngst erschienenen: "Liechtenstein am Scheidewege" [5] zu beunruhigen und vergiften.

Denn der Rechenschaftsbericht ist – natürlich nicht gewollt, aber ganz von selbst durch seine aktenmässigen Feststellungen – wie auf der einen Seite eine Rechtfertigung der zielbewussten, gut geregelten und absolut neutralen Arbeit der derzeitigen Regierung, so auf der andern Seite zu einer flammenden Anklageschrift gegen die allgemeine Geschäftsführung und gegen die parteipolitisch eingestellte, ja im Einzelnen sogar staatsrechtlich skandalöse (siehe Aktenverlust) Beeinflussung der souveränen Rechtsprechung durch eine Verwaltungsinstanz (§§ 8–10 des Berichtes!) [6] Gebarung früherer Regierungen geworden.

Im besondern gilt dies von Aktionen aus der Ära [Josef] Peer; die Verlesung von Geheimberichten aus der Zeit dieses Landesverwesers rief einerseits Stürme der Entrüstung hervor, da sich der Herr Berichterstatter in unqualifizierbaren Verdächtigungen seines politischen Gegners zu gefallen beliebte; andererseits folgten bestimmten Sätzen allgemeine Heiterkeitsausbrüche, weil die Berichte teilweise von keinerlei Sachkenntnis und politischer Urteilsfähigkeit getrübte Schreibübungen darstellen.

Das wird für die O. N. Anlass sein, in den folgenden Nummern den Rechenschaftsbericht im Wesentlichen im Wortlaut zum Abdruck zu bringen; [7] die einzelnen Kapitel, die sich befassen mit: 1. Bürobetrieb und Aktenbehandlung im allgemeinen; 2. Präsidial-(Geheim)Akten; 3. Akten der Wiener Gesandtschaft; 4. Landesfinanzen (Rechnung 1921) und 5. Reorganisation der Sparkassa, soweit es notwendig erscheint, unter Anfügung entsprechender Kommentare. Auf diesem Wege wird das Land in die Lage versetzt werden, den Bericht als ganzes und in allem kennen zu lernen; eine Möglichkeit, mit der bei den Publikationen des L. V. wohl kaum zu rechnen ist; dürfte ja dieses Organ allen Anlass haben, "dies und jenes" als vielleicht "unwesentlich" bei Wiedergabe des amtlichen Berichtes bezw. bestimmter Absätze dieses Berichtes zu "übersehen". [8]

Gerade dem aber muss begegnet werden, damit das Volk, wie auch in der Debatte mehrmals betont wurde, endlich einmal vollkommen klar sieht; damit es einen Blick in den "Augiasstall" und in die parteipolitisch einseitige Tätigkeit, bezw. Untätigkeit früherer Regierungen zu tun vermag; und damit es so aus Eigenem, nicht irregeführt von Entstellungen, Verleumdungen des Gegners und Vertuschungen eigener Sünden, zu entscheiden in der Lage ist, ob Liechtenstein heute "wirtschaftlich und politisch auf dem Abwärtswege" schreitet; [9] oder aber ob es nicht notwendig gewesen ist, gelegentlich eine andere Luft durch das Gebiet zwischen Bergen und Rhein wehen zu machen.

Doch Weiteres für das liebe Land Liechtenstein, das, wie gezeigt werden wird, Gott sei Dank 1919 am "Scheideweg" den richtigen Weg finden durfte, an Hand des Rechenschaftsberichtes in den folgenden Nummern, die zusammen mit dem Rechenschaftsbericht selbst ein nicht in allem erfreuliches, aber höchst lehrreiches Stück liechtensteinischer Geschichte wiederspiegeln werden. –

Für heute sei nur noch verzeichnet, dass die Erörterung des Rechenschaftsberichtes u. a. eine Interpellation Dr. [Wilhelm] Beck und Gen. zeitigte, die lautet: [10]

  1. Ist es wahr, dass ungefähr im Jahre 1920 zu einer Zeit grösster Geldknappheit von schweizerischer Seite Liechtenstein eine Million Franken zu einem sehr mässigen Zinsfuss, glaublich 5 %, hätte erhalten können und wenn ja: warum ist dieses in Aussicht gestandene billige Darlehen hinternach abgelehnt worden? [11]
  2. Ist es wahr, dass seitens einer Amtsperson der Zollanschluss an die Schweiz seinerzeit zu hintertreiben versucht wurde?
  3. Ist es wahr, dass Dr. Peer, bevor er 1920 ins Land kam, einer in Wien lebenden Persönlichkeit versprochen hat, er werde sie, wenn er (Peer) einmal im Lande Fuss gefasst, zum liechtensteinischen Wirtschaftskonsul ernennen?
  4. Ist es wahr, dass vor den Wahlen im Frühjahr dieses Jahres an den Fürsten herangetreten worden ist, er möchte Fr. 30'000 Propagandakosten für die Wahlen und ausserdem Fr. 100–150'000 ins Land hereinwerfen, damit die Wahlen günstig ausfallen?

Die Regierung wird zur Beantwortung dieser Fragen eingeladen. Ferner wurde als Endergebnis der Erörterung des Regierungsrechenschaftsberichtes folgende Resolution [Anton] Walser u. Gen. eingebracht: [12]

Der Landtag beschliesst nach Kenntnisnahme des Rechenschaftsberichtes der Regierung:

  1. Es wird der Regierung vom Landtag das vollste Vertrauen für ihre bisherige Tätigkeit ausgesprochen und die volle Unterstützung des Landtages zugesichert;
  2. es wird eine drei-gliedrige Geschäftsführungs- und Untersuchungskommission eingesetzt zwecks Prüfung der im Amtsbericht enthaltenen Ausführungen nebst den dazugehörigen Akten u. zwecks Berichterstattung an den Landtag. Diese Kommission hat insbesondere auch noch zu berichten, ob nicht strafrechtlich wegen Abhandenkommens von Amtsakten vorzugehen sei.
    Im weiteren hat diese Kommission Vorschläge darüber zu unterbreiten, in welcher Art und Weise gesetzlich verhindert kann, dass in Zukunft Vorkommnisse, wie sie im Geschäftsbericht aufgezeigt werden, verhindert werden können.
    Endlich hat diese Kommission in Verbindung mit der Regierung den bestimmten Auftrag, die Akten ganz oder teilweise nach ihrem Ermessen in einer Broschüre der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. [13]

(Fortsetzung folgt)

______________

[1] O.N., Nr. 80, 14.10.1922, S. 1.
[2] LI LA LTP 1922/041.
[3] Rechenschafts-Bericht der fürstlichen Regierung an den hohen Landtag, erstattet in der Landtagssitzung vom 12. Oktober 1922.
[4] LI LA LTP 1922/159, Protokoll der Landtagssitzung vom 12.10.1922.
[5] Von Oskar Ospelt veröffentlichte Artikelreihe (L.Vo., Nr. 67, 25.8.1922, S. 1; Nr. 72, 9.9.1922, S. 1; Nr. 80, 7.10.1922, S. 1), die Anlass zu einer längeren Pressefehde zwischen dem "Liechtensteiner Volksblatt" und den "Oberrheinischen Nachrichten" gab.
[6] Gemeint sind wohl die Seiten 8–10 des Rechenschaftsberichts, wo auf angebliche Einflussnahme der Regierung auf die Entscheidungen der politischen Rekursinstanz eingegangen wird.
[7] Die "Oberrheinischen Nachrichten" publizierten den Rechenschaftsbericht in Nr. 81, 21.10.1922, bis Nr. 94, 6.12.1922.
[8] Das "Liechtensteiner Volksblatt" veröffentlichte den Anfang des Rechenschaftsberichts in Nr. 94, 25.11.1922, bis Nr. 1, 6.1.1923, im Wortlaut, brach die Publikation dann jedoch ab.
[9] Anspielung auf einen Artikel Oskar Ospelts, der darauf hingewiesen hatte, "dass wir uns nach meiner Ansicht politisch und wirtschaftlich auf fallender Bahn bewegen" (L.Vo., Nr. 80, 7.10.1922, S. 1 ("Liechtenstein am Scheideweg. Eine Erwiderung")).
[10] LI LA LTP 1922/177.
[11] Tatsächlich hatte der liechtensteinische Geschäftsträger in Bern, Emil Beck, 1919/20 mit der Schweiz über die Gewährung eines Darlehens verhandelt. Nachdem er informelle Zusagen von schweizerischen Stellen erhalten hatte, wies ihn Prinz Karl im März 1920 jedoch an, die Verhandlungen einzustellen, da Aussicht auf ein Darlehen durch eine Wiener Bank bestehe. Zudem hegte Prinz Eduard offenbar Bedenken, dass die Annahme eines von der Schweiz gewährten Darlehens die liechtensteinische Souveränität gefährden könnte (LI LA V 002/0421, Josef Ospelt an Emil Beck, 21.9.1921; LI LA V 002/0421, Beck an Regierung, 26.9.1921).
[12] LI LA LTP 1922/175. Der Antrag wurde nicht von Anton Walser, sondern von Emil Bargetze eingebracht.
[13] Die Kommission kam diesem Auftrag nach und veröffentlichte (allerdings erst Ende 1925) einen gedruckten Bericht an den Landtag (LI LA DM 1925/008), in dem sie auf gut 50 Seiten Auszüge aus den Präsidialakten präsentierte. Die Volkspartei verbreitete diesen Bericht dann im Wahlkampf 1926 in einer Broschüre mit dem Titel "Liechtensteiner Volk die Augen auf! Geheime Kulissenwirtschaft oder freie offene Verwaltung wie heute?" (LI LA SgZg 1926/09).