Fürst Johann II. orientiert die Bevölkerung über die Bestellung von Josef Peer zum Leiter der Regierungsgeschäfte für die Dauer von 6 Monaten


Maschinenschriftliche Abschrift der Kundmachung von Fürst Johann II., gez. ders., gegengez. Josef Peer

15.9.1920, Vaduz

Meine lieben Liechtensteiner!

Seit mehr als 200 Jahren sind, dank Gottes Vorsehung, die Geschicke Meines Hauses mit denen Eures Landes in Leid und Freude auf Engste verbunden.

Hat sich auch unsere kleine Heimat glücklich durch die Wirrnisse des Weltkrieges hindurchgerettet, so haben sich doch die Erscheinungen der Nachkriegszeit immer fühlbarer gemacht und immer dringender wurde die Notwendigkeit, den weiter um sich greifenden Schädigungen der Wohlfahrt Meines Volkes hemmend entgegenzutreten und den Geist der verderblichen Zwietracht zu bannen, der bereits in unser Land einzudringen drohte.

Der mahnende Ruf zur Einkehr und zur Einigkeit, den Ich, erfüllt von der Sorge um das Wohl unserer teuren Heimat, an Alle ergehen liess, die berufen sind, in einmütigem Zusammenarbeiten zum Vaterlande zu stehen, ist nicht ungehört verhallt; sie haben Meiner Absicht zugestimmt, an die Spitze Meiner Regierung einen Mann stellen, dessen Aufgabe es sein soll, ungesäumt und mit allem Nachdruck im Verein mit ihnen das Werk der Wiederaufrichtung des Landes in Angriff zu nehmen und seine Vollendung zu sichern.

Als solchen Mann habe Ich nun den Hofrat des österreichischen Verwaltungsgerichtshofes, Dr.  Peer, provisorisch auf die Dauer eines halben Jahres als Leiter der Regierungsgeschäfte mit allen Rechten und Vorzügen eines Regierungschefs ins Land gerufen [2] und ihn zugleich vornehmlich mit der Aufgabe betraut, im Wege der Revision der Verfassung, [3] sowie der Ordnung des Geldwesens und des Landeshaushaltes die Wiedergesundung des öffentlichen und wirtschaftlichen Lebens im Lande anzubahnen.

Ich gebe Mich der bestimmten Erwartung hin, dass er die an seine Berufung geknüpften Hoffnungen erfülle und dass ihm die Unterstützung aller Gutgesinnten im Lande zur gedeihlichen Erfüllung seiner Aufgaben zuteil werden möge.

Unter Einem hab Ich der Mir von Meinem Landesverweser, Seiner Durchlaucht dem Prinzen Karl von und zu Liechtenstein, vorgebrachten Bitte um Enthebung von seinem Amte unter wärmster Anerkennung der Mir und Meinem Lande unter aussergewöhnlich schwierigen Verhältnissen mit opferfreudiger Hingebung geleisteten wertvollen Dienste Folge gegeben; [4] möge auch im Volke eine dankbare Erinnerung an sein Wirken im Lande fortleben!

Liechtensteiner!

Haltet nun fest zusammen, stellet bei aller Wahrung selbständiger Anschauungen den Gedanken der Einigung zu gemeinsamer Arbeit im Dienste des Vaterlandes über das, was Euch bisher trennte und möge dasjenige, was Ich in unablässiger Sorge um Euer Wohl nach reiflicher Erwägung beschlossen und Euch hiemit kundgetan habe, Meinem Lande und Meinem Volke zu Heil und Segen gereichen, das walte Gott! [5]

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[1] LI LA SF 01/1920/125. Vgl. das Begleitschreiben der Kabinettskanzlei an die Regierung vom 16.9.1920 (ebd.). Die fürstliche Kundmachung wurde veröffentlicht in: L.Vo., Nr. 75, 18.9.1920, S. 1 („Meine lieben Liechtensteiner"); O.N., Nr. 75, 18.9.1920, S. 1 („Meine lieben Liechtensteiner").
[2] Vgl. die Entschliessung von Fürst Johann II. in den „Schlossverhandlungen" vom 15.9.1920, besonders Ziff. II Abs.1 (LI PA VU, Schlossabmachungen, o.Nr.). Siehe in diesem Zusammenhang das fürstliche Bestellungsdekret für Josef Peer vom 15.9.1920 in der Akte LI LA SF 01/1920/125. Die Vereidigung Peers erfolgte am 20.9.1920 im fürstlichen Majoratshaus in Wien (LI LA SF 01/1920/140). .
[3] Vgl. den am 12.1.1921 von Fürst Johann II. „vorsanktionierten" Verfassungsentwurf von Josef Peer (LI LA RE 1921/0963).
[4] Vgl. das fürstliche Abberufungsdekret für Landesverweser Prinz Karl vom 15.9.1920 in der Akte LI LA SF 01/1920/125.
[5] Nach Ablauf dieser 6 Monate erfolgte auf Antrag der Fortschrittlichen Bürgerpartei am 28. März 1921 eine Volksabstimmung über den Verbleib Peers als provisorischer Regierungschef. Obwohl sich die Mehrheit der Stimmberechtigten für den Verbleib Peers aussprach, stellte sich dieser nicht mehr für das Amt des Regierungschefs zur Verfügung.