Verordnung betr. das Verfahren bei Besitzstörungsstreitigkeiten


Verordnung
mit der Vorschrift über das Verfahren in Besitzstörungsstreitigkeiten
[1]

vom 10. Dezember 1858

Um bei Besitzstörungen jeder Art, insbesondere bei Grenzstreitigkeiten und bei Wasserleitungen oder Wasserwerken, insoweit sie zur Competenz der Civilgerichte ausschliessend gehören, jene Rechtsmittel und richterlichen Verfügungen, welche das allgemeine bürgerliche Gesetzbuch überhaupt, und insbesondere im ersten Hauptstücke des zweiten Theiles, zum Schutze des bedrohten oder zur Wiederherstellung des gestörten Besitzstandes angeordnet, ohne prozessualische Weitläufigkeit in Wirksamkeit zu setzen, haben Se. Durchlaucht die mit kaiserlicher Verordnung vom 27. Oktober 1849 für Oesterreich erschienene Vorschrift über das Verfahren in Besitzstörungsstreitigkeiten in Höchstihrem Fürstenthume Liechtenstein in nachstehender Weise einzuführen beschlossen, welche vom Tage der Publikation in Gesetzeskraft zu treten hat.

§ 1

Das Regierungsamt verhandelt und entscheidet in allen Besitzstörungsstreitigkeiten, welche sich auf eine im Lande befindliche Sache beziehen.

§ 2

Wenn Jemand im Besitze einer Sache oder eines Rechtes beeinträchtigt oder wenn er dieses Besitzes widerrechtlich entsetzt worden, hat derselbe sogleich und längstes in dreissig Tagen von der erlangten Wissenschaft der Störung, mit Einschliessung der Ferialtage, die richterliche Hilfe anzusuchen und sein Begehren genau auszudrücken (allg. bürgerl. G. B. §§ 339, 345, 346, 347 und 851). Nach Verlauf dieser Zeit ist der angeblich gestörte Besitzer zur ordentlichen Besitzklage im Rechtswege (possessorium ordinarium) zu verweisen.

§ 3

Ueber den gestörten Besitz ist auf das Schleunigste mündlich zu verhandeln. Die Verhandlung kann auch an jedem Ferialtage aufgenommen werden. Die Klage des gestörten Besitzes kann schriftlich überreicht oder mündlich zu Protokoll gegeben werden. Im ersteren Falle sind auf der Eingabe von aussen die Worte: „Dringend wegen gestörten Besitzes“ anzumerken.

§ 4

Von den Verhandlungen über gestörten Besitz sind Rechtsfreunde nicht ausgeschlossen.

§ 5

In diesem summarischen Verfahren hat der Richter von Amtswegen sich gegenwärtig zu halten und die Parteien dahin zu leiten, dass es einzig auf die Erörterung und den Beweis der Thatsache des letzten faktischen Besitzstandes und der erfolgten Störung ankomme, und die richterliche Verfügung oder das Erkenntniss auf den Schutz und die Wiederherstellung des gestörten Besitzes beschränkt sei.

Wer einen Besitz erst erwerben oder ein stärkeres Recht zum Besitze geltend machen will, muss den ordentlichen Rechtsweg ergreifen, in welchem auch die Fragen über Titel, Redlichkeit und Unredlichkeit des Besitzes und die Entschädigungsansprüche zu behandeln sind, wenn diese letztern nicht freiwillig anerkannt werden (allg. bürg. G. B. §§ 320, 328, 335, 339, 372, 373 und 374).

Der Kläger ist daher zur genauen Bestimmung des Begehrens und jeder Theil zu deutlichen Erklärungen über die von seinem Gegner angeführten Thatsachen anzuhalten.

Die Einwendung des nicht gehörigen Gerichtsstandes oder dass überhaupt der Gegenstand nicht zur Verhandlung vor der Gerichtsbehörde geeignet sei, wird, im Falle sie unbegründet ist, nicht durch eine besondere Entscheidung, sondern erst durch denselben Endbescheid, mit welchem über die Hauptsache erkannt wird, verworfen, wider welchen den Parteien auch in Beziehung auf die eingewendete Inkompetenz des Gerichtes der Weg der Beschwerde nach den Bestimmungen der §§ 16 und 17 offen steht.

Das Regierungsamt soll daher zwar stets die Grenzen seiner Gerichtsbarkeit sich gegenwärtig halten, und die Gesuche über Gegenstände, welche nach den Gesetzen seinem Gerichtstande nicht unterworfen sind, sogleich oder im Laufe der Verhandlung oder auch nach dem Schlusse derselben zurückstellen, aber nicht gestatten, dass über die Einwendung des ungebührenden Gerichtsstandes eine besondere  Verhandlung eingeleitet werde, welche vielmehr mit der Verhandlung über die Hauptsache zu vereinigen ist.

§ 6

Der Richter hat beide Theile auf eine möglichst kurze Zeit, allenfalls noch auf eben denselben oder den nächstfolgenden Tag, mit dem Bedeuten vorzuladen, dass sie alle Urkunden oder Zeugen, worauf sie sich berufen wollen, mitzubringen haben werden, und dass im Falle des Ausbleibens einer Partei den Angaben ihres Gegners, soweit dieselben durch die vorgelegten Beweismittel nicht widerlegt werden, Glauben beigemessen und denselben gemäss entschieden werden würde.

§ 7

Erhellet schon aus der Klage, dass ein gerichtlicher Augenschein vorzunehmen sein werde, so kann der Richter sogleich die erste Tagsatzung an Ort und Stelle vornehmen und Kunstverständige dazu vorladen.

§ 8

Insoferne nach den §§ 340 bis 342 des allg. bürg. G. B. gegen den Unternehmer eines neuen Baues oder Werkes ein Verbot stattfindet, den Bau vor Entscheidung der Sache fortzusetzten, soll darüber auf Ansuchen des Klägers sogleich die Erledigung der Klage das Nöthige verfügt werden.

§ 9

Auch in anderen Fällen der dringenden Gefahr widerrechtlicher Beschädigung kann dem Beklagten unbedingt oder gegen Sicherstellung auferlegt werden, sich bis zum Ausgange der Sache aller Handlungen dieser Art oder aller Veränderungen mit dem Gegenstande des Streites bei Vermeidung angemessener Geld- oder Arreststrafe zu enthalten.

§ 10

Selbst während der angefangenen und noch nicht beendigten Verhandlung können einstweilige Verfügungen begehrt und von dem Richter zur Verhütung von Gewaltthätigkeiten oder zur Abwendung eines unwiederbringlichen Schadens getroffen werden, insbesondere dann, wenn es streitig ist, wer sich im echten Besitze befindet.

Der Richter hat zu solchem Ende entweder dem § 347 des allg. bürg. G. B. gemäss eine Sequestration anzuordnen oder beiden Theilen alle Besitzhandlungen zu untersagen, oder den streitigen Gegenstand derjenigen Partei anzuvertrauen, welche ihrem Gegner Sicherheit leistet, oder in anderen Rücksichten auf den Schutz des Gerichtes nach rechtlicher Erwägung aller Umstände grössern Anspruch hat.

§ 11

Wenn bei der angeordneten Tagsatzung eine Partei nicht erscheint, so ist der Besitzstand, wie er von den anwesenden Parteien angegeben worden, für wahr zu halten, in soferne diese Angaben durch die vorgelegten Beweismittel nicht widerlegt werden, und durch einen Contumazbescheid[2] zu handhaben.

Erscheinen beide Theile, so soll der Richter versuchen, über die Hauptsache oder wenigstens über eine bis zur Entscheidung derselben gültige provisorische Verfügung einen Vergleich zu Stande zu bringen, gelingt dieses nicht, so wird in gehöriger Ordnung, jedoch bloss über den gestörten Besitz verhandelt.

§ 12

Eine Erstreckung soll ohne Einverständniss beider Theile nicht stattfinden, wenn der Verhandlung der Sache nicht ein offenbar unüberwindliches Hinderniss entgegen steht.

§ 13

Ueber die streitigen Thatumstände sind nöthigen Falls sogleich Zeugen oder Kunstverständige von Amtswegen zu Protokoll zu vernehmen.

Dem Ermessen des Richters bleibt überlassen, wie viele und welche Zeugen oder Kunstverständige vernommen, und welche Fragen ihnen gestellt werden sollen.

 

§ 14

Zeugen und Kunstverständige sind auf die in der Gerichtsordnung vorgeschriebene Art zu beeiden. Eine Vereidung der Parteien findet in diesem Verfahren nicht statt.

§ 15

Nach geschlossener Verhandlung wird sogleich, und wo möglich noch an demselben Tage durch einen Bescheid, welcher auch die Entscheidungsgründe enthalten muss, erkannt und derselbe beiden Theilen unverzüglich zugestellt.

Die Entscheidung gilt bloss als einstweilige Norm für den letzten faktischen Besitzstand, oder sie spricht provisorisch nach dem Gesetze (allg. bürgl. G. B. §§ 340 bis 343) eine Untersagung oder Sicherstellung aus; sie hindert keinen Theil, ein härteres Recht zum Besitze und die davon abhängigen Rechtsansprüche im ordentlichen Verfahren nach obiger Ordnung (5) geltend zu machen.

§ 16

Ein Rekurs hat mit Ausschliessung aller anderen Rechtsmittel und insbesondere der Restitution nur gegen den erwähnten Endbescheid des ersten Richters statt, nicht aber gegen richterliche Verfügungen im Zuge des Verfahrens, wogegen die Beschwerde jedem Theile nach erfolgtem Endbescheide zugleich mit dem Rekurse anzubringen vorbehalten bleibt.

§ 17

Dieser Rekurs ist bei der ersten Instanz binnen acht Tagen, mit Einschliessung der Ferialtage, schriftlich zu überreichen oder mündlich zu Protokoll zu geben; nach Verlauf dieser Frist aber von Amtswegen zu verwerfen.

Wird in gehöriger Zeit der Rekurs angebracht, so hat der Richter erster Instanz sämmtliche Akten sogleich und ohne Anordnung einer Inrotulierungstagsatzung[3] an das Appellationsgericht zu befördern und die Augenscheins-, Kunstbefunds- oder Zeugenverhörs-Protokolle, wenn sie die Parteien nicht in Abschrift angeschlossen haben, in Original beizulegen.

§ 18

Auf den Bescheid der ersten Instanz ist dem obsiegenden Theile ohne Rücksicht auf die noch nicht verstrichenen Rekursfrist oder auf einen wirklich angebrachten Rekurs die Exekution zu bewilligen.

Ob während des Rekurses an den höhern Richter die bei der ersten Erledigung der Klage oder die während der Verhandlungen getroffenen provisorischen Verfügungen (§ 8, 9, 10) sogleich wieder aufhören oder bis nach eingetretener Rechtskraft des Bescheides fortdauern sollen, bleibt dem Ermessen des Richters erster Instanz überlassen.

§ 19

Ergeben sich aus der Verhandlung Anzeigen [sic!] einer schweren Polizeiübertretung oder eines Verbrechens, so hat das Gericht die Vorschriften des Strafgesetzes zu befolgen, zugleich aber über den Gegenstand des Streites, soweit er vor das Gericht gehört, nach obigen Anordnungen unaufgehalten zu verfahren.

Wien, am 10. Dezember 1858.

Franz Zimerman, dirigirender Hofrath

L. S.

Von der Hochfürstlichen Hofkanzlei.

Rudolph Nechansky, Justizrath



 

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[1]LI LA SgRV 1858/03. Originaltitel, Druck. Registraturvermerk: 10073.
[2]Kontumaz: „… in der frühern Rechtssprache der Ungehorsam gegen eine richterliche Auflage, die Unterlassung einer befohlenen Handlung, das Ausbleiben in einem angesetzten Termin.“ Brockhaus, 14. Auflage, 1894-1896. Online: http://www.retrobibliothek.de/retrobib/seite.html?id=130100
[3] Inrotulierung: Zurechtstellung der Akten von seiten des Untergerichts zur Versendung an das Obergericht.