Kaiserliches Hofdekret zu den §§ 94, 97 und 107 abGB betr. Scheidung und Ungültigkeit von Ehen


[Hofdecret  zu den §§ 94, 97 und 107 abGB
betr. Scheidung und Ungültigkeit von Ehen)]
[1]

vom 23sten August 1829

an sämmtliche Appellations-Gerichte, in Folge höchster Entschliessung vom 7ten September 1818, über Vortrag der Hofcommission in Justiz-Gesetzsachen.

Zu der in dem Anhange folgenden Vorschrift über das Verfahren in streitigen Ehe-Angelegenheiten wird bemerket: dass auch den Verhandlungen um die Ungültigerklärung und um die Trennung der Ehe dasjenige zu beobachten sey, was die geltende Gerichts-Instruction über die Zuziehung und Einflussnehmung der Cameral- und politischen Repräsentanten überhaupt vorschreibt, so wie dagegen in Folge Hofdecretes vom 13ten November 1826, Nr. 1296 der Justiz-Gesetzsammlung, wenn es sich um Juden-Ehen in Gemässheit der §§ 133, 134 und 135 des allgemeinen bürgerlichen Gesetzbuches handelt, weder eine fiscalämtliche Vertretung einzutreten hat, noch die Beyziehung eines politischen Repräsentanten zur Verhandlung oder Entscheidung von Seite der Gerichts-Behörden nothwendig ist.

Anhang

Seine Majestät haben, um das in den §§ 94, 97 und 107 des bürgerlichen Gesetzbuches angedeutete ämtliche Verfahren in streitigen Ehe-Angelegenheiten näher zu bestimmen und eine gleichförmige Verhandlung dieser wichtigen Rechtssache bey den Gerichten zu bewirken, folgende Vorschriften, die von nun an theils bey Scheidungen von Tisch und Bett, theils bey Ungültigerklärung und Trennung der Ehen anzuwenden sind, festzusetzen geruhet:

I. Verfahren über die Scheidung von Tisch und Bett

Allgemeiner Grundsatz

§ 1

Streitigkeiten der Eheleute über die Scheidung von Tisch und Bett müssen bey der im §°107 des allgemeinen bürgerlichen Gesetzbuches vorgeschriebenen Untersuchungen im Wesentlichen nach den allgemeinen Grundsätzen des rechtlichen Verfahrens in Streitsachen behandelt, und dabey die Vorschriften der §§ 21 und 22 der West-Galizischen Gerichtsordnung über die mündliche Verhandlung streitiger Rechtsangelegenheiten, jedoch so zur Anwendung gebracht werden, wie es der Begriff und Zweck einer von Amts wegen zu pflegenden Untersuchung fordert.

 

Nähere Bestimmung desselben

§ 2

Insbesondere soll der Richter erstens die streitenden Theile jederzeit persönlich vorladen und vernehmen, allenfalls zuerst den klagenden Ehegatten allein vorfordern und zu vorläufiger näherer Aufklärung der Umstände und Beybringung der erforderlichen Beweismittel anweisen.

§ 3

Er soll zweytens die Streitigkeiten der Eheleute immer durch gütlichen Vergleich dahin beyzulegen versuchen, dass entweder das Scheidungsgesuch freywillig zurückgenommen, oder die aus vollgültigen Gründen verlangte Scheidung von dem anderen Theile ohne rechtliches Erkenntnis auf bestimmte oder unbestimmte Zeit bewilliget werde.

§ 4

In der Verhandlung selbst ist er drittens an keine andern Regeln gebunden, als die das Wesentliche einer einfachen, zweckmäßigen und gründlichen Untersuchung über die rechtliche Beschaffenheit des Scheidungsgesuches ausmachen. Ncht angebrachte Scheidungsursachen soll er nicht einmengen, auch weder den Parteyen noch ihren Vertretern Umtriebe zur Verlängerung der Untersuchung gestatten.

§ 5

Minderjährige oder unter Curatel stehende Eheleute haben sich zwar viertens in Ansehung ihrer aus der ehelichen Gesellschaft herrührenden, bloss persönlichen Rechte und Verbindlichkeiten selbst zu vertreten, jedoch sollen mit ihnen auch ihre Aeltern, Vormünder oder Curatoren zu den gerichtlichen Verhandlungen zugezogen werden.

§ 6

Wenn fünftens der auf die Scheidung belangte Ehegatte der gerichtlichen Vorladung nicht Folge leistet, so soll er durch schickliche Zwangsmittel zu erscheinen genöthiget, und nur, wenn dies nicht thunlich wäre, nach vorausgegangener Warnung vor den Folgen seines Ungehorsams, auf Ausbleiben gegen ihn erkannt werden. Wäre der Aufenthalt desselben unbekannt, so ist nach Vorschrift des § 498[2] der Gerichtsverordnung für West-Galizien gegen ihn zu verfahren.

§ 7

In dem Protocolle über die gerichtlichen Verhandlungen muss sechstens jederzeit Nahme, Stand, Wohnort, Gewerbe, Alter und Religion der beyden Eheleute, die Zeit der geschlossenen Ehe, die Anzahl, das Alter und Geschlecht der Kinder angemerkt, auch daraus ersichtlich seyn, ob Ehe-Pacten errichtet worden seyen.

Unzulässiger Vorbehalt bey einer freywilligen Scheidung

§ 8

Bey Bewilligung einer zu Folge beyderseitigen Einverständnisses angesuchten Scheidung kann kein Vorbehalt weiterer rechtlicher Verhandlungen über Unterhalt der Ehegattinn und Kinder, Auseinandersetzung des Vermögens oder andere gegenseitige Ansprüche der Eheleute zugelassen, mithin in so fern nicht beyde Theile über alle diese Gegenstände vollständig und unbedingt ausgeglichen sind, der Scheidung nur durch rechtliches Erkenntnis, aus den in dem § 109 des bürgerlichen Gesetzbuches vorkommenden Gründen, Statt gegeben werden.

Beweisführung

§ 9

Die Zulässigkeit und rechtliche Kraft des Beweises überhaupt, und ins besondere des Beweises durch das Geständniss oder den Eid der Ehegatten ist, so viel die Scheidung von Tisch und Bett betrifft, nach der allgemeinen Vorschrift der Gerichtsordnung zu beurtheilen.

§ 10

In so fern beyde Theile über die entscheidenden Thatumstände nicht zu vereinigen sind, soll der Beweis durch Zeugen oder Kunstverständige durch einen Bescheid, wogegen jedem Theile der Recurs offen steht, zugelassen, auf den Haupt- oder Erfüllungseid aber durch Urtheil erkannt werden.

Bey Vernehmung der Kunstverständigen und Zeugen müssen die allgemeinen Vorschriften der Gerichtsordnung, in so fern sie auf die Beweiskraft der Aussagen wesentlichen Einfluss haben, genau beobachtet werden. Die Fragen, welche an die Zeugen gestellt werden sollen, hat der Richter selbst zu entwerfen; jedoch dabey auch die allenfalls von den Parteyen gestellten Fragesätze zu benützen. Er kann nach Erfordernis der Umstände auch fremder Gerichtsbarkeit unterworfene Zeugen selbst vernehmen und sich zu solchem Ende an ihren gehörigen Richter verwenden, dass sie zum Verhöre zu erscheinen angewiesen werden mögen.

Urtheil und Beschwerden dagegen

§ 12

Nach gänzlich beendigter Untersuchung muss die Scheidung von Tisch und Bett durch Urtheil bewilliget oder abgeschlagen, und im ersteren Falle zugleich ausdrücklich darüber erkannt werden: ob der eine oder der andere Ehegatte, oder jeder Theil, oder keiner von beyden, an der Scheidung Schuld trage.

Für die Rechtsmittel und Beschwerden gegen das Urtheil gilt die allgemeine Vorschrift der Gerichtsordnung.

Fände der obere Richter wesentliche Gebrechen in der Untersuchung, so soll er vor Entscheidung der Hauptsache die Fehler von Amts wegen verbessern lassen.

II. Verfahren über die Ungültigkeit oder Trennung der Ehe

Allgemeiner Grundsatz

§ 13

Die hier für das Verfahren über die Scheidung von Tisch und Bett ertheilten Vorschriften finden auch in den Fällen einer Untersuchung über die Ungültigkeit oder angesuchte Trennung der Ehe (§ 97 und die folgenden des allgemeinen bürgerlichen Gesetzbuches) in so fern ihre Anwendung, als sie sich mit den Anordnungen des Gesetzes über die Aufrechthaltung der Ehen, über die Unzulässigkeit des Beweises durch Eid oder Geständnis der Ehegatten, und über die von Amts wegen einzuleitende Untersuchung der im § 94 des bürgerlichen Gesetzbuches angeführten Ehehindernisse, vereinigen lassen.

Nähere Bestimmung desselben

§ 14

Insbesondere soll der Richter beyde Eheleute und denjenigen, dem er die Vertheidigung der Ehe anvertrauet, persönlich vorladen, dem letzteren die überreichte Schrift oder eingelangte Anzeige sammt Beylagen mittheilen, jeden Theil über den Gegenstand der Untersuchung zweckmäßig und in gehöriger Ordnung verhandeln lassen, die nöthigen Actenstücke und Urkunden abfordern, oder selbst herbeyschaffen; Zeugen und Kunstverständige vernehmen, auf solche Art die entscheidenden Thatumstände vollständig aufklären, dabey die für die Ungültigkeit oder Auflösung der Ehe angeführten Gründe zwar in ihr volles Licht setzen, aber auch strenge prüfen, und eine gültige Ehe gegen jede willkürliche Anfechtung von Amts wegen in Schutz nehmen; überhaupt die Verhandlung so leiten, dass die Ungültigkeit der Ehe, oder das Recht die Auflösung derselben zu verlangen, entweder ohne Rücksicht auf eigenes Geständniss oder Uebereinkommen der Eheleute klar erwiesen, oder die Unmöglichkeit dieses Beweises außer Zweifel gesetzt werde.

Versuch einer Wiedervereinigung

§ 15

Wäre das Gesuch des einen Ehegatten um Ungültigerklärung oder Auflösung der Ehe auffallend ungegründet, so soll er vorerst allein vorgeladen und durch zweckmäßige Vorstellungen wo möglich dahin vermocht werden, von seinem Vorhaben freywillig abzustehen.

§ 16

Kann im Falle einer mit Recht für ungültig angegebenen Ehe das Hindernis durch nachträgliche Dispensation, Einwilligung der in ihren Rechten gekränkten Person oder Genehmigung der Behörde gehoben werden; so muss die Vorschrift des § 98 des bürgerlichen Gesetzbuches zur Anwendung gebracht, auch bey einer von Akatholiken angesuchten Auflösung der Ehe nach Beschaffenheit der Umstände eine gütliche Ausgleichung zu bewirken, und die getrennten Gemüther wieder zu vereinigen gesucht werden.

Pflichten des Vertheidigers der Ehe

§ 17

Wer zur Vertheidigung der Ehe bestellt ist, hat über alle als Grund der Trennung oder Ungültigerklärung angegebener Umstände genaue Erkundigung einzuziehen, in wie fern der Antrag in dem Gesetze gegründet und durch vollständigen Beweis unterstützt sey, oder welche Einwendungen und Bedenken demselben entgegen stehen, sorgfältig zu untersuchen, und sich hierüber gegen das Gericht gründlich und gewissenhaft zu äußern.

Hätte er hierin irgend etwas versehen, so muss er von dem Richter von Amts wegen zurecht gewiesen werden.

Urtheil und Rechtsmittel dagegen

§ 18

Nach geschlossenem Verfahren muss durch Urtheil entschieden werden.
Fällt dasselbe für die Gültigkeit oder gegen die Trennung der Ehe aus, so finden dagegen die im Allgemeinen zulässigen Rechtsmittel und Beschwerden statt. Ergeht es aber auf die Ungültigkeit und Trennung der Ehe, so muss der aufgestellte Vertheidiger derselben immer ohne weitere Rückfrage in der gewöhnlichen Frist die Appellation, und in dem Falle, wo zwischen Katholiken, oder wenn ein Theil katholisch ist, auf die Richtigkeit der Ehe erkannt wird, selbst bey gleichförmigen Urtheilen die Revision anmelden, und nach dem Wechsel der Appellations- oder Revisions-Schriften die Acten-Einsendung an die höhere Behörde verlangen. Hierauf ist die erste erkennende Behörde und der beygezogene politische Repräsentant von Amts wegen zu wachen schuldig.

§ 19

Wenn die Ehe für ungültig erklärt oder getrennt wird, muss nach eingetretener Rechtskraft dieses Erkenntnisses von Amts wegen die Verfügung getroffen werden, dass dasselbe nach Anleitung des § 122 des bürgerlichen Gesetzbuches in das Trauungsbuch eingetragen werde.

______________

[1]Kein Originaltitel. Wiedergabe nach der österreichischen Justizgesetzsammlung JGS 1819, Nr. 1595, S. 105-110.
[2] Fussnote im Original: „Durch Hofdecret vom 22sten October 1829 wurde sämmtlichen Appellations-Gerichten bedeutet: dass diese Berufung auf den § 498 der West-Galizischen Gerichtsordnung nur von der Italienischen Uebersetzung derselben zu verstehen sey, welcher mit dem § 512 des Deutschen Urtextes der West-Galizischen Gerichtsordnung, Nr. 329 der Justiz-Gesetzsammlung, zusammentrifft.“