Das „Liechtensteiner Volksblatt“ kritisiert den kolportierten Anschluss des Liechtensteinischen Arbeiterverbandes an die sozialdemokratische Gewerkschaft der Schweiz


Veröffentlichung einer Einsendung  im „Liechtensteiner Volksblatt“ mit einem Kommentar der Redaktion [1]

16.10.1920

Der liechtensteinische Arbeiterbund

soll sich kürzlich der schweizerischen sozialdemokratischen Gewerkschaft angeschlossen haben. Bekanntlich ist ein grosser, vielleicht der grössere Teil der schweizerischen Sozialdemokratie sehr geneigt, sich der dritten Internationale [Kommunistische Internationale], d. h. dem Bolschewismus anzuschliessen. Das Liebäugeln mit Moskau wird also auch bei uns beginnen, richtiger gesagt, man tritt nun mit diesem Liebäugeln offen auf. Es ist etwas Eigenartiges mit unserer Arbeiterbewegung. Schon die Geburt dieses Vereines [Liechtensteinischer Arbeiterverband] [2] war sehr im Zeichen des Kampfes. Man erinnert sich noch lebhaft, welche Anstrengungen gemacht wurden, den ersten Versammlungsteilnehmern das Wörtchen „christlich-sozial“ wegzuekeln. Mit viel Aufwand wurde ein neutraler Verein geboren, dessen erster Präsident [Friedrich Kaufmann] [3] schon nach wenigen Wochen weggeekelt wurde, „weil er zu schwarz sei“. Die Entwicklung, die ruhige und einsichtsvolle Männer dem Vereine voraussagten, ist nun eingetreten: Der Bund hat sich der schweizerischen sozialdemokratischen Gewerkschaft angeschlossen. Eigens haben die Vereinsobern ihren Mitgliedern einen sozialdemokratischen Gewerkschafts-Sekretär [4] aus der Schweiz verschrieben. Man hört, dass von anderer Seite der christlich-soziale Arbeitersekretär [Georg] Eisele, der bei der Gründungsversammlung schon für einen Anschluss an den schweiz. christlich-sozialen Verband propagierte, ins Treffen geführt, aber verhindert wurde, zu sprechen. So weit sind wir nun in Liechtenstein! Die nächste Folge wird nun natürlich sein, dass sich auch eine christlich-soziale Arbeiter-Vereinigung bei uns bildet. Wir hören, dass sogar schon Vorbereitungen im Gange sind. Entsprechend dem Charakter unseres Volkes, das die Religion seiner Altvordern noch hält und von den moskowitischen Heilslehren nichts wissen will, finden wir die Zusammenfassung der christlichsozialen Arbeiterschaft überaus begrüssenswert. Wir befinden uns bei diesem Kampfe in guter Gesellschaft: Der grosse Arbeiterpapst Leo XIII. mit seinem berühmten Rundschreiben über Arbeiterfragen [5] ist unser Vorkämpfer und die Bischöfe der ganzen Welt unsere mächtigen Verbündeten. Mit dem Anschlusse an die schweiz. sozialdemokratische Gewerkschaft haben sich die braven liechtensteinischen Arbeiter in die Gesellschaft von Freunden der Bela Kun, [Leo] Trotzki, [Wladimir Iljitsch] Lenin, Szamueli [Tibor Szamuely] und wie diese Glanznummern alle heissen, führen lassen. Ich sage ausdrücklich „führen lassen“. Denn den meisten liechtensteinischen Arbeitern ist die gegenwärtige sozialdemokratische Bewegung in ihrem Wesen fremd. Sie haben nicht darüber nachgedacht, was ihre neuen Brüder in den letzten 2 Jahren für Schrecknisse und Jammer bereitet haben. Und was sagen jene „Christlichsozialen“, die noch im letzten Frühling so sehr gegen das kleine Wörtchen christlich-sozial aufgetreten sind.

Die Bewegung ist nun einmal da, so bedauerlich sie ist. Da hilft kein Schimpfen und Rumoren. Nur praktische Arbeit für die christlich-soziale Arbeitersache kann Früchte tragen. Jenen aber, die die Anschlussbewegung und den Anschluss an die schweizer. Gewerkschaft hervorriefen und jenen, die mithalfen, die Bewegung durch ihre Gegnerschaft zur christlich-sozialen Sache zu entfachen, sei es gesagt: Der Sozialismus gedeiht auf liechtensteinischem Boden nicht!

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So weit die Ausführungen unseres Einsenders, der es mit der Liechtensteiner Arbeiterschaft sicherlich ehrlich meint.

Wir nehmen an, unser Gewährsmann sei richtig informiert. Sollte es sich aber in diesem oder jenem herausstellen, dass Missverständnisse vorliegen, so sind wir zur Aufnahme sachlicher Berichtigungen ohne weiteres bereit; denn uns liegt am Wohle des Liechtensteiner Arbeiters ebensoviel als an dem jedes andern Standes. Wir hoffen sogar, dass sich obige Meldung des Anschlusses an den sozialdemokratischen Gewerkschaftsverband der Schweiz nicht bewahrheiten wird, dass der Anschluss also noch nicht vollzogen ist. Der Grossteil unseres tüchtigen Arbeiterstandes ist über das wahre Wesen der Sozialdemokratie und über ihre letzten Folgen nicht unterrichtet. Und mancher, der sich Sozialdemokrat nennt, ist ebenso ein braver, achtbarer Mensch wie manch anderer.

Wir würden es aber als ein Unglück nicht nur für unsere Arbeiterschaft, sondern für unbser ganzes Land betrachten, wenn sich auch nur ein kleinerer Teil sozialdemokratisch organisieren würde. Es mag diese sozialdemokratische Organisation wohl der Wunsch ganz weniger sein, bei denen wir auch nicht ohne weiteres böse Absicht annehmen wollen. Unsere heimatliebenden Arbeiter aber werden dieser Richtung zum Grossteil ferne stehen.

Die Gründe, die uns gegen die Sozialdemokratie im allgemeinen und gegen Einführung derselben in unser Land im besonderen Stellung nehmen lassen, sind mannigfach und liegen im ersterm Belange in unserer und des Liechtensteinischen Volkes christlichen, katholischen Weltanschauung. Denn die Sozialdemokratie verneint das Jenseits und verspricht das Paradies auf Erden. Sie verspricht es, kann es aber nicht schaffen. Das zeigen die Zustände in Russland und an anderen Orten. Für Liechtenstein, für das Fürstentum Liechtenstein, würde die Sozialdemokratie eine Verankerung des steten Unfriedens und ein offenes Auftreten gegen unseren Fürsten [Johann II.] bedeuten. Denn die Sozialdemokratie und in ihrer letzten Folge der Kommunismus vertritt den Klassenkampf und verwirft den Gedanken der Monarchie.

Wir würden die Einführung der Sozialdemokratie in unser katholisches, fürstentreues Land aufs tiefste bedauern. [6]

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[1] L.Vo., Nr. 83, 16.10.1920, S. 1.
[2] Der Liechtensteinische Arbeiterverband wurde am 2.2.1920 in Vaduz gegründet (L.Vo., Nr. 10, 4.2.1920, S. 2 („Gründungsversammlung des Liechtensteinischen Arbeitervereines“); O.N., Nr. 10, 4.2.1920, S. 2 („Arbeiterverein“)). Die von der Gründungsversammlung verabschiedeten Statuten wurden von der Regierung am 11.3.1920 genehmigt. Hauptaufgabe des Vereins war die wirtschaftliche Interessenvertretung seiner Mitglieder durch Verbesserung der Lohn- und Arbeitsbedingungen (LI LA RE 1920/1044).
[3] Friedrich Kaufmann trat am 12.5.1920 vom Amt des Präsidenten des Liechtensteinischen Arbeiterverbandes zurück (vgl. L.Vo., Nr. 39, 15.5.1920, S. 2 („Mitteilung“)).
[4] Konnte nicht eruiert werden.
[5] Vgl. die Enzyklika Rerum Novarum von 1891.    
[6] Vgl. in weiterer Folge: O.N., Nr. 84, 20.10.1920, S. 1-2 („Zur Arbeiterbewegung“).