Verfassungsentwurf des Prinzen Karl von Liechtenstein


Maschinenschriftlicher Verfassungsentwurf, ungez., verfasst von Prinz Karl von Liechtenstein [1]

o.D. (spätestens Mitte März 1920) [2]

Erstes Hauptstück

Von dem Fürstentume und dessen Regierung

§ 1.

Das Fürstentum Liechtenstein bildet in der Vereinigung seiner beiden Landschaften Vaduz und Schellenberg ein unteilbares und unveräusserliches Ganzes; die Landschaft Vaduz (Oberland) besteht aus den Gemeinden: Vaduz, Triesen, Balzers, Triesenberg, Schaan und Planken; die Landschaft Schellenberg (Unterland) aus den Gemeinden: Eschen, Mauren, Gamprin, Ruggell und Schellenberg.

Die Landesfarben sind blaurot, das Wappen des Landes ist das des fürstlichen Hauses.

Der Hauptort ist Vaduz.

Schaffung neuer Gemeinden, Zusammenlegung oder Teilung bestehender Gemeinden, sowie Abänderung ihrer Grenzen bleiben der Gesetzgebung des Landes vorbehalten.

§ 2.

Der Landesfürst ist Oberhaupt des Staates, vereinigt in sich alle Rechte der Staatsgewalt und übt sie unter den in gegenwärtiger Verfassungsurkunde festgesetzten Bestimmungen aus.

Seine Person ist heilig und unverletzlich.

§ 3.

Die Regierung ist erblich im Fürstenhause Liechtenstein nach Massgabe der Hausgesetze.

Auch wird nach letzteren die Volljährigkeit des Landesfürsten und des Erbprinzen, sowie die Vormundschaft vorkommenden Falles geordnet.

Zweites Hauptstück

Von den allgemeinen Rechten und Pflichten der Landesangehörigen

§ 4.

Alle Staatsbürger sind vor dem Gesetze gleich. Die Glaubens- und Gewissensfreiheit ist jedermann gewährleistet.

§ 5.

Die römisch-katholische Religion geniesst Gewährleistung und Schutz des Landes für ihre Betätigungen, für ihre Einrichtungen; allen anderen Konfessionen ist innerhalb der Schranken der Sittlichkeit und öffentlichen Ordnung die Ausübung gottesdienstlicher Handlungen gewährleistet.

Das Eigentum und andere Rechte der Religionsgesellschaften und religiösen Vereine an ihren für Kultus-, Unterrichts- und Wohltätigkeitszwecke bestimmten Anstalten, Stiftungen und sonstigen Vermögen werden gewährleistet.

§ 6.

Der Sonntag und die Feiertage bleiben als Tage der Arbeitsruhe und religiöser Erhebung gesetzlich geschützt. [3]

§ 7.

Die deutsche Sprache als die Sprache des Volkes geniesst die Gewährleistung und den Schutz des Landes; sie ist die Amtssprache des Landes.

§ 8.

Jeder stimmberechtigte und stimmfähige Bürger ist verpflichtet an allen verfassungsmässigen Wahlen und Abstimmungen des Landes teilzunehmen. [4]

§ 9.

Die Erlangung aller staatsbürgerlichen Rechte steht jedem Landesangehörigen nach Massgabe der Bestimmungen dieser Verfassung zu.

§ 10.

Der Aufenthalt innerhalb der Grenzen des Fürstentumes verpflichtet zur Beobachtung der Gesetze desselben und begründet dagegen den gesetzlichen Schutz.

§ 11.

Über Entstehung und Erwerbung, über Verlust und Untergang des Staatsbürgerrechtes und der Landesangehörigkeit bestimmen die Gesetze.

§ 12.

Die Freiheit der Gedankenmitteilungen durch das Mittel der Presse wird durch ein besonderes Gesetz normiert.

§ 13.

Niemand darf in der Regel seinem ordentlichen Richter entzogen und anders als in den durch das Gesetz bestimmten Fällen und unter Wahrung der gesetzlichen Formen verhaftet und bestraft werden.

Ausser der Ergreifung auf frischer Tat darf die Verhaftung immer nur in Kraft eines ämtlichen, mit Gründen versehenen Befehles vollzogen werden.

§ 14.

Jeder Verhaftete muss, womöglich sofort, jedenfalls innerhalb der nächsten 24 Stunden von der Ursache seiner Verhaftung in Kenntnis gesetzt und durch einen Gerichtsbeamten verhört werden. Geschah die Verhaftung nicht von der zum weiteren Verfahren zuständigen Gerichtsbehörde, so soll der Verhaftete an diese abgeliefert werden.

§ 15.

Jeder Angeschuldigte soll, soferne nicht dringende Anzeigen eines Verbrechens wider ihn vorliegen, der Regel nach gegen Stellung einer angemessenen, durch das Gericht zu bestimmenden Kaution oder Bürgschaft seiner Haft unverzüglich entlassen werden.

§ 16.

Die Haussuchung findet nur in unabwendbaren Fällen und auf Grund einer Verfügung des zuständigen Gerichtes mit Beobachtung der gesetzlichen Formen statt. Dem Hausbesitzer muss der gerichtliche Auftrag schriftlich vorgewiesen werden.

§ 17.

Der Verhaftete ist berechtigt, unter der geeigneten gerichtlichen Aufsicht mündlich oder schriftlich über seine Familienangelegenheiten mit seinen Angehörigen sich zu benehmen und während der Untersuchung aus seinen eigenen Mitteln bessere als die gewöhnliche Kost sich zu verschaffen. Wegen Missbrauches oder aus sonst wichtigen Gründen kann aber diese Berechtigung vom Gerichte aus sistiert und förmlich inhibiert werden. [5]

§ 18.

Das Eigentum oder sonstige Rechte und Gerechtsame können für Zwecke des Staates oder einer Gemeinde nur in den durch die Gesetze bestimmten Fällen und Formen und gegen vorgängige volle Entschädigung in Anspruch genommen werden.

§ 19.

Alle Vermögenskonfiskationen sind aufgehoben, es kann aber die Konfiskation einzelner Sachen, welche als Werkzeug oder Gegenstand eines Verbrechens oder einer Übertretung gedient haben oder dienen können, auch künftig stattfinden.

§ 20.

Das Vereinsrecht, durch ein Gesetz geregelt, geniesst den Schutz der Verfassung. [6]

§ 21.

Das Recht der Beschwerdeführung ist gewährleistet. In dessen Folge ist jeder Landesangehörige berechtiget, über das seine Interessen benachteiligende verfassungs-, gesetz- oder verordnungswidrige Benehmen oder Verfahren einer öffentlichen Behörde bei der unmittelbaren vorgesetzten Stelle Beschwerde zu erheben und solche nötigenfalls bis zur höchsten Behörde zu verfolgen. Wird die angebrachte Beschwerde von der vorgesetzten Behörde verworfen, so ist dieselbe verpflichtet, dem Beschwerdeführer die Gründe ihrer Entscheidung zu eröffnen.

§ 22.

Das Petitionsrecht an den Landtag ist gewährleistet und es steht nicht nur einzelnen Landesangehörigen und anderen in ihren Interessen Betroffenen, sondern auch Gemeinden und Korporationen zu, ihre Wünsche und Bitten durch ein Mitglied des Landtages daselbst vorzubringen.

§ 23.

Für die Bildung der Jugend ist durch öffentliche Anstalten zu sorgen. Bei ihrer Einrichtung sollen Familie und Kirche, Land und Gemeinden zusammenwirken. Es besteht allgemeine Schulpflicht. Der Unterricht in den Volksschulen und Fortbildungsschulen ist unentgeltlich. In allen Schulen ist religiös-sittliche Bildung, vaterländische Gesinnung und berufliche Tüchtigkeit zu erstreben.

Drittes Hauptstück

Rechte des Landesfürsten

§ 24.

Der Landesfürst vertritt den Staat in allen seinen Verhältnissen gegen auswärtige Staaten.

Es kann jedoch ohne Verwilligung des Landtages durch Verträge mit Auswärtigen weder der Staat im Ganzen noch ein Teil desselben oder Staatseigentum veräussert, auf kein Staatshoheitsrecht oder Staatsregal zu Gunsten eines auswärtigen Staates verzichtet, oder darüber irgendwie verfügt werden, weiters keine neue Last auf das Fürstentum oder dessen Angehörige übernommen, endlich keinerlei Verpflichtung, welche den Rechten der Landesangehörigen Eintrag tun würden, eingegangen werden.

§ 25.

Ohne Mitwirkung und Zustimmung des Landtages darf kein Gesetz gegeben, aufgehoben, abgeändert oder authentisch erklärt werden.

Der Landesfürst wird aber ohne Mitwirkung des Landtages die zur Vollstreckung und Handhabung der Gesetze erforderlichen, sowie die aus dem Aufsichts- und Verwaltungsrechte fliessenden Einrichtungen treffen und die einschlägigen Verordnungen erlassen. Auch wird der Fürst in dringenden Fällen das Nötige zur Sicherheit und Wohlfahrt des Staates vorkehren.

§ 26.

Eben diese Bestimmungen finden bei den Gesetzen im Landespolizeiwesen Anwendung.

§ 27.

Jedes Gesetz und jede Verordnung bedürfen zu ihrer Giltigkeit der Sanktion des Landesfürsten.

§ 28.

Jeder Regierungsnachfolger wird noch vor Empfangnahme der Erbhuldigung unter Bezug auf fürstliche Ehren und Würden in einer schriftlichen Urkunde aussprechen, dass er das Fürstentum Liechtenstein in Gemässheit der Verfassung und der Gesetze regieren, die Integrität desselben erhalten und die landesfürstlichen Rechte unzertrennlich und in gleicher Weise beobachten werde.

§ 29.

Alle Angestellten des Landes, die Ortsvorstände und öffentlichen Funktionäre sowie die neueintretenden Staatsbürger haben folgenden Eid zu schwören:

"Ich schwöre bei Gott dem Allmächtigen Treue dem Landesfürsten und dem Vaterlande, Gehorsam den Gesetzen und Beobachtung der Landesverfassung".

Sie sind alle ohne Ausnahme für die genaue Beobachtung der Verfassung in ihrem Wirkungskreise verantwortlich.

§ 30.

Die in der Hand des Fürsten liegende Regierungsgewalt wird nach Massgabe der Bestimmungen dieser Verfassung durch die verantwortliche Regierung ausgeübt.

Viertes Hauptstück

Rechte des gesamten Volkes

§ 31.

Das Volk übt seine verfassungsmässigen Rechte aus:

  1. durch Annahme oder Verwerfung der Verfassung und ihrer Abänderungen;
  2. durch Begehren einer Abänderung der Verfassung;
  3. durch die Wahl des Landtages;
  4. durch Genehmigung oder Verwerfung von Gesetzen;
  5. durch Volksbegehren.

§ 32.

Alle Gesetze, die nicht dringlicher Natur sind, unterliegen der Abstimmung des Volkes, wenn binnen 21 Tagen nach Erlass des Gesetzes 600 Wähler, deren Stimmberechtigung beglaubigt ist, unterschriftlich die Abstimmung verlangen; daher ist die Sanktion des Landesfürsten, welche zur Giltigkeit aller Gesetze und Verordnungen notwendig ist, in diesen Fällen erst nach Ablauf dieser Frist von der Regierung einzuholen.

Für die Dringlichkeit eines Gesetzes ist die Zweidrittel-Mehrheit des Landtages und die Zustimmung des Landesfürsten erforderlich.

§ 33.

Der Landesfürst, seine Regierung und der Landtag sind befugt, eine Volksabstimmung ergehen zu lassen. Im Landtage ist hierzu eine Zweidrittel-Mehrheit erforderlich.

§ 34.

Das Recht des Volksbegehrens umfasst das Verlangen auf Erlass oder Aufhebung oder Abänderung eines Gesetzes oder auf Abänderung einzelner Teile der Verfassung oder der ganzen Verfassung.

Derartige Begehren können in der Form der einfachen Anregung oder des ausgearbeiteten Entwurfes gestellt und im einen wie im anderen Falle begründet werden. Volksbegehren auf Aufhebung oder Abänderung eines Gesetzes können erst drei Jahre nach Inkrafttreten desselben gestellt werden.

Ein Volksbegehren muss zur Volksabstimmung gebracht werden, wenn es von mindestens 1000 Wählern, deren Stimmberechtigung beglaubigt ist, unterschriftlich gestellt wird.

Dem Landtage und der Regierung steht das Recht zu, neben den aus der Mitte des Volkes gemachten Vorschlägen gleichzeitig eigene Anträge auf Verwerfung des Vorschlages oder auf eine abgeänderte Fassung desselben zu stellen.

§ 35.

Die Wahlen und die Volksabstimmung finden allgemein, geheim und direkt statt.

Bei allen Volksabstimmungen über Erlass oder Aufhebung oder Abänderung eines Gesetzes oder eine teilweise oder vollständige Änderung der Verfassung entscheidet die absolute Mehrheit der Stimmen.

Fünftes Hauptstück

Der Landtag

§ 36

Der Landtag besteht aus 15 Mitgliedern. Die näheren Bestimmungen über die Einteilung der Abgeordneten, über die Wahlberechtigung und Wählbarkeit, über das Verfahren bei der Wahl und über die Prüfung der Wahlergebnisse enthält die Wahlordnung.

§ 37.

Der Landtag gibt sich selbst und dem Landesausschusse eine Geschäftsordnung.

§ 38.

Der Landtag wird auf 4 Jahre gewählt. Die Neuwahlen finden im ersten Viertel jedes Wahljahres statt. Mit dem Tage der Neuwahlen sind die bisherigen Landesabgeordneten ihres Volksauftrages enthoben. Der Landesausschuss hat die Geschäfte bis zu ihrer Übernahme durch den neugewählten Landtag weiterzuführen.

§ 39.

Der ordentliche Landtag versammelt sich zweimal im Jahre und zwar im Frühling und im Herbste. Er wird vom Landesfürsten einberufen, der allein befugt ist, ihn zu schliessen und aus erheblichen, der Versammlung jedes Mal mitzuteilenden Gründen auf drei Monate zu vertagen oder aufzulösen.

§ 40.

Der aussergewöhnliche Landtag wird einberufen:

  1. so oft es der Landesfürst zur Erledigung dringender Landesangelegenheiten nötig erachtet;
  2. wenn zwei Drittel der Mitglieder des Landtages darum ansuchen.

§ 41.

Nach erfolgter Auflösung des Landtages muss binnen vier Monaten eine neue Wahl angeordnet und die neuerwählten Landtagsmitglieder wieder einberufen werden.

Innerhalb derselben Frist hat auch die Wiedereinberufung des vertagten Landtages zu geschehen.

§ 42.

Ein ausserordentlicher Landtag ist jedesmal nötig bei einem Regierungswechsel, und muss derselbe innerhalb 30 Tage nach eingetretener Regierungsveränderung einberufen werden. Ist eine Auflösung vorhergegangen, so sind die Wahlen so zu beschleunigen, dass die Einberufung längstens auf den 60sten Tag nach eingetretener Regierungsänderung zu erfolgen hat.

§ 43.

Durch einen ausserordentlichen Landtag kann die regelmässige Reihenfolge der ordentlichen nicht unterbrochen werden.

§ 44.

Alle dem Landtage zukommenden Rechte können nur in der gesetzlich konstituierten Versammlung ausgeübt werden.

§ 45.

Die Landtagssitzungen sind öffentlich. In welchen Fällen ausnahmsweise vertrauliche Sitzungen abzuhalten sind, bestimmt die Geschäftsordnung.

§ 46.

Die einzelnen Beratungsgegenstände gelangen vor den Landtag

  1. als Vorlagen der Regierung,
  2. als Vorlagen der Landtagskommissionen,
  3. durch Anträge einzelner Mitglieder.

Solche selbständige Anträge, die sich nicht auf eine Vorlage der Regierung oder einer Kommission beziehen, müssen dem Vorsitzenden des Landtages schriftlich überreicht werden. Die weitere Behandlung solcher Anträge regelt die Geschäftsordnung.

§ 47.

Anträge, die ausserhalb des Geschäftskreises des Landtags liegen, sind vom Vorsitzenden des Landtages von der Beratung auszuschliessen.

§ 48.

Der Landtag kann die Beiziehung von Vertretern der Behörden und Ämtern oder von Sachverständigen zu den Sitzungen fallweise beschliessen.

§ 49.

Zu einem gültigen Beschlusse des Landtages ist die Anwesenheit von mindestens acht Landtagsabgeordneten und die absolute Stimmenmehrheit der Anwesenden notwendig.

Der Vorsitzende übt sein Stimmrecht wie jeder andere Landtagsabgeordnete aus.

Bei Stimmengleichheit gilt der Antrag als abgelehnt.

§ 50.

Die Mitglieder des Landtages stimmen einzig nach freier Überzeugung.

Sie können wegen der in Ausübung ihres Berufes geschehenen Abstimmungen niemals von einer Strafbehörde zur Verantwortung gezogen werden, für Äusserungen im Landtage und Landesausschusse nur mit Zustimmung dieser Vertretungskörper.

§ 51.

Die Mitglieder des Landtages erhalten eine angemessene Entschädigung aus der Landeskasse.

§ 52.

Der Landtag ist das gesetzmässige Organ der Gesamtheit der Landesangehörigen und als solches berufen, deren Rechte nach den Bestimmungen der Verfassungsurkunde geltend zu machen und das allgemeine Wohl des Fürsten und des Landes mit treuer Anhänglichkeit an die Grundsätze der Verfassung möglichst zu befördern.

§ 53.

Die Wirksamkeit des Landtages hat sich vorzugsweise auf folgende Gegenstände zu erstrecken:

  1. auf die verfassungsmässige Mitwirkung zur Gesetzgebung;
  2. auf die Steuerbewilligung;
  3. auf das Recht der Anträge und Beschwerden in Beziehung auf die Staatsverwaltung überhaupt, sowie auf die einzelnen Zweige, endlich auf das Recht des Antrages auf Anklage wegen Verfassungs- und Gesetzesverletzungen der verantwortlichen Staatsdiener.

§ 54.

Dem Landtage bleibt jederzeit unbenommen, in Beziehung auf Mängel und Missbräuche, die sich in der Landesverwaltung oder Rechtspflege ergeben, oder die aus an ihn gerichteten Vorstellungen, Petitionen und Beschwerden von Einzelnen oder Korporationen hervorgehen, Vorstellungen und Beschwerden direkt an den Landesfürsten zu bringen, und auf deren Abstellung anzutragen. Dahin gehören auch die Beschwerden gegen Staatsdiener wegen Verletzung der Verfassung, Veruntreuung öffentlicher Gelder, Erpressung, Bestechung oder gröbliche Hintansetzung ihrer Amtspflichten, die der Landtag unmittelbar an den Landesfürsten bringen kann. Die erfolgte Abstellung der Beschwerden oder das Ergebnis der Untersuchung wird jederzeit dem Landtage oder dem Ausschusse eröffnet werden.

§ 55.

Ohne Verwilligung des Landtages kann keine direkte oder indirekte Steuer noch irgend eine sonstige Landesabgabe oder allgemeine Leistung, welchen Namen sie haben möge, ausgeschrieben und erhoben werden. Die erteilte Verwilligung ist bei dem Steuerausschreiben ausdrücklich zu erwähnen.

Auch die Art der Umlegung und Verteilung aller öffentlichen Abgaben und Leistungen auf Personen und Gegenstände, sowie die Erhebungsweise erfordern die Beistimmung des Landtages.

Abgaben und Leistungen, welche zur Bestreitung anerkannter und genehmigter Auslagen des Staatshaushaltes erforderlich und dabei genüglich ausgewiesen sind, dürfen nicht verweigert werden.

§ 56.

Die Steuerbewilligung erfolgt in der Regel von einem ordentlichen Landtage zum andern.

§ 57.

In Beziehung auf die Landes-Finanzverwaltung ist dem Landtage für die nächstfolgende Finanzperiode ein Voranschlag über sämtliche Einnahmen und Ausgaben mit möglichster Vollständigkeit zur Prüfung, Beurteilung und Beistimmung zu übergeben, mit welchem der Antrag auf die zu erhebenden Abgaben zu verbinden ist. Bezüglich der vergangenen Finanzperiode ist eine genaue Nachweisung über die nach Massgabe des Voranschlages geschehene Verwendung der bewilligten und erhobenen Ausgaben von der Regierung mitzuteilen, vorbehaltlich der nachträglichen Genehmigung von gerechtfertigten und der Verantwortlichkeit der Regierung bei nicht gerechtfertigten Überschreitungen.

§ 58.

Der Landtag hat in Übereinstimmung mit dem Landesfürsten über die Aktiven der Landeskasse zu verfügen.

§ 59.

Der Landtag ist berechtigt, zur Deckung ausserordentlicher Bedürfnisse die Aufnahme von Anlehen [!] auf die Landeskasse zu beschliessen und ohne seine Zustimmung darf kein Darlehen für das Land kontrahiert werden.

§ 60.

Die Gehalts- und Pensionsetats, insoferne die Gehalte und Pensionen ganz oder teilweise aus der Landeskasse gezahlt werden, sollen dem Landtage zur Zustimmung mitgeteilt werden.

Die Pensionsansprüche der Beamten überhaupt sind durch ein besonderes Gesetz zu normieren.

§ 61

Alle Vereinbarungen mit kirchlichen Behörden sind dem Landtage vorzulegen, sofern sie in das [!] Bereich der Gesetzgebung eingreifen.

Sechstes Hauptstück

Der Landesausschuss

§ 62.

Solange der Landtag nicht versammelt ist, besteht als Stellvertreter desselben ein Ausschuss für diejenigen Geschäfte, welche der Mitwirkung der Landesvertretung bedürfen.

§ 63.

Der Landesausschuss besteht aus dem Präsidenten und zwei anderen Mitgliedern des Landtages, von denen das eine der oberen Landschaft und das andere dem Unterlande anzugehören hat. In Verhinderung des Präsidenten tritt der Vizepräsident in dessen Verrichtungen und die beiden Ausschussmitglieder werden in einem solchen Falle ebenfalls durch Stellvertreter, von welchen der eine aus der oberen, der andere aus der unteren Landschaft zu entnehmen ist, ersetzt.

§ 64.

Die Ausschussmitglieder und deren Stellvertreter werden von sämtlichen Abgeordneten aus ihrer Mitte gewählt.

§ 65.

Der Ausschuss ist berechtiget und verpflichtet:

  1. darauf zu sehen, dass die Verfassung aufrecht erhalten, die Landtagserledigungen vollzogen und der Landtag bei vorausgegangener Auflösung oder Vertagung rechtzeitig wieder einberufen werde;
  2. die Landeskassenrechnung zu prüfen und den Rechnungsbescheid zur Vorlage an und zur Beschlussfassung durch den Landtag zu entwerfen;
  3. die auf die Landeskasse mit Beziehung auf einen vorausgegangenen Landtagsbeschluss auszustellenden Schuld- und Hypothekenverschreibungen mit zu unterzeichnen;
  4. die von dem Landtage erhaltenen speziellen Aufträge zur Vorbereitung künftiger Landtagsverhandlungen in Händen zu nehmen;
  5. in dringenden Fällen Anzeige an den Landesfürsten zu erstatten und bei Bedrohung und Verletzung verfassungsmässiger Rechte Vorstellungen, Verwahrungen und Beschwerden zu erheben und
  6. nach Erfordernis der Umstände die Einberufung eines ausserordentlichen Landtages zu beantragen, welcher nicht verweigert werden wird, wenn der Dringlichkeitsgrund nachgewiesen ist. [7]

§ 66.

Der Ausschuss kann keine bleibende Verbindlichkeit für das Land eingehen und ist dem Landtage für seine Geschäftsführung verantwortlich.

§ 67.

Der Ausschuss hat sich zur Besorgung der ihm obliegenden Geschäfte alljährlich im Monate August am Sitze der Regierung zu versammeln.

§ 68.

Zur Gültigkeit der Beschlüsse des Ausschusses ist dessen Vollzähligkeit erforderlich.

§ 69.

Die Verrichtungen des Ausschusses hören mit der Eröffnung des nächsten Landtages auf und werden nach einer blossen Vertagung desselben oder nach Beendigung eines ausserordentlichen Landtages wieder fortgesetzt.

§ 70.

Die Mitglieder des Ausschusses beziehen während ihrer Sitzung ohne Unterschied die nämlichen Diäten, welche für die Landtagsabgeordneten festgesetzt sind.

Siebentes Hauptstück

Von der Regierung und sonstigen Staatsbehörden

§ 71.

Die Regierung besteht aus dem Landesverweser als Vorsitzendem, zwei Regierungsräten und zwei Stellvertretern.

Der Landesverweser wird vom Fürsten ernannt, falls er Ausländer ist im Einvernehmen mit dem Landtage.

Die zwei Regierungsräte und ihre zwei Stellvertreter werden vom Landtage aus der Mitte der stimmberechtigten Bevölkerung auf die Dauer einer Landtagsperiode gewählt. Ein Regierungsrat und ein Stellvertreter sind aus der Bevölkerung der oberen Landschaft, ein Regierungsrat und ein Stellvertreter aus der unteren Landschaft zu entnehmen.

Ihre Wahl bedarf der Bestätigung des Landesfürsten. [8]

§ 72

Alle Gesetze und Verordnungen, alle Erlässe, welche vom Fürsten oder einer Regentschaft ausgehen, bedürfen zu ihrer Gültigkeit der Gegenzeichnung des Landesverwesers oder seines Stellvertreters.

§ 73.

Der Chef der Regierung gibt dem Landtage bei jeder ordentlichen Sitzung genaue Nachweisung über die Einnahmen und Ausgaben des Landes und legt die von der Regierung entworfenen Voranschläge zu den Einnahmen und Ausgaben für das nächstfolgende Jahr vor. Diese Ausgaben haben, da der Fürst von den Landeseinnahmen nichts für sich behält, nur das in sich zu begreifen, was zur inneren Verwaltung und rücksichtlich der äusseren Verhältnisse erforderlich ist. Der Landeschef stellt endlich die entsprechenden Anträge über die Art der Deckung der sich herausstellenden Abgänge.

§ 74.

Die Regierung ist berechtigt, über unvorhergesehene, in den Etat nicht aufgenommene dringende Ausgaben zu verfügen, vorbehaltlich der Verantwortung der betreffenden Staatsbehörde, die verpflichtet ist, in der nächsten Landtagssitzung über die Notwendigkeit dieser Ausgaben sowohl, als deren entsprechende Verwendung Vorlage zu machen und die nachträgliche Genehmigung einzuholen.

§ 75.

Etwaige Ersparnisse in einzelnen Etatpositionen dürfen nicht zur Deckung des Mehraufwandes in anderen Positionen verwendet werden.

§ 76.

Die Gerichtsbarkeit wird im Auftrag des Fürsten verwaltet.

§ 77.

Die Gerichte sind innerhalb der Grenzen ihrer gesetzlichen Wirksamkeit in dem Materiellen der Justizerteilung und in dem gerichtlichen Verfahren unabhängig von aller Einwirkung durch die Regierung.

§ 78.

Der Fiskus und die fürstlichen Domänialbehörden haben vor den ordentlichen Gerichten Recht zu geben und zu nehmen.

§ 79.

Neben den ordentlichen Gerichten sind auch Kompromiss- und Schiedsgerichte zur Ausübung der richterlichen Funktionen in Zivilsachen berechtigt. Die Bestellung und Wahl derselben, sowie das Verfahren hängt von dem Willen der Parteien ab.

§ 80.

Sämtliche Gerichte haben ihren Entscheidungen und Urteilen Gründe beizufügen.

§ 81.

Die nähere Organisation des Gerichtswesens und des Instanzenzuges bleibt einem besonderen Gesetze vorbehalten.

§ 82.

Die Organisation der Regierung sowie die Amtsinstruktion für die Landesbehörden wird im Verordnungswege durch den Landesfürsten normiert.

§ 83.

Der Landesschulrat ist mit der Leitung des Schulwesens im Fürstentume betraut.

Seine Zusammensetzung und sein Wirkungskreis bestimmt das Gesetz vom ... [9]

§ 84.

Alle Mitglieder der Behörden, alle Beamten und Angestellten sind für ihre Amtsführung persönlich verantwortlich.

Achtes Hauptstück

Von der Gewähr der Verfassung

§ 85.

Die gegenwärtige Verfassungsurkunde ist nach ihrer Verkündigung als Landesgrundgesetz für alle Landesangehörigen verbindlich.

§ 86.

Alle Gesetze und Verordnungen, welche mit einer ausdrücklichen Bestimmung der gegenwärtigen Verfassungsurkunde im Widerspruche stehen, sind hiemit aufgehoben.

Diejenigen gesetzlichen Bestimmungen, welche mit dem Geiste dieses Grundgesetzes aber nicht im Einklange sind, werden einer verfassungsmässigen Revision unterzogen.

§ 87.

An diesem Landesgrundgesetze darf ohne Übereinstimmung der Regierung und des Landtages bezw. des Volkes nichts geändert werden.

Anträge auf Abänderungen oder Erläuterungen dieses Grundgesetzes, welche sowohl von der Regierung als auch von dem Landtage bezw. dem Volke gestellt werden können, erfordern auf Seite des Landtages Stimmeinhelligkeit der auf dem Landtage anwesenden Mitglieder, oder eine auf zwei nacheinander folgenden ordentlichen Landtagssitzungen sich aussprechende Stimmenmehrheit von drei Vierteilen derselben. In gleicher Weise sind auch entsprechende Anträge von Seite der Regierung zu behandeln. [10]

Allfällig einzufügendes Sechstes Hauptstück [11]

Der Wirtschaftsrat

I.

Alle Angelegenheiten, welche nicht rein politischer, sondern politisch wirtschaftlicher oder rein wirtschaftlicher Natur sind, können über Antrag der Regierung auf Anordnung des Fürsten, über Beschluss des Landtages oder des Volkes an den Wirtschaftsrat gewiesen werden; in diesem Falle tritt an Stelle des Landtages die Kompetenz des Wirtschaftsrates ein.

II.

Der Wirtschaftsrat besteht aus 15 Mitgliedern, von welchen 9 Mitglieder von dem landwirtschaftlichen, 2 Mitglieder vom Handels- und Gewerbestande, 2 Mitglieder vom Arbeiterstande, 2 Mitglieder von den Beamten, Lehrern und Geistlichen gewählt werden. Die Mandatsdauer dieser Mitglieder beträgt ein Jahr. Die Neuwahl des Wirtschaftsrates findet in der Zeit vom 26. April bis 6. Mai statt. Die Bestimmungen betr. den Vorsitz und die Geschäftsordnung sind analog jenen des Landtages. [12]

______________

[1] LI LA V 003/0890. Eingangsstempel der Gesandtschaft Wien: 6.IV.20, Nr. 269/1. Handschriftliche Betreffangabe der Gesandtschaft Wien: "Entwürfe Karl". Anstreichungen und Randbemerkungen von Prinz Eduard von Liechtenstein. Das Dokument wurde von Prinz Karl an Prinz Eduard übergeben anlässlich dessen Anwesenheit in Vaduz für die Sitzung der Währungskommission vom 1.4.1920 (LI LA LTA 1920/L31). Ende Juni 1920 übermittelte Prinz Karl seinen Verfassungsentwurf auch dem Landtag (LI LA RE 1920/2948 ad 1897, Prinz Karl an Landtag, 28.6.1920). Landtagspräsident Friedrich Walser bestätigte den Eingang mit Schreiben vom 2.7.1920 (LI LA RE 1920/2992 ad 1897; LI LA LTA 1920/L16), zu einer Behandlung des Entwurfs im Landtag kam es jedoch nicht. Der Verfassungsentwurf von Prinz Karl beruht zu weiten Teilen auf der konstitutionellen Verfassung vom 26.9.1862 (LI LA SgRV). Die Volkspartei, die eine vollständig neue Verfassung forderte, lehnte den Entwurf daher entschieden ab. Wilhelm Beck soll bereits am 18.4.1920 in einer Versammlung in Triesen gesagt haben: "Quod non! (d.h. 'gibts nicht!') Nicht verhandelt werde darüber." (L.Vo., Nr. 32, 21.4.1920, S. 1 ("Die Fürchtemacher")). Zur Haltung der Volkspartei vgl. auch O.N., Nr. 71, 4.9.1920, S. 1 ("Vom Tage"). Positiver beurteilt wurde der Entwurf durch Prinz Eduard und Fürst Johann II. (vgl. LI LA V 003/0890, Prinz Eduard an Prinz Karl, 6.4.1920) sowie durch die Bürgerpartei (vgl. L.Vo., Nr. 72, 8.9.1920, S. 1).
Vom Verfassungsentwurf existieren zwei Fassungen. Drei weitere Exemplare der vorliegenden Fassung (im Folgenden: Fassung 1) in LI LA RE 1921/0963. Ebd. finden sich zudem zwei Exemplare einer überarbeiteten Fassung (im Folgenden: Fassung 2); ein Entwurf dieser Fassung unter LI LA PA 013/013/4. Die Unterschiede zwischen den beiden Fassungen sind hauptsächlich redaktioneller Art (Zusammenziehungen und Umstellungen von Paragraphen). In den nachstehenden Anmerkungen wird daher lediglich auf wichtige inhaltliche Neuerungen in Fassung 2 hingewiesen.
[2] Die überlieferten Exemplare des Verfassungsentwurfs sind alle undatiert. Prinz Karl dürfte den Entwurf spätestens Mitte März 1920 abgeschlossen haben. In Kreisen der Volkspartei verlautete am 12.3.1920, Prinz Karl habe einen Verfassungsentwurf gemacht (LI LA V 002/0461, Telegramm Volkspartei, gez. Anton Walser, an Emil Beck, liechtensteinischer Geschäftsträger in Bern). Prinz Karl selbst sagte in der Landtagssitzung vom 20.3.1920, er habe einen Verfassungsentwurf erstellt und sei bereit, ihn dem Landtag vorzulegen (LI LA LTA 1920/S04).
[3] In Fassung 2 ist hier folgender Paragraph eingefügt: "Die Bestimmungen des allgemeinen bürgerlichen Gesetzbuches über die Ehegesetzgebung bleiben aufrecht" (§ 8).
[4] Fassung 2 hält zusätzlich fest, dass die Wahlen nach dem "System des Verhältniswahlrechtes" zu erfolgen haben (§ 14).
[5] Ganzer Paragraph gestrichen in Fassung 2.
[6] Fassung 2 gewährleistet zudem das Versammlungsrecht (§ 12).
[7] Absatz f) gestrichen in Fassung 2 (§ 68).
[8] In Fassung 2 folgt zudem die Bestimmung: "Die Regierungsmitglieder dürfen nicht Mitglieder des Landtages sein" (§ 74).
[9] Kein Gesetz angegeben.
[10] In Fassung 2 folgt zudem die Bestimmung: "Bei der Volksabstimmung ist eine Zweidrittelmehrheit erforderlich" (§ 90).
[11] Nachtrag auf einem losen Blatt.
[12] In Fassung 2 eine ausführlichere Fassung dieses Paragraphen: "Der Wirtschaftsrat besteht aus 15 Mitgliedern, von welchen 9 Mitglieder vom Bauernstande, 2 Mitglieder vom Handels- und Gewerbestande, 2 Mitglieder vom Arbeiterstande, 2 Mitglieder von den freien Berufen (Beamte, Lehrer, Geistliche u.s.w.) gewählt werden. Die Mandatsdauer dieser Mitglieder beträgt 4 Jahre. Die Neuwahl des Wirtschaftsrates findet in der Zeit vom 26. April bis 6. Mai statt. Die Bestimmungen betr. den Vorsitz und die Geschäftsordnung sind analog jenen des Landtages. Die Wahlen finden auf Grund eines Berufskatasters statt, in welchen sich jeder stimmberechtigte Bürger nach freier Wahl einzutragen hat; an diese Eintragung bleibt er durch 4 Jahre beruflich gebunden; er darf sich nur in einen Berufskataster eintragen. Mitgliedschaft des Landtages und Wirtschaftsrates schliessen sich aus." (§ 64)