Verfassungsentwurf von Wilhelm Beck (1)


Beitrag in den „Oberrheinischen Nachrichten", verfasst von Wilhelm Beck [1]

12.6.1920

Zur Verfassungsrevision

Die Peerfrage [2] und die Neubestellung unserer Regierung, die immer dringender wird, hat das Volksverlangen nach einer neuen, dem demokratischen Empfinden der Zeit entsprechenden Verfassung mit vermehrter Stärke aufleben lassen. Der Vorwurf, es gehe nicht vorwärts, soll durch die mit heutiger Nummer beginnende Veröffentlichung des von Dr. [Wilhelm] Beck ausgearbeiteten Verfassungsentwurfes widerlegt werden, wie nicht minder, von Volksparteiseite werde nichts getan.

Zu den einzelnen Stadien der Verfassungskrise ist übersichtshalber folgendes zu sagen. Nach dem Sturze der alten Regierung am 7. November 1918 verkündeten Präsident [Friedrich] Walser und Dr. [Martin] Ritter am 12. November die Einführung einer neuen Verfassung mit bestimmten Grundsätzen. Inzwischen kam Durchlaucht Prinz Karl ins Land und erklärte anfangs Dezember 1919, dass seine Mission in etwa sechs Wochen, nachdem eine auch vom Landesfürsten gewünschte neue Verfassung eingeführt, erfüllt sei. Hieran anschliessend wurde Dr. W. Beck mit der Ausarbeitung eines Verfassungsentwurfes beauftragt, den er Mitte Januar 1919 überreichte. Dieser vor nun 1 ½ Jahren überreichte und seither verschollene Entwurf gelangt nachstehend zur Veröffentlichung.

Da dieser Entwurf nicht genehm war, arbeitete Durchlaucht Prinz Karl eine auf Grund einer Einigungsbesprechung im Februar oder März 1919 und deren Ergebnisse beruhende Novelle zur alten Verfassung aus, die jedoch mit Rücksicht auf den Wunsch nach einer vollen und ganzen Revision der Verfassung nicht weiter in Behandlung kam. [3]

Es wurde nun Dr. [Emil] Beck in Bern mit der Ausarbeitung eines Verfassungsentwurfes betraut. Diese steht bis heute, also mehr als 5/4 Jahre, aus. Im August 1919 wurde die Währungsreform dringend. Damals erklärte Dr. Beck, dass momentan die Reform der Währung dringender sei als die der Verfassung und es solle daher erstere Arbeit in erster Linie und die Verfassungsarbeiten nebenher durchgeführt werden. Die Währungsreformbestrebung verlief im Sand. Neuerdings wurde die neue Verfassung mehrmals im Landtag und in den Kommissionen verlangt. [4] Auf dies hin wies Durchlaucht Prinz Karl vor Ostern 1920 einen von ihm ausgearbeiteten Entwurf vor. [5] Seither ist bekanntlich die Verfassungsfrage durch die Landesverwesermache in verschärfter Form aufgerollt. Die Landesverweserfrage ist in gewissem Sinne eine hervorragende Verfassungsfrage.

Zum Entwurfe selbst sei nur kurz bemerkt, dass er nicht als etwas Vollkommenes gelten soll, wohl aber als Grundlage der Diskussion. Seit seiner Einreichung hat die Zeit Fortschritte gemacht. Manche Korrekturen sind weggefallen, da wir den Entwurf als solchen veröffentlichen. Es konnten auch die Artikel über den Landesausschuss, da dieser nicht mehr notwendig ist, entfallen, und dessen Funktionen der ständigen Landtagskommission übertragen werden. Im übrigen enthalten wir uns vorerst weiterer Ausführungen.

Was aber mit und durch die Publikation bewiesen werden soll, ist der Umstand, dass bei gutem Willen die Verfassungsreform schon längst hätte durchgeführt werden können. Unsere Leser bitten wir, diesen Entwurf eingehend zu studieren; er knüpft unter Berücksichtigung der modernen Volksforderungen an die alte Verfassung an.

Verfassungs-Entwurf des Fürstentums Liechtenstein

von Mitte Januar 1919

I. Hauptstück.

Allgemeine Bestimmungen.

Art. 1. Das Fürstentum Liechtenstein bildet in seiner Vereinigung der beiden Landschaften Vaduz und Schellenberg eine unteilbare, unveräusserliche, [6] souveräne demokratische Monarchie auf parlamentarischer Grundlage. 

Die Landschaft Vaduz umfasst die Gemeinden Vaduz, Schaan, Planken Triesen, Triesenberg und Balzers; die Landschaft Schellenberg die Gemeinden Schellenberg, Eschen, Gamprin, Ruggell und Mauren.

Die Grenzen des Staatsgebietes dürfen nur durch ein Gesetz geändert werden.

Vaduz ist der Hauptort des Landes, Sitz der Landesbehörden und der ordentliche Gerichtsstand des Landes und der fürstlichen Domänialbehörden.

Art. 2. Das Staatswappen ist das des fürstlichen Hauses Liechtenstein und die Landesfarben sind blau und rot.

Die Staatssprache ist die deutsche.

Art. 3. Die Staatsgewalt beruht auf dem Landesfürsten und dem Volke und wird nach den Bestimmungen dieser Verfassung durch den Landesfürsten und die Volksvertretung ausgeübt.

II. Hauptstück. 

Die Staatsaufgaben.

Art. 4. Der Staat setzt sich zur Aufgabe die Förderung der gesamten Volkswohlfahrt, [7] die Schaffung und Wahrung des Rechts und Schutz der religiösen, wirtschaftlichen und sittlichen Volksinteressen.

Art. 5. Die Aufsicht, Leitung und Hebung des öffentlichen Unterrichtes ist Sache des Landes. [8] 

Der Staat sorgt für genügenden, obligatorischen, öffentlichen Unterricht unter seiner Leitung.

Der Religionsunterricht wird durch die kirchlichen Organe erteilt.

Die Freiheit des Privatunterrichtes ist unter Vorbehalt gesetzlicher Bestimmungen gewährleistet. [9]

Die oberste Leitung des Erziehungs- und Unterrichtswesens ist dem Landesschulrate, dessen Wahlort, Organisation und Aufgaben durch das Gesetz bestimmt sind, übertragen.

Art. 6. Das Land unterstützt das Bildungswesen, sorgt für Beschulung von Kindern, die wegen körperlicher oder geistiger Gebrechen die Volksschule nicht besuchen können und leistet hiefür geeignete Beihilfen. [10] 

Es beteiligt sich an der Sorge für die Erziehung verwahrloster Kinder, sorgt für die Erziehung jugendlicher Verbrecher und beteiligt sich allenfalls an Besserungsanstalten. [11]  

Art. 7. Der Staat unterstützt und fördert das Fortbildungs- und Realschulwesen.

Er unterstützt und fördert das hauswirtschaftliche, landwirtschaftliche und gewerbliche Unterrichts- und Bildungswesen. 

Um den Besuch von höheren Schulen durch weniger bemittelte, aber intelligente Schüler zu erleichtern, werden angemessene Stipendien erteilt. [12]

Art. 8. Das Land pflegt das öffentliche Gesundheitswesen, unterstützt die öffentliche Krankenpflege und beteiligt sich an der Gründung und dem Betriebe eines Krankenhauses. [13]

Die Gesetzgebung sorgt für die Besserung von Trinkern, arbeitsscheuen und liederlichen Personen. [14]

Art. 9. Das Land schützt die Arbeitskraft, insbesondere diejenige von Frauen und Kindern, die in Gewerbe und Industrie beschäftigt sind.

Der Sonntag und die staatlich anerkannten Feiertage sind öffentliche Ruhetage. [15]

Art. 10. Zur Hebung der Erwerbsfähigkeit des Volkes und zur Pflege seiner wirtschaftlichen Interessen fördert und unterstützt der Staat Landwirtschaft, Alpwirtschaft, Gewerbe und Industrie, insbesondere auch durch Förderung der Versicherung gegen Schaden, welche den Arbeiter und den Landwirt bedrohen und Anordnung von Massregeln zur Bekämpfung solcher Schaden; ferner durch Unterstützung der Bestrebungen zur Einführung neuer Verdienstquellen und moderner Verkehrsmittel und zur Verbesserung schon bestehender. [16]

Das Land unterstützt die Rüfeverbauungen, Aufforstungen, Güterzusammenlegungen und Entsumpfungen. [17]

Art. 11. Dem Staate steht das Hoheitsrecht über die Gewässer zu.

Die Benützung derselben soll auf gesetzlichem Wege geregelt und gefördert werden und es kann hiebei die elektrische Weiterleitung von Wasserkräften unter Vorbehalt allfälliger Privatrechte als Sache des Landes erklärt werden. [18]

Das Land übt die Hoheit über Jagd und Fischerei aus und sorgt für die den landwirtschaftlichen Interessen entsprechenden Gesetze.

Art. 11. a). Das Land übt die Hoheit über das Münzwesen aus, sorgt für eine gerechte Steuergesetzgebung.

Art. 12. Das öffentliche Armenwesen ist Sache der Gemeinden nach Massgabe gesetzlicher Bestimmungen.

Die Gemeinden können hiefür geeignete Beihilfen des Landes in Anspruch nehmen, insbesondere auch zu zweckmässiger Versorgung von Waisen, Geisteskranken, Unheilbaren und Alterschwachen. [19]

Der Staat unterstützt und fördert die Errichtung und den Betrieb einer Alters- und Invaliden- und einer Brandschadenversicherung.

Art. 12. a). Das Land sorgt für eine gerechte Steuergesetzgebung, die insbesondere Vermögen und Einkommen zu progressiver Besteuerung unter Berücksichtigung des Existenzminimums heranzieht.

Art. 13. Das Land sorgt für ein rasches, das materielle Recht schützendes Prozess- und Zwangsvollstreckungsverfahren. [20]

In gleicher Weise sorgt das Land für ein rasches und hinreichendes Verwaltungsrechtspflege- und Exekutionsverfahren.

(Fortsetzung folgt)

______________

[1] O.N., Nr. 47, 12.6.1920, S. 1 („Zur Verfassungsrevision", „Verfassungs-Entwurf des Fürstentums Liechtenstein"). Fortsetzung des Abdruckes in: O.N., Nr. 48, 16.6.1920, S. 1; O.N., Nr. 49, 19.6.1920, S. 1; O.N., Nr. 50, 23.6.1920, S. 1-2; O.N., Nr. 51, 26.6.1920, S. 1; O.N., Nr. 52, 30.6.1920, S. 2. Der Verfassungsentwurf datiert vom Januar 1919.
[2] Zentrales politisches Thema war seit Januar 1920 die umstrittene Berufung von Dr. Josef Peer zum Landesverweser.
[3] Nicht aufgefunden.
[4] Z.B. Anfrage des Landtagsabgeordneten Gustav Schädler vom 20.3.1920 betreffend die Verfassungsrevision (LI LA LTA 1920/S04).
[5] LI LA V 003/0890.
[6] Vgl. § 1 der liechtensteinischen Verfassung vom 26.9.1862.
[7] Vgl. Art. 1 der Verfassung des Kantons St. Gallen vom 16.11.1890.
[8] Vgl. Art. 2 Verfassung St. Gallen 1890.
[9] Vgl. Art. 3 Abs. 4 Verfassung St. Gallen 1890.
[10] Vgl. Art. 6 Abs. 3 Verfassung St. Gallen 1890.
[11] Vgl. Art. 6 Abs. 5 Verfassung St. Gallen 1890.
[12] Vgl. Art. 10 Verfassung St. Gallen 1890.
[13] Vgl. Art. 11 Abs. 1 und 2 Verfassung St. Gallen 1890.
[14] Vgl. Art. 12 Verfassung St. Gallen 1890.
[15] Vgl. Art. 13 Verfassung St. Gallen 1890.
[16] Vgl. Art. 15 Verfassung St. Gallen 1890.
[17] Vgl. Art. 16 Abs. 1 Verfassung St. Gallen 1890.
[18] Vgl. Art. 18 Verfassung St. Gallen 1890.
[19] Vgl. Art. 14 Verfassung St. Gallen 1890.
[20] Vgl. Art. 20 Verfassung St. Gallen 1890.