Gedicht über die liechtensteinischen Neutralität im Ersten Weltkrieg


Beitrag im „Liechtensteiner Volksblatt" [1]

6.2.1915

… und Liechtenstein bleibt neutral!

Die Engländer:

Erschütternd war die grosse Kunde
Als Mister Grey mit vollem Munde
Sprach in des Unterhauses Saal:
Und doch bleibt Liechtenstein neutral. [2]

Da gab’s ein Jubel ohnegleichen,
Ganz England brüllt zum Steinerweichen:
Der Sieg ist unser allemal,
Denn Liechtenstein, das bleibt neutral.

Verzückung krampft die dürren Leiber,
Der sonst so wilden Wahlrechtsweiber: [3]
Uas [!] sein das Land doch ideal –
O Liechtenstein, du bleibst neutral.

Die Deutschen:

Die Angst verschlägt uns fast den Ton,
Vor dieser Massensuggestion,
Die Zukunft Österreich’s macht uns Qual
Denn Liechtenstein, das bleibt neutral.

O Schaan-Vaduz, Vaduz und Schaan!
Warum zerstörst du unsern Wahn,
Der Krieg ist unnütz jetzt zumal,
Wo Liechtenstein nun bleibt neutral.

So wird umschmeichelt und mit Ruhm
Bedeckt das grosse Ferschtentum: [4]
Der Weltbrand ist ihm ganz egal,
Denn Liechtenstein – es bleibt neutral.

Ob zwar die Welt in Fugen kracht,
Dass Liechtenstein so was gemacht:
Kannst Vaterland doch ruhig sein
Wie das neutrale Liechtenstein.

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[1] L.Vo., Nr. 6, 6.2.1915, S. 3. Das Gedicht erschien erstmals Ende 1914 in der "Konstanzer Zeitung". Es wurde auch abgedruckt in: Gustav Matt (Hg.), Jahrbuch des Liechtensteiner Vereins von St. Gallen und Umgebung 1919, Bregenz o.J., S. 13.
[2] Nach einer Meldung in der Zeitung "The Times" hatte der britische Aussenminister Sir Edward Grey im Unterhaus auf Anfrage mitgeteilt, dass er durch den amerikanischen Botschafter informiert worden sei, dass das souveräne Fürstentum Liechtenstein sich selbst in den gegenwärtigen Feindseligkeiten als neutral betrachte (The Times, Nr. 47'000, 18.11.1914, S. 12 in der Akte LI LA RE 1919/0589; maschinenschriftliche Abschriften unter LI LA V 002/0168/03-04 und LI LA V 003/0040/2.).
[3] Anspielung auf die sogenannten "Suffragetten", die sich in Grossbritannien und den Vereinigten Staaten für die Einführung des allgemeinen Frauenwahlrechts einsetzten.
[4] "Ferscht": Deutsche Mundart für "Fürst".