Das "Liechtensteiner Volksblatt" blickt zurück auf das Jahr 1914


Artikel im "Liechtensteiner Volksblatt" [1]

2.1.1915

Das Jahr 1914

wird in den Annalen der Weltgeschichte rot angestrichen und von den Zeitgenossen, die seine ausserordentlichen Geschehnisse gesehen und miterlebt haben, niemals vergessen werden. Ein furchtbarer Krieg, wie ihn die Geschichte der Vergangenheit nicht aufzuweisen hat und wie ihn die Völker der Erde niemals gesehen haben, ist über Europa hereingebrochen und hat sich, nachdem auch Länder und Völker der übrigen Weltteile Asien, Afrika, Australien und Amerika in denselben verwickelt wurden, zum Weltkriege ausgewachsen. Auf den blutgetränkten Schlachtfeldern Belgiens, Frankreichs, Polens und Serbiens stehen den verbündeten und bis heute siegreichen Armeen des deutschen Reiches und Österreich-Ungarns die Millionenheere Russlands, Frankreichs, Englands, Belgiens und Serbiens in mörderischem Kampfe gegenüber und die Ruinen unzähliger Wohnstätten, verwüsteter Ländereien, Dörfer und Städte bezeichnen den Weg, den diese Heere genommen haben. Die Opfer an Menschenleben und zerstörten Existenzen, die dieses furchtbare Völkerringen fordert, zählen nach Hunderttausenden und das Leid, dass sich über Städte, Dörfer und Familien ausbreitet, ist unermesslich. Fünf Monate dauert nun schon ohne Unterbrechung der mörderische Kampf zu Land und zur See und noch ist kein Ende desselben abzusehen. – Mitten in diesem Völkergewirre, in diesem Chaos sich widerstreitender Interessen steht unser kleines Ländchen wie ein Sandkorn im Weltall, von den Greueln des Krieges noch unberührt, verschont von den furchtbaren Opfern an Gut und Blut, welche die umliegenden Völker belasten und dankbar erheben wir unsern Blick zum allmächtigen Herrscher der Welten, der uns in unserer glücklichen Vereinsamung vor dieser furchtbaren Völkergeissel bis heute gnädig bewahrt hat.

Wohl haben auch wir an den wirtschaftlichen Folgen des Krieges schwer zu tragen. Die allgemeine Stockung von Handel und Gewerbe und die daraus folgende Erwerbslosigkeit, sowie die fortwährende Steigerung der Lebensmittelpreise drücken schwer auf unsere Bevölkerung, zudem sind Nachwehen aus dem Seuchenjahre 1913 geeignet, manchem Bauersmanne schwere Sorgen zu bereiten. [2] Die Fruchtbarkeit des vergangenen Jahres war auch nicht besonders günstig und abgesehen vom Viehfutter, welches reichlich gewachsen ist und vom Obstsegen, ist die Ernte der übrigen Feldfrüchte kaum als mittelmässig zu bezeichnen. Demgegenüber hat die Ausfuhr von Vieh, wenn auch zu gedrückten Preisen, sich gebessert und die Baumwollfabriken lassen wieder die volle Zeit arbeiten, was als ein bedeutsamer Faktor gebucht werden muss. Um der Verdienstlosigkeit einigermassen zu begegnen, wurden von der fürstl. Regierung und dem Landtage die Ausführung von Notstandsarbeiten beschlossen und zu diesem Zwecke Strassenbauten, Rüfeverbauungen und Rheinschutzarbeiten, soweit die Kräfte des Landes reichen, in Aussicht genommen. [3] Ob diese Notbehelfe ausreichen, bis wieder bessere Zeiten kommen, lässt sich jetzt noch nicht beurteilen und der Blick in die Zukunft bleibt immerhin sehr ernst. – So stehen wir denn an der Schwelle des neuen Jahres und unwillkürlich drängt sich die bange Frage auf: Was wird uns dieses Jahr bringen? Wird der Krieg fortdauern bis die Erschöpfung und das allgemeine Elend die Völker zum Nachgeben zwingt, oder wird es uns die Segnungen des Völkerfriedens und damit glückliche Tage und segensreiche Arbeit wiederbringen? Inzwischen aber gebietet uns weise Vorsicht, mit Lebensmitteln und Futtervorräten in Haus und Stall sparsam umzugehen, alles auch das Kleinste und Unbedeutendste auszunützen und den täglichen Verbrauch auf das Notwendigste einzuschränken, da bei längerer Fortdauer des Krieges eine weitere Steigerung der Lebensmittelpreise bevorsteht und der Fall eintreten könnte, dass gewisse Getreidesorten und Kolonialwaren selbst um gutes Geld nicht mehr erhältlich sind. Hoffen wir, dass die schwere Völkerprüfung bald vorübergehen und bessere Zeiten wieder einkehren werden. Das walte Gott!

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[1] L.Vo., Nr. 1, 2.1.1915, S. 1.
[2] 1913 hatte ein Ausbruch der Maul- und Klauenseuche den Viehhandel zum Erliegen gebracht.
[3] Der Landtag hatte am 14.12.1914 einen Kredit von 20'000 Kronen für Notstandsarbeiten und weitere Massnahmen sowie einen Kredit von 3000 Kronen zur Unterstützung notleidender Familien geschaffen (LI LA LTA 1914/S04/2).