Wilhelm Beck kommentiert den Gesetzentwurf über die allgemeine Landesverwaltungspflege (1)


Ausführungen von Wilhelm Beck in den „Oberrheinischen Nachrichten" [1]

12.4.1922

Bericht und Begründung zum Gesetzesentwurfe über die allgemeine Landesverwaltungspflege

(Von Dr. Beck)

I. Allgemeines

Die neue Verfassung [2] lässt den Geist des Rechtsstaates erkenne, d.h. nach einzelnen ihrer Bestimmungen (Art. 27, 90, 92 etc.) muss die gesamte Verwaltung nach Rechtsgrundsätzen geführt werden. Der Einzelne ist nicht nur ein der Verwaltungsbehörde Unterworfener, ihr Untertan, Objekt der Verwaltungsbehörde Unterworfener, ihr Untertan, Objekt der Verwaltungstätigkeit, sondern er ist Untertan des Gesetzes und hat zugleich derselben Verwaltung gegenüber subjektive Rechte und anerkannte rechtlich geschützte Interessen. An Stelle des Grundsatzes des Polizeistaates, dass der Untertan nur Pflichten, aber keine Rechte der Behörde gegenüber hat, welchen Geist noch manche ältere Gesetze und Verordnungen hierlands aufweisen, z.B. die in Österreich berüchtigte Verordnung vom 20. April 1854, [3] bei uns nachgeahmt durch Verordnung vom 9. Dezember 1858, [4] tritt der oben angedeutete Grundsatz des Rechtsstaates. Diese Verordnung ist mangels anderer Bestimmungen ein zweifelhafter Ersatz für vieles. Der Polizeistaat huldigte der Bevormundungs- und Glücklichmachungslehre im Staatsleben und gelangte in seiner oftmals gut, gar oft aber schlecht gemeinten Bestrebungen, zu den unglaublichsten Verschrobenheiten, weil jene Bestrebungen nicht Aufgabe des Staates sein können. Für den Untertan (unter den Behörden) hiess es bestenfalls, gehorche und mache deinen Schaden geltend! Vielfach galt nicht einmal das. – Vor der Polizeistaatsperiode, ungefähr bis um 1720 herum, konnte bei uns der Bürger seine Rechte gegenüber der Verwaltung auf dem Rechtswege geltend machen. Es ist an die Steuerprozesse zu erinnern, die in der Geschichte erwähnt werden.

Nach der neuen Verfassung (Art. 92) wird bestimmt, dass die Verwaltungsbehörden (Regierung) unter den Gesetzen stehen und Verwaltungstätigkeiten nur innert den Schranken der Gesetze vorgenommen werden dürfen, auch hinsichtlich des freien Ermessens (gesetzmässige Verwaltung). Einer der wichtigsten Punkte zur Durchführung des Grundsatzes des Rechtsstaates ist neben einer sorgfältigen Ausgestaltung der Gesetze in Bezug auf die subjektiven Rechte und Pflichten die Regelung des Verfahrens vor den Verwaltungsbehörden in einfachen Verwaltungssachen und Verwaltungsstrafsachen, die hierlands allerdings eine geringe Rolle spielen, weil die meisten sog. „politischen" Übertretungen durch das Landgericht abzuhandeln sind. – Bisher fand sich eine so umfassende Regelung des Verfahrens bei uns nicht. Die Verfahrensvorschriften sind ausser in der Verordnung vom 9. Dezember 1858 in den verschiedensten Gesetzen, meistens aber in den Verordnungen unübersichtlich enthalten. Die meisten Rechtsverhältnisse sind gar nicht geregelt und es musste und konnte die Behörde nach ihrem Ermessen und Gutdünken vorgehen. Beklagenswert für den Bürger ist es, dass weder die Verwaltungspraxis der Regierung noch die der weit weg in Wien befindlichen sogen. politischen Rekursinstanz eine wegleitende u. richtunggebende ist, wie sonst die Praxis von Verwaltungsinstanzen ähnlicher Art (vergl. z.B. statt vieler [Othmar] Müller Othm., St. Gallisches Verwaltungsrecht (Entscheidungen), mehrere Bände. [5] Österr. Verwaltungsgerichtshofentscheidungen, [6] [Fritz] Fleiner: Institutionen des Deutschen Verwaltungsrechtes, [7] [Rudolf Herrmann von] Herrnritt, Grundlehren des Verwaltungsrechtes [8] usw.). Eine der wichtigsten Forderungen des Rechtsstaates und mithin unserer Verwaltung neben der Schaffung eines Verwaltungsgerichtshofes (Art. 104) ist, dass gerade das Verfahren in Verwaltungssachen, einschliesslich Polizeistrafsachen usw. eine allgemeine, vom Wechsel der Personen in der Regierung unabhängige Regelung erfahre. Hierlands konnte man die gewiss eigentümliche Erscheinung beobachten, dass mit dem Wechsel eines Landesverwesers eine ganz andere, sehr von persönlicher Auffassung diktierte Praxis in Verwaltungssachen auftrat. An Stelle dieses mehr Persönlichen, anstatt einer Landesverweserverwaltung will der Entwurf eine mehr unveränderliche sachliche Ordnung, eine Landesverwaltung einführen und dem Bürger gleichzeitig an Stelle der fast einzig und allein bestehenden und vom Gutdünken der Oberbehörde abhängigen Aufsichtsbeschwerde in Verwaltungssachen, wie sie besonders in der Verordnung von 1858 vorgesehen, ein Recht auf Beschwerde geben, ihm einen öffentlich-rechtlichen Rechts- und Interessenschutzanspruch einräumen, der von der Gnade der oberen Verwaltungsbehörde unabhängig ist. Der Entwurf schaltet daher auch folgerichtig die leicht missbräuchliche Verwendung ausgesetzten Einbegleitungsberichte aus; die Oberbehörde soll unabhängig von solchen Berichten ihre Verwaltungsakte setzen.

Der Entwurf will in erster Linie den liechtensteinischen Verwaltungseigentümlichkeiten und Einrichtungen gerecht werden und daher am Bestehenden möglichst wenig rütteln. Daher ist versucht worden, die bestehende tatsächliche Verwaltungspraxis in gesetzliche Vorschriften zu bringen, zu legalisieren. Daneben erhält er die durch Rechtslehre und Verwaltungspraxis des Auslandes herausgearbeiteten allgemeinen Verfahrensgrundsätze. – Es war beabsichtigt, nur Gutes und Bewährtes, vor allem aus deutschen einzelstaatlichen, schweizerischen und österreichischen Verhältnissen und in einer für unsere Behörden und das Land passenden Weise aufzunehmen; wobei ausländische Gesetze, Entwürfe und Verwaltungsentscheidungen berücksichtigt worden sind. Bei der Formulierung wurde auf möglichst leichte Lesbarkeit des Textes getrachtet, sodass auch ein Nichtrechtskundiger das Gelesene soll verstehen können. Die Vorlage wollte zudem manche in der früheren liechtensteinischen Rechtssprache bekannte Ausdrücke in neuer Fassung zu Ehren ziehen (z.B. Kundschaft, Trölerei, Fürsprech, Landsnöte, Landsrettung) und dadurch enthält die Fassung in manchen Ausdrücken eine lokale Färbung.

Der Entwurf zerfällt in die Organisation der Regierung und der Verwaltungsbeschwerdeinstanz nebst ihren Organen (1. Hauptstück). Wie aus den in diesem Hauptstück angeführten Verfassungsbestimmungen hervorgeht, will es manche in der Verfassung verheissenen Gesetze (Art. 82 und 98 der Verfassung) mit einem Schlage zur Ausführung bringen. Es ist übrigens auf die Zitierung der Verfassungsartikel in der Einleitung zu verweisen, aus welcher erhellt, dass durch die Vorlage auch andere in der Verfassung verheissene Gesetze ganz oder zum Teile verwirklicht werden.

Zu diesen organisatorischen Bestimmungen wollen wir keine weiteren Bemerkungen machen, da sie beim Lesen verständlich sind. Sodann enthält der Entwurf eine Regelung des einfachen Verwaltungsverfahrens, in Preussen z.T. das sogen. Beschlussverfahren, welches Verfahren bei Setzung von Verwaltungsakten eingehalten werden muss, soweit nicht noch besonderen Gesetzen und Verordnungen – Ausnahmen bestehen. Im Weitern regelt der Entwurf das sogen. Verwaltungszwangsverfahren.

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[1] O.N., Nr. 29, 12.4.1922, S. 1. Vgl. in weiterer Folge O.N., Nr. 31, 22.4.1922. S. 1 („Bericht und Begründung"); O.N., Nr. 32, 26.4.1922, S. 1 („Bericht zu den Gesetzesentwürfen") und O.N., Nr. 33, 29.4.1922, S. 2 („Bericht und Begründung"). Vgl. den Gesetzentwurf sowie den Kommissionsbericht und die Begründung unter LI LA LTA 1922/L07. Vgl. auch das Protokoll der Finanzkommission vom 30.3.1922 unter LI LA LTA 1922/S03. Vgl. den geänderten Gesetzentwurf unter LI LA RE 1922/1430. Vgl. ferner LI LA DS 094/1922-001 A+B und LI LA DM 1922/007 A+B. Der Gesetzentwurf von Wilhelm Beck wurde mit den von der Finanzkommission beantragten Änderungen in der öffentlichen Landtagssitzung vom 11.4.1922 genehmigt (LI LA LTP 1922/028). Siehe das Gesetz vom 21.4.1922 über die allgemeine Landesverwaltungspflege (die Verwaltungsbehörden und ihre Hilfsorgane, das Verfahren in Verwaltungssachen, das Verwaltungszwangs- und Verwaltungsstrafverfahren), LGBl. 1922 Nr. 24. Vgl. auch das Schreiben der Regierung an die Gemeinden vom 15.7.1922 betreffend Erläuterungen zu dem am 12.7.1922 in Kraft getretenen Landesverwaltungspflegegesetz (LI GAV A 03/26/335/1-5). Vgl. in diesem Zusammenhang das ebenfalls am 11.4.1922 vom Landtag genehmigte und am 21.4.1922 sanktionierte Gesetz betreffend das Rechtsfürsorgeverfahren, LGBl. 1922 Nr. 19.
[2] Verfassung des Fürstentums Liechtenstein vom 5.10.1921, LGBl. 1921 Nr. 15.
[3] Kaiserliche Verordnung vom 20.4.1854 wirksam für alle Kronländer, mit Ausnahme des lombardisch-venetianischen Königreiches und der Militärgränze, wodurch eine Vorschrift für die Vollstreckung der Verfügungen und Erkenntnisse der landesfürstlichen politischen und polizeilichen Behörden erlassen wird, öst. RGBl. 1854 Nr. 96.
[4] Verordnung vom 9.12.1858 betreffend die Amtsgewalt des Regierungsamtes und der Vorsteher bei der Vollstreckung von Verfügungen und Erkenntnissen (LI LA SgRV 1858/02).
[5] St. Gallisches Verwaltungs-Recht, hg. im Auftrag des Regierungsrates von Othmar Müller, 3 Bde., 1898-1915.
[6] Erkenntnisse des k.k. Verwaltungsgerichtshofes, ab 1876.
[7] Fritz Fleiner, Institutionen des deutschen Verwaltungsrechts, Tübingen 1913.
[8] Rudolf Herrmann Herrnritt, Grundlehren des Verwaltungsrechtes mit vorzugsweiser Berücksichtigung der in Österreich (Nachfolgestaaten) geltenden Rechtsordnung und Praxis, Tübingen 1921.