Die Finanzkommission des Landtags begründet den Gesetzentwurf über den Staatsgerichtshof


Bericht und Antrag der Finanzkommission an den Landtag, abgedruckt in den "Liechtensteiner Nachrichten" [1]

11.11.1925

Kommissions-Bericht zum Gesetzentwurf über den Staatsgerichtshof

(von Dr. W. [Wilhelm] Beck)

I. Allgemeines

Gemäss Art. 104 ff. der Verfassung [2] soll ein Staatsgerichtshof zum Schutze des öffentlichen Rechtes errichtet werden und lt. Art. 114 der Verfassung sollen die bezüglichen Vorlagen über die in der Verfassung vorgesehenen Einrichtungen mit möglichster Beschleunigung vorgelegt und durchgeführt werden. Leider kann der Entwurf des obigen Gesetzes infolge Arbeitsüberhäufung der Behörden und des Verfassers [3] zur verfassungsmässigen Behandlung dem Landtage erst jetzt unterbreitet werden.

An dieser Stelle wird auf den Kommissionsbericht über die Begründung zum Gesetzentwurf über die Allgemeine Landesverwaltungspflege hingewiesen, welcher im Jahre 1922 dem Landtag erstattet worden ist. [4] Die dort unter dem Abschnitt "Allgemeines" gemachten Ausführungen gelten auch entsprechend für den Staatsgerichtshof. Aus den einzelnen Bestimmungen der Verfassung ergibt sich, dass auch die Verwaltung gemäss den Grundsätzen eines Rechtsstaates geführt werden soll. Zu diesem Zwecke wurde bereits früher das Gesetz über die allgemeine Landesverwaltungspflege vom Jahre 1922 [5] geschaffen und besonders die Verwaltungsbeschwerdeinstanz geordnet. Die letztere hat den Charakter eines besonderen Verwaltungsgerichtes. Da gemäss Art. 3 (L.V.G.) [6] die Mitglieder der Verwaltungsbeschwerdeinstanz unabhängige Richter sind, so ist die Verwaltungsbeschwerdeinstanz als ein Verwaltungsgericht anzusehen und zwar mit einer generellen Zuständigkeit (Generalklausel). Der Staatsgerichtshof ist, wie gesagt, ein Gerichtshof zum Schutze des öffentlichen Rechtes. In seine Zuständigkeit gehören nicht nur Verwaltungsrechtssachen, sondern wie sich aus Art. 104 der Verfassung und Art. 10 ff. des Entwurfes ergibt, auch andere Angelegenheiten, wie beispielsweise Beschwerden wegen Verletzung verfassungsmässig garantierter Rechte (sog. Staatsrechtsbeschwerden), Prüfung der Verfassungsmässigkeit der Gesetze und der Gesetzmässigkeit der Verordnungen etc., sodann hat er insbesonders auch als Verwaltungsgerichtshof in Verwaltungsstreitsachen zu amtieren. Was als Verwaltungsstreitsache anzusehen ist, sagt die Verfassung nicht näher und hat das Gesetz im einzelnen Falle zu bestimmen. Insoweit also der Staatsgerichtshof als Verwaltungsgerichtshof zur Entscheidung in Verwaltungsstreitsachen neben der Verwaltungsbeschwerdeinstanz zuständig ist, bestimmt sich seine Zuständigkeit nach speziellen Bestimmungen (Enumerations-Methode). Wie wir später sehen werden, entscheidet der Verwaltungsgerichtshof bald als erste und einzige Instanz, bald als Rechtsmittelinstanz.

Was den Verwaltungsweg anbelangt, ergibt sich mithin folgendes Bild für den Instanzenzug:

Erste Instanz in Gemeindesachen die Gemeindebehörden, in Landessachen die Verwaltungsbehörden.

Zweite Instanz in Gemeindesachen die Regierung und zweite Instanz resp. dritte Instanz in Gemeindesachen im Zweifel die Verwaltungsbeschwerdeinstanz oder, wo es das Gesetz ausdrücklich anordnet, der Verwaltungsgerichtshof.

Dies ist von einigen Ausnahmen abgesehen der regelmässige Instanzenzug.

Bei der Abfassung des Entwurfes kam zustatten, dass das Gesetz über die allgemeine Landesverwaltungspflege bereits geschaffen war. Schon im Berichte zum Gesetze über die allgemeine Landesverwaltungspflege heisst es Seite 6 unter Ziffer 2:

"Die Bestimmungen über das einfache Verwaltungsverfahren (mit Ausnahme des 2. Abschnittes über Verwaltungsbote) bilden gleichzeitig den grössten Teil einer Prozessordnung des öffentlichen Rechts für die meisten vor dem Staatsgerichtshofe (Art. 104 der Verfassung) durchzuführenden Angelegenheiten. Es wird daher gleichzeitig mit dieser Vorlage ein grosser Teil des Gesetzes über den einzurichtenden Staatsgerichtshof verwirklicht und damit dieses selbst höchst vereinfacht. Die Bestimmungen des Verwaltungszwangsverfahrens können gleichzeitig auf die Vollstreckung von Entscheidungen des Staatsgerichtshofes in grösserem oder geringerem Umfange Anwendung finden." [7]

In der Tat konnte bei der Regelung gemäss dem Entwurfe auf ganze Partien des Gesetzes über die allgemeine Landesverwaltungspflege verwiesen werden (vergl. Art. 1 (Abs. 3), 6, 17, 36, 37, 40, 41, 42, 43 und 51). Mit Rücksicht auf jenes Gesetz konnte daher der Entwurf sich einer möglichsten Kürze befleissen, ohne dass darunter die Vollständigkeit zu leiden hat.

II. Besondere Bestimmungen

Art. 1. Die örtliche Zuständigkeit des Staatsgerichtshofes richtet sich im Zweifel nach den Bestimmungen der in Abs. 4 zitierten Gesetze. Gemäss Abs. 2 und 3 kann bei Rechtsverweigerung und Rechtsverzögerung eine Beschwerde an den Landtag stattfinden. Vgl. auch Art. 10.

Art. 2. Die Organisation des Staatsgerichtshofes lehnt sich an die Verfassungsbestimmungen (Art. 105 ff.) an.

In Art. 3 ist die Unvereinbarkeitsfrage geregelt. Danach ist das Amt des Präsidenten, eines Richters und ihrer Stellvertreter mit dem Amte eines Mitgliedes der Regierung, des Regierungssekretärs oder eines in Art. 83 Abs. 1 der Verfassung angeführten Beamten nicht vereinbarlich.

In Art. 6 ff. ist der sog. Ausstand geregelt. Von Bedeutung ist der letzte Absatz von Art. 6 im Rechtsmittelverfahren gegen Entscheidungen und Verfügungen des Staatsgerichtshofes.

Art. 8 und 9 enthalten Bestimmungen über die richterliche Unabhängigkeit, ähnlich wie sie auch in anderen auswärtigen Gesetzen vorkommen. Über seine eigenen Mitglieder entscheidet in der Regel der Staatsgerichtshof.

Art. 10-16 enthalten sachliche Zuständigkeitsbestimmungen. Danach urteilt der Staatsgerichtshof entweder als erste und einzige Instanz (in ursprünglichen Staatsgerichtshofsachen) oder als Rechtsmittelinstanz gegen ergangene Entscheidungen oder Verfügungen von Gerichts- und Verwaltungsbehörden (in nachträglichen Staatsgerichtshofsachen) oder als gutachtende Instanz. Wo die Zuständigkeit des Staatsgerichtshofes gegeben ist – z.B. in anderen Gesetzen – entscheidet er im Zweifel als Verwaltungsgerichtshof und zwar als erste und einzige Instanz (Art. 10). Diese Zuständigkeitsbestimmungen lehnen sich an die in Art. 104 der Verfassung enthaltenen Bestimmungen an.

Art. 17-22 enthalten allgemeine Bestimmungen über das Verfahren vor dem Staatsgerichtshof. Nach Art. 18 sind auch die Behörden, gegen deren Entscheidungen oder Verfügungen der Staatsgerichtshof angegangen wird, in der Regel Partei und es sind ihnen alle Akten zur Vernehmlassung zuzustellen. Gemäss Art. 20 Abs. 2 können die Eingaben an den Staatsgerichtshof durch Vermittlung der Regierung oder unmittelbar an den Präsidenten erfolgen.

Art. 22 regelt die Kosten- und Gebührenfrage.

Die Art. 23 bis und mit 43 regeln das Verfahren in den Fällen, wo der Staatsgerichtshof als Verfassungs-, Kompetenzkonflikts- und Verwaltungsgerichtshof zu entscheiden hat. Dabei unterscheidet der Entwurf die Fälle

a) wo der Staatsgerichtshof als erste und einzige Instanz zu entscheiden hat (Art. 23 bis und mit 39);

b) als Rechtsmittelinstanz gegen Entscheidungen und Verfügungen von Gerichts- und Verwaltungsbehörden (Art. 40);

c) als Instanz über Rechtsmittel gegen eigene Entscheidungen und Verfügungen (Art. 41).

Wo der Staatsgerichtshof als erste Instanz entscheidet, kann er seinen Entscheid, je nachdem die Sache spruchreif ist, entweder aufgrund der Erhebungen in einem vorausgegangenen Ermittlungsverfahren gemäss den Vorschriften über das einfache Verwaltungsverfahren entscheiden (Art. 36) oder ohne ein solches entscheiden. An das Ermittlungsverfahren, falls ein solches erforderlich ist, schliesst sich gemäss Art. 37 ff. das Schlussverfahren.

Wenn der Staatsgerichtshof über Beschwerden gegen ergangene Entscheidungen und Verfügungen von untern Behörden zu entscheiden hat, so gelten für die Ergreifung des Beschwerdeverfahrens etc. die Vorschriften über das Beschwerdeverfahren im einfachen Verwaltungsverfahren.

Besonders mit Rücksicht darauf, dass der Staatsgerichtshof in gewissen Fällen erste und einzige Instanz ist, sucht der Entwurf es zu ermöglichen, dass gegen seine eigenen Entscheidungen und Verfügungen noch Rechtsmittel in dem Sinne ergriffen werden können, dass sich derselbe Staatsgerichtshof, wenn auch vielleicht mit anderer Besetzung, mit der Sache nochmals zu befassen hat; daher lässt er die Wiedererwägung oder die Vorstellung zu, auf welche im Gegensatze zu den Bestimmungen im einfachen Verwaltungsverfahren der Staatsgerichtshof eintreten muss, gleichgiltig, ob er ihr stattgibt oder nicht; daher lässt er auch weiters das Wiederherstellungsverfahren zu (Art. 41). Gemäss Art. 42 und 43 wurden besondere Bestimmungen über die Wirkung der Entscheidungen und deren Vollstreckung getroffen.

Art. 44 ff. regeln die Ministeranklage, welcher technische Ausdruck hier beibehalten wurde. Es betrifft also die Anklage gegen die Mitglieder der Regierung wegen Verletzung der Verfassung oder der Gesetze.

Der Landtag beschliesst gemäss Art. 44 Abs. 2 die Anklage, reicht eine Anklageschrift beim Staatsgerichtshofpräsidenten ein (Art. 46), daraufhin findet eine Voruntersuchung (Art. 46 und 47) und sodann eine Schlussverhandlung (Art. 49 und 50) statt.

Gegen die ergangenen Entscheidungen und Verfügungen des Staatsgerichtshofes können gemäss Art. 51 Rechtsmittel ergriffen werden.

Art. 52 regelt die Vollstreckung solcher Entscheidungen. Auf das Verfahren in Ministeranklagesachen finden, soweit das Gesetz über den Staatsgerichtshof es nicht anders bestimmt, die Vorschriften der Strafprozessordnung [8] über das Verfahren in Verbrechensfällen Anwendung.

Gemäss Art. 53 bestimmt ein besonderes Gesetz, wieweit das Gesetz über den Staatsgerichtshof auf das Disziplinarverfahren gegenüber der Regierung und deren Beamten anzuwenden ist. [9] Voraussetzung ist namentlich die Schaffung eines besonderen Disziplinargesetzes, das entweder nach Art. 52 oder anstelle des Art. 52 später in den Entwurf eingeschoben werden kann, oder dann selbständig aufzustellen ist.

Im Schlusstitel – Art. 54 u. ff. – sind noch Übergangs- und ergänzende Bestimmungen geschaffen. Wichtig ist besonders Art. 56, wo einige praktische Ergänzungen zum Gesetz über die allgemeine Landesverwaltungspflege geschaffen werden. Es ist z.B. zu verweisen auf Art. 90 (6 a).

Ihre Kommission hat den Entwurf in mehreren Sitzungen durchberaten [10] und beantragt Ihnen, denselben anzunehmen.

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[1] L.N., Nr. 89, 11.11.1925, S. 7-8 (Beilage). Der Kommissionsbericht findet sich auch unter LI LA RE 1925/2255/02 und LI LA LTA 1925/2255/03. Vgl. Punkt 3 des Sitzungsprotokolls der Finanzkommission vom 16.10.1925 bzw. Punkt 4 des Protokolls vom 19.10.1925 (LI LA LTA 1925/S03). Zum Gesetzentwurf vom Oktober 1925 vgl. LI LA DM 1925/019. Der Gesetzentwurf in der von der Finanzkommission vorgelegten Fassung wurde vom Landtag in der öffentlichen Sitzung vom 4.11.1925 in erster Lesung beraten (LI LA LTP 1925/039) und tags darauf mit Änderungen angenommen (LI LA LTP 1925/048). Vgl. das Gesetz vom 5.11.1925 über den Staatsgerichtshof, LGBl. 1925 Nr. 8. Sanktioniertes Exemplar des Gesetzes unter LI LA RE 1925/2255/14.
[2] Verfassung des Fürstentums Liechtenstein vom 5.10.1921, LGBl. 1921 Nr. 15.
[3] Der Vorentwurf zum Gesetz über den Staatsgerichtshof stammte von Emil Beck und Wilhelm Beck (vgl. das Schreiben von Wilhelm Beck an die Regierung vom 2.7.1925 (LI LA RE 1925/2255/5).
[4] Vgl. O.N., Nr. 29, 12.4.1922, S. 1 ("Bericht und Begründung"); O.N., Nr. 31, 22.4.1922, S. 1 ("Bericht und Begründung"); O.N., Nr. 32, 26.4.1922, S. 1 ("Bericht zu den Gesetzesentwürfen") und O.N., Nr. 33, 29.4.1922, S. 2 ("Bericht und Begründung"). Vgl. auch LI LA LTA 1922/L07.
[5] Gesetz vom 21.4.1922 über die allgemeine Landesverwaltungspflege (die Verwaltungsbehörden und ihre Hilfsorgane, das Verfahren in Verwaltungssachen, das Verwaltungszwangs- und Verwaltungsstrafverfahren), LGBl. 1922 Nr. 24.
[6] L.V.G.: Landesverwaltungspflegegesetz.
[7] Vgl. O.N., Nr. 31, 22.4.1922, S. 1 ("Bericht und Begründung") bzw. LI LA LTA 1922/L07, S. 6-7.
[8] Vgl. das Gesetz vom 31.12.1913 betreffend die Einführung einer Strafprozessordnung, LGBl. 1914 Nr. 3.
[9] Vgl. das Gesetz über das Disziplinarverfahren gegen Mitglieder der Regierung vom 7.5.1931, LGBl. 1931 Nr. 6.
[10] Vgl. die Sitzungsprotokolle der Finanzkommission des Landtags vom 16.10. und 19.10.1925 (LI LA LTA 1925/S03).