Die Fortschrittliche Bürgerpartei veröffentlicht ein Parteiprogramm


Artikel im "Liechtensteiner Volksblatt" [1] 

4.1.1919 

Die Fortschrittliche Bürgerpartei und ihr Programm 

Der 7. November 1918 hat gezeigt, was eine geschlossene Partei, selbst in der Minderheit, zu leisten im Stande ist. [2] Sie konnte, wenn auch nur vorübergehend, der nicht organisierten Mehrheit ihren Willen diktieren. Soll sich das in Zukunft nicht wiederholen, so ist ein Zusammenschluss aller jener, die bisher gegen Parteibildung waren und überhaupt jener, die mit der Art und Weise des Vorgehens und mit einigen Forderungen des 7. November nicht einverstanden sind, unbedingt notwendig. 

Die Grundlage zu diesem Zusammenschluss ist nun gegeben in der Fortschrittlichen Bürgerpartei. [3] Man braucht kein Fanatiker zu sein, soll es auch nicht sein, aber seine Gesinnung darf und soll nun jeder offen an den Tag legen, sei er nun dieses oder jenes Berufes. Beiderseits ehrliche Gegnerschaft in manchem, aber keine Feindschaft; denn das würde zum Schaden aller führen! Also offenes, ehrliches, nicht aber gehässiges Auftreten! Zur fortschrittlichen Bürgerpartei möge sich jeder bekennen, der gesunden Fortschritt will, aber in den Bahnen der Ordnung und Gesetzlichkeit, nach den Grundsätzen unserer katholischen Religion, jeder der diesen Fortschritt will in Treue zu Fürst [Johann II.] und Fürstenhaus, zum Wohle des gesamten Volkes. 

Ausgehend von diesen Grundsätzen wurden dann von der ganzen Gründungsversammlung nachfolgende politische und wirtschaftliche Programmpunkte grosszügig für die Fortschrittliche Bürgerpartei bestimmt. Mit Aufstellung dieses Programmes [4] ist selbstverständlich nicht gesagt, dass es nicht noch erweitert werden wird, falls Zeit und Umstände es erfordern; auch nicht gemeint, dass alle Punkte in wenigen Jahren und in der Reihenfolge ihrer Aufzählung zur Durchführung gelangen müssen, sondern wieder je nach Zeit und Umständen. Aber durchgeführt sollen alle werden, das war der Wunsch der Gründungsversammlung und ist die Forderung eines Grossteils unseres Volkes. Jeder, der für einen gesunden, ruhigen Fortschritt ist, wird sie im Interesse des Gesamtwohles billigen. 

Nach den Leitsätzen dieser Programme also tut euch zusammen, Liechtensteiner jeden Standes und Berufes, sie werden euch und euren Nachkommen zum Heile gereichen. [5]

I. Politisches Programm

Dieses stützt sich in den meisten Punkten auf die Landtagsbeschlüsse vom 9. Dezember 1918 [6] und lautet:

1. Unentwegte Treue zu Fürst und Fürstenhaus.

2. Gesunder Fortschritt in den Bahnen der Gesetzlichkeit und Ordnung nach den Grundsätzen der katholischen Religion.

3. Die Regierung des Landes hat aus dem vom Landesfürsten im Einvernehmen mit dem Landtage zu ernennenden Landesverweser und zwei durch den Landtag zu wählenden Regierungsräten zu bestehen.

4. Die Teilnahme der beiden Regierungsräte an den Regierungsgeschäften soll durch besondere gesetzliche Vorschriften geregelt werden, wobei der Grundsatz zur Anwendung kommen soll, dass die beiden Regierungsräte zu allen wichtigeren Beschlüssen zuzuziehen, mindestens aber alle 14 Tage zu einer Sitzung einzuberufen sind.

5. Wenn ein Mitglied der Regierung durch die Amtsführung das Vertrauen des Volkes und des Landtages verliert, so ist der Landtag berechtigt, beim Landesfürsten die Enthebung des betreffenden Regierungsfunktionärs zu beantragen.

6. Bei Anstellung von Beamten soll der Grundsatz zur Anwendung kommen, dass der Bewerber die liechtensteinische Staatsbürgerschaft besitzen muss. Abweichungen hievon bedürfen der Zustimmung des Landtages.

Auch bei Bestellung des Landesverwesers sollen in erster Linie hiefür geeignete Liechtensteiner in Betracht kommen, falls dieselben das Vertrauen von mindestens Dreivierteln des Landtages besitzen.

7. Die Wahl des Landtages soll in der bisherigen Art erfolgen; die drei vom Landesfürsten zu ernennenden Abgeordneten sollen durch kollegialen Beschluss der Regierung dem Landesfürsten in Vorschlag gebracht werden.

8. Die Sitzungen des Landtages sollen nicht in eine Session zusammengezogen werden, sondern es soll der Landtag das ganze Jahr hindurch nach Bedarf, mindestens aber im Frühjahr und im Herbste einberufen werden. Präsidium, Schriftführer und Kommissionen wären jedesmal für die Zeitdauer eines Jahres zu wählen.

9. Sämtliche politische und gerichtliche Instanzen mit Ausnahme des obersten Gerichtshofes sind in das Land zu verlegen. Bei der Organisation dieser Behörden soll unser Kriminalgericht als Vorbild genommen und also insbesondere neben Berufsrichtern auch Laienrichter aus dem Lande aufgenommen werden.

10. In die Verfassung ist die grundsätzliche Bestimmung des freien Vereins- und Versammlungsrechtes aufzunehmen.

11. Das Alter der Wahlfähigkeit und Grossjährigkeit soll auf 24 Jahren belassen werden.

12. Alle im Landtage zur Sprache kommenden wichtigen Fragen sollen 2 Wochen vorher in der Presse bekannt gemacht werden, um über sie den freien Meinungsaustausch zu ermöglichen.

II. Wirtschaftliches Programm

1. Tunlichste Abhilfe der Lebensmittelnot.

2. Steuerreform; besonders Aufhebung der Schuldenversteuerung.

3. Ausbau, Instandhalten, Verstärkung der Rhein- und Rüfeschutzbauten.

4. Bahnbau, Hebung des Verkehrswesens überhaupt.

5. Nach Möglichkeit schnelle Inangriffnahme und Vollendung der weitern Arbeiten am Bau des Lawenawerkes.

6. Anstreben und Vorarbeiten zur Erstellung eines Krankenhauses.

7. Änderung des Jagd- und Fischereigesetzes im Sinne der Volksmehrheit.

8. Berücksichtigung unserer Landwirtschaft und Industrie bei der künftigen Neuregelung der Zoll- und Staatsverträge mit dem Auslande.

9. Möglichste Hebung der Landwirtschaft in allen ihren Zweigen: Entwässerungsanlagen usw.

10. Förderung der sozialen Fürsorge für die Arbeiterschaft auf dem Wege der Gesetzgebung.

11. Förderung des Handels und Gewerbes.

12. Regelung von Post-, Telegraphen- und Telephonverkehr im Sinne der Interessen des Volkes.

13. Hebung der Forst- und Alpwirtschaft.

14. Begünstigung der Ausbeutung heimischer Bodenschätze (Steinbrüche usw.)

15. Nach Möglichkeit Förderung des Fremdenverkehrs.

16. Hebung und Förderung des Schulwesens den Verhältnissen und Bedürfnissen des Landes entsprechend: Einführung von Haushaltungskursen, Landwirtschaftliche und gewerbliche Schulung usw.

Unbedingtes Festhalten am Religionsunterricht in den Schulen.

Ausbau der Jugendfortbildung.

17. Eintreten für Ausbau einer rationellen Wasserversorgung mit Hydrantenanlagen in den Landesgemeinden, wo dieselbe noch fehlt. Im Anschluss daran Einführung einer landschäftlichen Feuerversicherung.

18. Gründung eines Pressevereines, dem die Aufgabe zufällt, auf dem Wege der Presse unser Programm zu fördern, um die freie gegenseitige Aussprache zu ermöglichen und zu unterstützen.

Durch die väterliche Fürsorge unseres Fürsten und das Entgegenkommen des Auslandes sind 2 Punkte unseres wirtschaftlichen Programmes bereits zum Teil erledigt. [7] Das hindert aber nicht, dass wir in Zukunft auch die Krankenpflege in den einzelnen Gemeinden noch heben sollen und dass wir ferner trotz Lebensmittelbezug aus dem Auslande uns gegenseitig aushelfen müssen. Gemeinsinn möge in allem walten!

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[1] L.Vo., Nr. 1, 4.1.1919, S. 1.
[2] In der Landtagssitzung vom 7.11.1918 war Landesverweser Leopold von Imhof zur Demission genötigt und ein provisorischer Vollzugsausschuss unter dem Vorsitz von Martin Ritter eingesetzt worden (vgl. dazu etwa das handschriftliche Protokoll von Wilhelm Beck in LI PA Quaderer, Nachlass Wilhelm Beck, oder den diesbezüglichen Bericht von Imhof an Fürst Johann II. vom 10.11.1918 unter LI LA PA 001/0021/08).
[3] Die offizielle Parteigründung erfolgte am 22.12.1918 (vgl. L.Vo., Nr. 52, 27.12.1918, S. 1 ("Die Fortschrittliche Bürgerpartei")).
[4] Vgl. in diesem Zusammenhang das Wahlprogramm des "Liechtensteiner Volksblattes" bzw. der im Volksmund "Löwenpartei" genannten Vorläuferin der Fortschrittlichen Bürgerpartei für die Landtagswahl im März 1918 (L.Vo., Nr. 8, 22.2.1918, S. 1 ("Unsere Oberländer Abgeordneten für den kommenden Landtag")).
[5] Eine Entgegnung zum Programm der Bürgerpartei seitens der Christlich-sozialen Volkspartei findet sich in: O.N., Nr. 2, 11.1.1919, S. 1 ("Zum Programm der sog. fortschrittlichen Bürgerpartei"). Kurz darauf veröffentlichte die Volkspartei ihr eigenes Parteiprogramm: O.N., Nr. 3, 18.1.1919, S. 1-2 ("Programm der christl.-sozialen Volkspartei Liechtensteins").
[6] Vgl. das Schreiben des Landtagspräsidiums an Prinz Karl von Liechtenstein vom 10.12.1918 betreffend das von den Landtagsabgeordneten beschlossene 9-Punkte-Programm (LI LA SF 01/1918/044). Fürst Johann II. erteilte dem Programm am 13.12.1918 seine Zustimmung und ernannte Prinz Karl zum Landesverweser (vgl. LI LA RE 1918/5491 ad 4851).  
[7] Vgl. dazu das Handschreiben von Fürst Johann II. vom 25.12.1918 betreffend Zuwendungen für die Errichtung eines Krankenhauses in Liechtenstein in: L.Vo., Nr. 1, 4.1.1919, S. 1 ("Eine soziale Grosstat"). Zur Lieferung von Lebensmitteln und Bedarfsartikeln aus der Schweiz nach Liechtenstein vgl. L.Vo., Nr. 52, 27.12.1918, S. 2 ("Lebensmittel") oder das Schreiben des Eidgenössischen Ernährungsamtes vom 3.1.1919 (LI LA SF 13/1919/0144 ad 1).