Die Regierung unterbreitet dem Landtag einen Gesetzentwurf gegen Kredit- und Sachwucher


Maschinenschriftliche Ausführungen der Regierung (Entwurf), nicht gez., zuhanden des Landtags [1]

o.D. (vor dem 15.11.1921)

Motivenbericht

zur Regierungsvorlage betreffend die Erlassung eines Zins- und Wuchergesetzes

Unter den heute gegenüber früheren Zeiten gänzlich veränderten wirtschaftlichen und Kredit-Verhältnissen lassen sich die, die Höhe der vertraglichen Zinsen bei Kreditgeschäften einschränkenden Bestimmungen des allg. bürgerl. Gesetzbuches [ABGB], wie sie heute noch im Fürstentume in Geltung stehen, nicht mehr länger aufrechterhalten, zumal sie sich als ein Hemmnis in der normalen Entwicklung eines gesunden Kreditverkehres erweisen.

Die Gesetzgebungen anderer Staaten sind auch in der richtigen Erkenntnis, dass im normalen Kreditverkehre die Höhe des Zinsfusses durch die jeweilige Lage des Kapitalmarktes und in letzter Linie durch das Verhältnis zwischen Angebot und Nachfrage mehr oder minder einheitlich bestimmt wird, längst davon abgekommen, die zulässige Höhe der vertraglichen Zinsen bei Kreditgeschäften ziffermässig festzulegen, nachdem die Konkurrenz der allenthalben bestehenden und unter öffentliche Kontrolle gestellten Kreditinstitute ausreichend dafür sorgt, dass der kreditsuchende und kreditwürdige Schuldner keinen höheren Zins, als jenen zu zahlen braucht, der eben der jeweiligen Lage des Kapitalsmarktes entspricht.

Immerhin aber besteht ein Bedürfnis nach einem Schutze der Schuldner gegen wucherische Ausbeutung ihres Leichtsinnes, ihrer Unerfahrenheit oder ihrer momentanen Zwangslage, in der sie nicht selten geneigt sind, für die Erlangung eines Kredites dem Kreditgeber übermässige Vorteile zuzusichern. Diesem Bedürfnis muss durch die Erlassung strenger Bestimmungen gegen den Kreditwucher entsprochen werden.

In der Kriegs- und Nachkriegszeit haben sich auch allerlei unberufene und unsaubere Elemente in den legitimen Handel eingedrängt und sich die zeitweisen Stockungen im Warenangebote zum schweren Schaden der Einzelnen und der Allgemeinheit erheblich zu nutze gemacht. Diesem gemeinschädlichen Treiben versuchte man andernorts, allerdings leider nicht immer mit dem gewünschten Erfolge, durch die Erlassung von Gesetzen gegen Preistreiberei und Kettenhandel zu steuern. [2]     

Wenn auch heute infolge des Wegfalles der Verkehrsschranken der Markt sich von selbst reguliert und Preistreibereien und Schiebereien der früheren Zeit im normalen Geschäftsverkehre ein natürliches Ende gefunden haben oder zumindest bald gänzlich finden werden, so erscheint es doch immer noch nicht ausgeschlossen, dass auch jetzt und in Zukunft noch unter besonderen Verhältnissen Bewucherungen des Publikums im Warenverkehre vorkommen können, denen durch entsprechende gesetzliche Massnahmen – Bestimmungen gegen den sog. „Sachwucher“ – begegnet werden muss.

Diese Erwägungen einzeln und zusammengenommen haben die fürstliche Regierung bewogen, dem Landtag den beiliegenden Entwurf eines Zins- und Wucher-Gesetzes [3] zur Schlussfassung vorzulegen. Bei Verfassung dieses Entwurfes konnte die Regierung sich die andernorts auf diesem Gebiete gemachten guten und schlechten Erfahrungen zu nutze machen und andernorts bereits bewährte Bestimmungen unter Anpassung an unsere besonderen Verhältnisse aufnehmen.

Im Einzelnen ist zu den Bestimmungen der §§ 4 & ff. des Entwurfes – jene der §§ 1-3 bedürfen wohl keiner Erläuterung – Folgendes zu bemerken:        

Im § 4 sind die Merkmale des wucherischen Vertrages im Allgemeinen festgelegt und wird die Nichtigkeit solcher Verträge ausgesprochen.

Die Rechtsfolgen dieser Nichtigkeit sind in § 9 ausgedrückt; sie entsprechen dem im § 877 und in den Bestimmungen des allg. bürgerl. Gesetzbuches über die ungerechtfertigte Bereicherung aufgestellten, dem natürlichen Rechtsempfinden entsprechenden Grundsatze, dass bei Nichtigkeit eines Rechtsgeschäftes nach Möglichkeit jener Zustand wieder hergestellt werden soll, wie er vor Abschluss des Geschäftes bestanden hat.

Diese beiden §§ beinhalten den zivilrechtlichen Schutz gegen Wucher jeder Art, auch gegen den in § 7 umschriebenen Sachwucher.

Der strafrechtliche Schutz gegen Wucher ist durch die §§ 5-7 gegeben. Die strengen Strafbestimmungen rechtfertigen sich aus der Gemeinschädlichkeit jedes wucherischen Treibens und aus der Gewinnsucht des Thäters. Die Möglichkeit, neben der Arreststrafe auch noch auf eine Geldstrafe bis zu zehntausend Franken zu erkennen, gibt dem Richter ein Mittel an die Hand, den Thäter, der aus Gewinnsucht gehandelt hat, an seiner empfindlichsten Stelle zu treffen.

Durch die Anordnung des § 8 wird dem durch einen strafbaren Wucher Benachteiligten ein rascher zivilrechter Schutz gesichert.

Die Übergangsbestimmung des § 10 erscheint deshalb als notwendig, weil es nicht anginge, offenbar wucherische, noch aus früherer Zeit herstammende und noch nicht abgewickelte Geschäfte zu schützen, wenn die Gesetzgebung nun schon einmal derlei Geschäfte von nun ab als nichtig und strafbar erklärt.

Zum Schlusse sei noch aufklärend bemerkt, warum der Entwurf unter gänzlicher Abstandnahme von einer Spezialisierung sich mit einer ganz allgemein und weit gehaltenen Begriffsbestimmung des Kredit- und Sachwuchers (§§ 4, 5 u. 7) begnügt hat. Erfahrungsgemäss pflegen Jene, die Wuchergeschäfte treiben, diese thunlichst zu verschleiern und in scheinbar harmlose Formen einzukleiden und ebenso erfahrungsgemäss haben alle jene Gesetze gegen den Wucher versagt, die es sich angelegen sein liessen, die einzelnen Fälle des Wuchers möglichst detailliert anzuführen, weil die Wucherer es stets verstanden, um solche Detailbestimmungen herumzukommen.

Nur dann, wenn das Gesetz den Begriff des Wuchers nach seinen wesentlichen Merkmalen ganz allgemein aufstellt und es im einzelnen Falle dem Richter überlässt, die ihm vorliegende Tathandlung unter diese Begriffsbestimmung zu subsumieren, kommt man den Schleich- und Umwegen des Wucherers wirksam bei. Dadurch, dass der strafbare Wucher als Vergehen erklärt und der Judikatur des Schöffengerichtes unterstellt wird, ist dafür gesorgt, dass die weitgehende Einsicht der Richter aus dem Volke und ihre vollkommene Vertrautheit mit den Verhältnissen im Lande den Berufsrichter in wertvoller und wirksamer Weise bei Handhabung der Strafbestimmungen dieses Gesetzes unterstützen. [4]

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[1] LI LA RE 1921/1893. Vermerk: „60 St. [Stück]“. Abweichendes Exemplar unter LI LA RE 1921/4457 ad 1893/4261. Vgl. auch den gedruckten Motivenbericht unter LI LA LTA 1921/L13 sowie O.N., Nr. 89, 19.11.1921, S. 1-2 („Motivenbericht zur Regierungsvorlage betr. die Erlassung eines Zins- und Wuchergesetzes“). – Der Anstoss für diese Regierungsvorlage war wohl die Forderung des „Liechtensteinischen Arbeiterverbandes“ bzw. des Verbandspräsidenten Friedrich Kaufmann an Regierung und Landtag vom 27.4.1920 auf Erlassung eines „strengen“ Wuchergesetzes für Lebensmittel und Bedarfsartikel (LI LA RE 1920/1969).
[2] Vgl. dazu das Schreiben des liechtensteinischen Geschäftsträgers in Bern, Emil Beck, zuhanden der Regierung vom 30.4.1921 über juristische Fachliteratur zur schweizerischen bzw. kantonalen Wuchergesetzgebung (LI LA RE 1921/ad 1893 (Aktenzeichen der liechtensteinischen Gesandtschaft in Bern: 515/21)).
[3] Undatierte Regierungsvorlage unter LI LA RE 1921/1893. 
[4] Dieser Satz ist durchgestrichen. In dem schlieslich dem Landtag vorgelegten Gesetzentwurf wurde der Wucher nicht als Vergehen, sondern als Übertretung bestraft (Art. 6). – Regierungschef Josef Ospelt bezeichnete an seinem Bericht an Fürst Johann II. vom 24.9.1921 die Erlassung eines Zins- und Wuchergesetzes als „ein Gebot der Zeit“ (LI LA RE 1921/4457 ad 1893/4261). Mit Schreiben vom 4.10.1921 orientierte Kabinettsdirektor Josef Martin der Regierung über die fürstliche Vorsanktionierung des Gesetzentwurfes (ebd.). Nach dem Protokoll der öffentlichen Landtagssitzung vom 15.11.1921 wurde die Vorlage ohne Änderungen einstimmig angenommen (LI LA LTA 1921/S04/2). Vgl. das Zins- und Wucher-Gesetz vom 24.11.1921, LGBl. 1921 Nr. 24. Vgl. auch O.N., Nr. 90, 23.11.1921, S. 2 („Zins- und Wuchergesetz“). Vgl. ferner die Ergänzung des Abgeordneten Emil Risch zum Bericht über die Landtagsdebatte, in welcher dieser u.a. überhöhte Rechtsanwaltstarife und Gerichtsgebühren kritisierte: O.N., Nr. 92, 30.11.1921, S. 1 („Erklärung“): „Es wird bald wieder die Zeit kommen, wo die Ärmsten der Armen, wenn sie nicht bezahlen können, ihren kargen Verdienst für die Stempel- und Gerichtskosten und Einzugsgebühren hergeben müssen, anstatt für Brot.“