Die NZZ berichtet wohlwollend über das neue Steuergesetz in Liechtenstein


Zweiteiliger Bericht in der NZZ, gez. S.S. [1]

14.12.1922

Steuergesetzgebung in Liechtenstein

I.

S. S. In unserem Nachbarstaate, der konstitutionellen Erbmonarchie Liechtenstein, steht das Volk vor einem Entscheid, der nach seiner materiellen Bedeutung wohl dem äusserst wichtigen, im Mai 1921 getroffenen Entscheid über die Verfassung an die Seite zu stellen ist: vor der Volksabstimmung über das Steuersystem, denn als solches ist der in 127 Artikeln eine Materie von nicht weniger als neun Landes und Gemeindesteuern regelnde Gesetzentwurf, der kürzlich vom Landtag einstimmig angenommen worden ist, zu bezeichnen. Für uns Schweizer ist nicht allein das politische Ereignis von Interesse, sondern in dieser Zeit, da wir trotz Anerkennung des auch in unsern Steuergesetzgebungen verwirklichten föderalistischen Gedankens doch unter der Mannigfaltigkeit unserer Gesetzgebungen zu leiden haben, die Tatsache, dass hier ein einheitliches Steuersystem geschaffen werden soll; uns berührt ferner in steuerpolitischer Hinsicht der Umstand, dass Liechtenstein – das wirtschaftlich mit manchem unserer Kantone grosse Ähnlichkeit aufweist und das seiner Lage nach einem unserer hauptsächlichsten Industriegebiete sich anschliesst – ein Steuergesetz einzuführen im Begriffe steht, das die neuesten Errungenschaften von Steuertheorie und Steuertechnik in den Dienst seiner auf Kapitalbildung gerichteten Steuerpolitik zu stellen weiss, und das deshalb auch auf unsere schweizerischen Steuerverhältnisse nicht ohne Einfluss bleiben kann.

Liechtenstein ist bekanntlich heute noch wesentlich Agrikulturstaat, und zwar ist die Betriebsrichtung seiner Landwirtschaft die gleiche wie in der Schweiz: der Schwerpunkt der Landwirtschaft liegt nicht auf dem Getreidebau, sondern ausgesprochenermassen auf der Viehzucht und der Milchwirtschaft. Gewerbe und Industrie werden von einigen wenigen fabrikmässigen Betrieben abgesehen, heute noch durch Klein- und Mittelbetriebe repräsentiert. Dies kann als Folge des neuen Steuergesetzes schon in einigen Jahrzehnten anders sein. Seit der Neukonstituierung Liechtensteins durch die Verfassung vom Mai 1921 sind in Ausführung ihrer Bestimmungen einige wichtige Wirtschaftsgebiete gesetzgeberisch geregelt worden: das Postwesen, das zuvor von Österreich besorgt worden ist, ist 1921 auf Grund eines Vertrages in schweizerische Verwaltung gegeben worden. Sodann ist 1920 die Schweizer Frankenwährung als Landeswährung eingeführt worden, und vor einigen Wochen hat Liechtenstein das Sachenrecht des schweizerischen Zivilgesetzbuches übernommen.

Bis heute bestand ein im Verlaufe von über fünfzig Jahren durch Zusatzgesetze ausgebautes, verfeinertes Ertragssteuersystem, das den staatsfinanziellen und wirtschaftlichen Erfordernissen nicht mehr genügen kann. In diesem System wurde eine Grundsteuer nach veraltetem, weder den effektiven Bodenwert noch Wertsteigerungen berücksichtigenden Kataster erhoben; ihr Ertrag stand deshalb in jährlich wachsendem Missverhältnis zum Bodenertrag. Es bestand ferner eine Gewerbesteuer, die für Neuunternehmungen vielfach pauschaliert wurde, deren Deklarationszwang aber wirkungslos bleiben musste, solange die Möglichkeit der Nachprüfung der Steuererklärungen nicht durch Inventarisation anlässlich von Übertragungen von Todes wegen gegeben war. Die Kapitalrentensteuer mit scharfer Progression verstärkte sodann die durch Grund-, Gewerbe- und Gehaltssteuer geschaffenem Ungleichmässigkeiten der Besteuerung. Diese steuerpolitischen Tatsachen in Verbindung mit der Notwendigkeit der Steigerung der öffentlichen Einnahmen und der durch die neue Verfassung gegebenen Vermehrung der politischen Rechte rechtfertigen das Verlassen der bestehenden Grundlagen und die Errichtung eines völligen Neubaues der Steuergesetzgebung. Unter drei leitenden Gesichtspunkten erfolgt dieser Neubau: 1. Aufbringung der notwendigen Summen zur Deckung des vergrösserten Finanzbedarfes; 2. möglichst geringe Belastung der wirtschaftlich Schwachen (Existenzminimum); 3. weitgehende Schonung aller wirtschaftlich produktiven Klassen, der landwirtschaftlich wie der industriellen Tätigen. Schonung des Kapitals in jeder Form und möglichste Förderung der Kapitalneubildung. Der Wunsch, die wirtschaftliche Armut des Landes zu beheben, lässt den Gesetzgeber von einer Mehrbelastung des fundierten Vermögenseinkommens dem unfundierten reinen Arbeitseinkommen gegenüber absehen.

Das Gesamtsystem umfasst die Landes- und die Gemeindesteuern. Die hauptsächlichsten Landessteuern sind die Vermögens- und die Erwerbssteuer. Der Vermögensteuer wird als Vermögensverkehrssteuer die Erbschafts- und Schenkungssteuer angegliedert. Anderseits wird der Vermögens- und Erwerbssteuer, die die natürlichen Personen und einen Teil der juristischen Personen trifft, eine Gesellschaftssteuer angefügt. Das System der Vermögens- und Ertragssteuern wird endlich durch die Verbrauchsbesteuerung ergänzt. Vorgesehen ist die Belastung des Tabaks, die, da kein Tabakbau im Lande besteht, durch den Zoll geschehen kann; ferner wird im Steuergesetz die Besteuerung aller berauschenden Getränke durch eine Ausschanksteuer geregelt.

Zur Deckung des Finanzbedarfes der Gemeinden eröffnet das Gesetz drei Wege: Die Gemeinden erheben einmal Zuschläge zur Vermögens- und Erwerbssteuer des Landes. Sodann sind ihnen als ausschliessliche Gemeindesteuern zugewiesen: 1. eine besondere Erwerbssteuer auf dem durch die Landessteuer nicht erfassten Erwerb; 2. eine Aktivbürgersteuer; 3. eine Billettsteuer, 4. eine Steuer auf Kraftfahrzeuge und Rädern, und 5. eine Hundesteuer. Endlich erhalten die Gemeinden Anteile am Ertrag einiger Landessteuern; an der Gesellschaftssteuer sind sie mit einem Drittel, an der Getränkesteuer mit der Hälfte, an der Erbschaftsteuer mit einem Fünftel des Ertrages beteiligt.

Die Steuersätze der Vermögens- und Ertragssteuer können nach dem Gesetz nicht anders als in einer festen, sinnvollen Relation zu einander festgesetzt werden; es soll nämlich die Erwerbssteuer, in Prozenten des Erwerbes bemessen, immer das Doppelte des in Promille des Vermögens ausgedrückten Satzes der Vermögenssteuer betragen, so dass beispielweise 1 Promille Vermögenssteuer 2 Prozent Erwerbssteuer entsprechen müssten. Dadurch wird erreicht, dass der Vermögensertrag (zu 5 Prozent angenommen) durch die Vermögensteuer gleich stark belastet wird wie der Erwerb durch die Erwerbssteuer. Von einem Vermögen von 50‘000 Fr. waren bei den vorstehend angeführten Sätzen 50 Fr. Steuer zu entrichten, das sind, auf einen 5prozent. Ertrag von 2500 Fr. berechnet 2 Prozent. In gleicher Weise wären von einem Erwerb von 2500 Fr. 2 Prozent, also 50 Fr. Steuer zu erheben. - Ein besonderes Progressionssystem für die Vermögensteuer einerseits, die Erwerbssteuer anderseits, ist natürlich nicht möglich, soll anders nicht dieser Ausgleich der Belastung von Vermögensertrag und Erwerb aufgegeben werden. Andererseits aber verlangt der Grundsatz der Belastung nach der Leistungsfähigkeit die Anwendung der Progression. Die Lösung findet der Gesetzgeber darin, dass die Betreffnisse der nach proportionalen Sätzen berechneten Vermögens- und Erwerbssteuer zusammengerechnet und die Progression auf den Gesamtsteuerbetrag zur Anwendung gelangt.

[Es folgt Teil II, NZZ Nr. 1616 vom 15.12.1922]

Während der Vermögens- und Erwerbssteuer nur die physischen Personen, die offenen Handelsgesellschaften und Kollektivgesellschaften unterliegen, wird für die Handelsgesellschaften mit Persönlichkeit, die Aktiengesellschaften, Kommanditaktiengesellschaften und Genossenschaften eine besondere Gesellschaftssteuer vorgesehen, die in ihren beiden Teilen, der Kapitalsteuer und der Ertragssteuer, Kapital, Reservefonds und Rückstellungen einerseits, den Reinertrag anderseits belastet. Die Kapitalsteuer zieht grundsätzlich das gesamte, auch das nicht einbezahlte Kapital heran; doch wird das einbezahlte Kapital mit 2 Promille, das nicht einbezahlte dagegen mit ½ Promille belastet. Die Höhe der Ertragssteuer bestimmt sich nach dem Verhältnis des Reinertrages zum Kapital; doch kann sie nicht weniger als 3 Prozent, nicht mehr als 12 Prozent des Ertrages ausmachen. Besondere Bedeutung kommt der Regelung der Steuerpflicht der Holdinggesellschaften zu: da auf ihren Gewinnen schon die Belastung der einzelnen Gesellschaft ruht, so sollen sie für die aus inländischem Geschäftsbetrieb herrührenden Gewinne gar nicht, im übrigen aber nur mit einer Kapitalsteuer von 1 Promille für das einbezahlte, ½ Promille für das nicht einbezahlte Kapital belegt werden.

Da weder eine Nachlasssteuer noch ein Erbanfallsteuer allein in sozialer und steuertechnischer Hinsicht eine befriedigende Lösung darstellen – erstere allein mit progressivem Satze erhoben bewirkt eine relativ härtere Belastung der kinderreichen Erblasser, letztere allein bietet nicht genügend Gewähr für eine völlige Erfassung des Erbvermögens – so werden die Nachlass- und die Erbanfallsteuer miteinander verbunden. Die auf Grund amtlicher Inventarisation festgestellte Erbmasse unterliegt der Nachlasssteuer mit Sätzen von 1 bis 3 Prozent (nach durchgestaffeltem Tarif). Die daraus sich ergebende Belastung ist äusserst mässig; sie beträgt beispielsweise bei 100‘000 Fr. 1 Prozent, bei 500‘000 Fr. 1.6 Prozent, bei 1 Million 2.2 Prozent. – Zu diesen Belastungen tritt die Erbanfall- und Schenkungssteuer hinzu, deren Grundansätze nach den Verwandtschaftsgraden abgestuft sind; der Minimalsatz ist 1 Prozent (Kinder und Ehegatten), der Maximalsatz 12 Prozent. Eine Progressivität der Belastung wird innerhalb der einzelnen Verwandtschaftsklassen in zweifacher Weise erreicht: einmal durch Zuschläge nach der Grösse der Erbquoten in der Höhe von ein Zehntel bis fünf Zehntel des Steuerbetrages, sodann durch Zuschläge nach der Grösse des bisherigen Vermögens des Erben. Hiermit konzipiert das Gesetz eine noch nicht allgemein gewordene, in sozialer Hinsicht aber durchaus gebotene Neuordnung des Erbschaftssteuergesetzes. Diese Zuschläge setzen bei Vermögen von mehr als 10‘000 Fr. mit 5 Prozent des Steuerbetreffnisses ein, steigen um je 5 Prozent und erreichen für Vermögen von mehr als 250‘000 Fr. gleich 25 Prozent des Steuerbetrages. Trotz diesem doppelten Zuschlagsystem hält sich die Gesamtbelastung durchaus in mässigen Grenzen; sie beträgt je nach der Grösse des Erbanfalles für Kinder und Ehegatten 0.38 bis 1.88 Prozent; für Eltern, Grosseltern und Geschwister 1.25 bis 3.75 Prozent; für Schwieger- und Geschwisterkinder 5 bis 9.75 Prozent; für Oheim, Onkel und Tante 9 bis 16.88 Prozent; für entferntere Verwandte und Nichtblutsverwandte 12 bis 22.5 Prozent. Im Vergleich mit den heute im weitern Ausland und auch in der Schweiz zur Anwendung gelangenden Sätzen sind diese Ansätze als niedrig zu bezeichnen.

Von den beiden vorgesehenen Verbrauchsabgaben: Tabak- und Getränkesteuer, regelt das Steuergesetz die Getränkeabgaben. Die Steuer auf Wein, Most, Bier und Branntwein ist als Ausschanksteuer konstruiert, die beim Ausschank oder im Kleinverkauf erhoben wird. Um die Kellerkontrolle und andere Sicherungsmassnahmen auf ein absolut notwendiges Minimum einzuschränken, hat der Gesetzgeber zwei äusserst wichtige Hilfssituationen vorgesehen: 1. Pauschalierungen der Steuer, und 2. Entrichtung durch Steuergesellschaften. Durch die Pauschalierung, die für drei Jahre mit Kündigungsrecht des Fiskus vorgenommen wird, erhält der Pflichtige die Möglichkeit, seine Unkosten auf längere Zeit kalkulieren zu können. Sodann könne aber auch auf Wunsch eines bestimmten Teiles der Pflichtigen einer Gemeinde, mehrerer Gemeinden oder des ganzen Landes alle Pflichtigen der betreffenden Gemeinde oder der Gemeinden zu Steuergesellschaften vereinigt werden. Diese verpflichten sich, einen bestimmten Steuerertrag zu liefern und legen das Steuersoll auf ihre Mitglieder um. Die Institution der Steuergesellschaft bietet nicht allein den Vorteil, die Erhebungskosten der Steuer zu vermindern; sie bildet auch für das betroffene Gewerbe einen Anreiz zu möglichst rationeller Wirtschaftsführung, d.h. zur Verminderung der prozentualen Belastung durch Steigerung der Reingewinne bei gleichbleibender Steuerleistung.

Soweit überhaupt durch gesetzliche Bestimmungen Garantie und Gewähr für eine allseitige Erlassung der Steuerobjekte und für eine gleichmässige Heranziehung aller Staatsbürger zur Tragung der öffentlichen Lasten geschaffen werden können, so weit erscheint diese Gewähr durch diese Gesetzgebung geleistet. Die Erfolgsaussichten des Steuergesetzes liegen im Zusammenwirken zweier Faktoren begründet: einerseits in enger Anpassung der einzelnen Steuern an die wirtschaftlichen und sozialen Gegebenheiten, anderseits in geschickter Heranziehung steuertechnischer Hilfsmittel (man denke an die Pauschalierungen, die Steuergesellschaften) weiser Zurateziehung und konsequenter Befolgung gesunder Besteuerungsrundsätze innerhalb des durch die besondern Verhältnisse strikte gezogenen Rahmens. Erkenntnis des grundsätzlich Richtigen ist hier mit Einsicht in das praktisch Erreichbare zu einem glatten Guss verschmolzen.

Der Erfolg aber auch der vollkommensten Gesetzgebung ist durch die Durchführung mitbedingt. Auch hier gibt der Gesetzgeber der Steuerpraxis die Mittel zur Sicherung des Gesetzvollzuges in die Hand, indem es Anzeigepflicht, strafrechtliche Sanktionen usw. regelt – ein charakteristischer neuer Zug bildet in dieser Beziehung eine Busse für „Steuertrödelei“. In dieser wie in andern Vorschriften, z. B. im Recht der Steuerrückforderung, kommt der Wille zum Schutze des exakten und gutgesinnten Steuerzahlers zum Ausdruck, die der Fiskalismus in unpsychologisch-roher und kurzsichtiger Weise als seinen Vordergrundszielen nicht direkt dienend ausser acht lässt. Nur aber, wo der einzelne die Strenge und die Gerechtigkeit des Gesetzes zu spüren bekommt, erreicht die Gesetzgebung jene Bindung des Bürgers an den Staat, aus der wahres staatliches Leben fliesst.

Angesichts dieser Gesetzgebung bleibt aber nur der Wunsch, dass, nachdem der Landtag das Gesetz mit Einstimmigkeit gutgeheissen, nun auch das Volk den richtigen Entscheid treffe und mit der Annahme und Durchführung seines Steuergesetzes einen bedeutsamen Schritt auf dem Wege wirtschaftlichen Gedeihens vorwärts tun möge.

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[1] Teil I NZZ Nr. 1612 vom 14.12.1922, Teil II NZZ Nr. 1616 vom 15.12.1922. Belegexemplar in LI RE 1922/46).