Schweizer Zeitungen berichten über die Inflation und die prekäre Lebensmittelversorgung in Liechtenstein


Korrespondentenbericht im St. Galler Tagblatt und im St. Galler Stadtanzeiger, nicht gez. [1]

Oktober 1916

Teuerung und Notlage im Fürstentum Liechtenstein

(Korr.)

Die Verhältnisse im kleinen Fürstentum, dieser absoluten Friedensinsel im kriegsdurchtobten Europa, sind keineswegs rosig. Die Lebensmittel sind furchtbar teuer und zum Teil nur aus Österreich unter grossen Opfern zu erhalten, d. h. gegen Kompensationen. So z.B. liefert die Nachbarmonarchie Kaffee und Zucker gegen Schlacht- und Nutzvieh. Trotzdem kostet das Kilo Kaffee 8, 9 und 11 Kronen, ein horrender Preis für jenes Genussmittel, das auch dem Unbemittelten unentbehrlich ist. Die Qualität des zu 8 Kronen erhältlichen Kaffees ist zudem eine recht geringe. Durch die wegen dem Kompensationsverhältnis nötig gewordene Viehausfuhr sind Milch und Fleisch sehr teuer geworden. Erstere kostet z. B. 30 Heller für die Bemittelten. Bedürftige zahlen indessen nur 24 Heller; die Differenz begleicht die Landeskasse, der Staat. Fleisch ist im Verkauf sozusagen nicht mehr erhältlich. Die Metzger schlachten längst nicht mehr auf eigene Rechnung und Gefahr, sondern metzgen nur die ihnen gebrachten Tiere und erheben dafür eine gewisse Gebühr. Es kann drei Wochen lang dauern, bis ein Tier getötet wird. Da Österreich kein überschüssiges Mehl besitzt, ist das Ländli Liechtenstein hier auf die Schweiz angewiesen. Wenn Mehl erhältlich ist, so kostet es im Verkauf 70 Heller per Kilo. Glücklicherweise war und ist die Kartoffelernte eine ordentliche. Dagegen ist die Türkenernte in Frage gestellt, da das schlechte Wetter das Ausreifen verhindert. Ganz bös steht es mit dem Wein. Der berühmte Vaduzer lockt in normalen Jahren an den zwei Sausersonntagen ganze Prozessionen von schweizerischen Weinfreunden hinüber. 1916 verspricht quantitativ nur ein Viertel der Normalernte und die Qualität wird der konstanten Sonnenlosigkeit entsprechend sein. Reis gibt es überhaupt nicht und Makkaroni und Nudeln dann und wann aus der Schweiz zu den gleichen Preisen, wie bei uns.

Es ist gestattet, jeden Tag für eine Haushaltung 2 Pfund Brot und 1 Pfund Fleisch aus der Schweiz zu beziehen, doch gilt dies nur für den kleinen Grenzverkehr. Die Begünstigung wird aber lebhaft beansprucht. Wöchentlich dürfen je ein Pfund Käse und Schokolade aus der Schweiz eingeführt werden. Das Ei kostet 32 Heller. Wer es mit 20 Rp. Schweizergeld bezahlt, erhält es aber leichter, als der Besitzer von österreichischem Gelde. Zucker ist in zwei Sorten erhältlich, nämlich Würfel- und Kochzucker und zwar zu Kr. 1.20 das Kilo. Wegen allgemeinem Viehmangel ist die Käseproduktion sehr zurückgegangen und der saure Käse, also billigste Sorte, kostet das Kilo volle 3 Kronen, ein unerhörter Preis. Von mässig gutem Türkenbrot ist der drei Viertel-Pfundlaib zu 70 Heller zu bekommen, während für das Pfund Seife Kr. 3.50 bezahlt werden. Salatöl ist nicht erhältlich. Das Kilogramm ungeräuchter Speck kostet 5 Kr. und der geräucherte sogar 7 Kronen. Ein Paket Zündhölzer ist zu 60 Hellern erhältlich, während in Zigarren und Tabak völlige Ebbe eingetreten ist. Die Raucher müssen sich also nach der Schweiz bemühen.

Auch mit dem Ertrag der Kartoffelernte steht es schlimm. So teilte ein Fabrikdirektor mit, er müsse momentan von Hof zu Hof pilgern, um für sein Arbeitspersonal die nötigen Kartoffelvorräte für den Winter zu sammeln. Seine Bemühungen hätten jedoch bisher keineswegs ein gutes Resultat gezeigt.

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[1] St.Galler Tagblatt 20.10.1916, St. Galler Stadtanzeiger 28.10.1916 (LI LA SgZs 1916)