In einem Zeitungsartikel wird die Schollenflucht der Bauern bedauert und das Leben der Bauern mit dem der Fabrikarbeiter verglichen


Zeitungsartikel (Ausschnitt), nicht gez. [1]

Die Schollenflucht (Schluss)

[...]

Was die fremden Arbeitskräfte der Landwirtschaft anbelangt, die nicht zu den Familien der Betriebsinhaber gehören, so ist es wirklich schwierig, der Schollenflucht entgegenzuarbeiten.

Unselbständig Erwerbende finden nun einmal in der Industrie und im Gewerbe eine Lohnarbeit, die den meisten vorteilhafter erscheint als die Lohnarbeit im Dienste der Landwirtschaft. Wo sie ihre Arbeitskraft besser an Mann bringen können, da wenden sich die Leute eben hin. Auch diejenigen, welche diesen Arbeiterscharen die Landflucht zum Vorwurfe machen möchten, würden wohl nach demselben Grundsatze handeln, wenn sie selber ausschliesslich auf ihrer Hände Verdienst angewiesen wären.

Es sind nun nicht so fast [!] die höheren Löhne, die den Arbeiterstrom der Industrie zulenken, als vielmehr die Aussicht, dass bei der Industrie die Beschäftigung sicherer, der Broterwerb dauernder und weniger unterbrochen sein werde, als im Dienste der Landwirtschaft. Das Gespenst der Arbeits- und Brotlosigkeit droht dem soliden Industriearbeiter bei regelmässigem Geschäftsgange nicht, er hat Sommer und Winter seinen Verdienst. Bei der Landwirtschaft aber bringt es die Natur der Beschäftigung mit sich, dass zu gewissen Jahreszeiten viele Arbeitskräfte entbehrlich und dann mehr oder weniger verdienstlos werden; denn bei der geringen Rendite sind die wenigsten Bauern imstande, überflüssige Arbeiter den Winter hindurch zu behalten. So lange dies der Fall ist, helfen alle Klagen über die Landflucht nichts, und der Übelstand ist derart, dass hier vorderhand keine Maus einen Faden abbeisst! Bei dieser Sachlage ist es fast ein Trost, dass die fremden Arbeitskräfte in der schweiz. Landwirtschaft keinen grossen Prozentsatz bilden; die meisten Betriebe arbeiten mit „eigenen Leuten".

Um so mehr muss daraufhin gestrebt werden, dass wenigstens diese Kräfte, wenn immer tunlich, der Landwirtschaft erhalten bleiben. In Schule und Elternhaus sollte darum der ländlichen Jugend mehr Freude am landwirtschaftlichen Berufe beigebracht, es sollten die Vorzüge der Landarbeit auf eigener Scholle wieder mehr hervorgehoben und nicht immer einseitig gewisse Schattenseiten des bäuerlichen Gewerbes in Klageliedern besungen werden.

Der Bauer meint gar oft, jeder hellere Kopf unter seinen Söhnen sei zu gut für die Landarbeit und müsse ein Schreiber, Lehrer oder sonst ein „Gstudierter" werden. Er vergisst dabei, dass die Landwirtschaft gerade heutzutage zu einem rationellen Betriebe geweckte Leute braucht und dass der moderne Bauer womöglich ein Universalgenie im Kleinen sein sollte, ein Zoologe und Botaniker, ein Maschinenkenner und Agrikulturchemiker.

Und wie manche Mutter fürchtet, ihre Töchter könnten bei der Landarbeit an der Sonne „wüest" werden und müssten darum etwas „Besseres" abgeben als die Eltern! Und gilt nicht bei so mancher Verheiratung der Grundsatz: Nur kein Bauer?

Mit dem ewigen Wehklagen über die Schattenseiten des eigenen Standes und dem unzufriedenen Schielen nach den Vorzügen der andern Berufe (als ob dort alles prima wäre) bringt man es eben fertig, dass die Jungen der väterlichen Scholle Lebewohl sagen und das Übel noch grösser wird. Es mag ja sein, dass viele Lohnarbeiter der Industrie sich etwas besser stellen, als der Landmann, wenn man nur nach Batzen rechnet. Aber hat nicht die Arbeit des Landmanns manche Lichtseite, die der Fabrikarbeiter entbehren muss? In die Werkstätten eingeschlossen, an die Maschine gefesselt, vielleicht jahraus jahrein mit der geisttötenden Herstellung immer desselben Stückes beschäftigt, fern von Weib und Kindern, fremdem Willen unterworfen, verlebt mancher Industriearbeiter seine Tage. Der Landmann dagegen hat den erfrischenden Wechsel der Tagesordnung, der Beschäftigung, der Jahreszeiten, hat seine Werkstätte in der frischen Luft, in der schönen Natur, inmitten seiner Familie, ist sein eigener Herr und Meister. Soll er diese schönen Seiten seines Berufes nicht auch schätzen? Darum ruft der Bauerndichter [Alfred] Huggenberger mit Recht in dem Gedichte „Fahnenflucht" [2] seinen Standesgenossen zu:

Ich kann dich nicht verstehen,
Du Bauernsohn von altem Holz;
Du schrittest hinterm Pfluge her
So sicher und so stolz!

Du schärftest deine Sense
Beim ersten roten Morgenschein,
Wie führtest du so guten Streich!
Dich holte keiner ein.

Ich kann es nicht verstehen,
Dass du zur Stadt den Schritt gewandt.
Hat dich ein letzter Blick in's Tal
Nicht an die Scholle gebannt?

Kommt durch den Rauch der Schlote
Nicht oft ein scheuer Gruss zu dir
Von einer Wiese, waldumzirkt,
Von stiller Gärten Zier?

Singt nicht der Dengelhammer
Sein Lied in deiner Nächte Traum?
Und weckt dich nie der Staren Brut
Im alten Apfelbaum?

Die Frühlingswolken wandern,
Der Märzwind trocknet Weg und Rain,
Schon geht der erste Pflug im Feld —
Möcht' es der deine sein! (Bünd. Tagbl.)

______________

[1] L.Vo. 3.4.1908, S. 5. Der Artikel wurde wohl aus dem Bündner Tagblatt übernommen.
[2] Das Gedicht ist auch zu finden im "Lesebuch für das vierte und fünfte Schuljahr der Liechtensteinischen Volksschulen". Herausgeber und Verlag Landesschulrat des Fürstentums Liechtenstein, Vaduz 1928, S. 123.