Kabinettsdirektor Josef Martin fragt Regierungschef Josef Ospelt an, ob das Handschreiben des Fürsten zur Sanktion der Verfassung den Wünschen des Churer Bischofs Georg Schmid von Grüneck entsprechend abgeändert werden soll


Maschinenschriftliches Schreiben von Kabinettsdirektor Josef Martin an Regierungschef Josef Ospelt [1]

25.9.1921, Feldsberg

Sehr geehrter Herr Regierungschef!

Am 23. d.M. langte in Feldsberg ein Schreiben des hw. Herrn Bischofs von Chur [Georg Schmid von Grüneck] an Seine Durchlaucht [Johann II.] vom 14. d.M. ein. [2] In demselben führt der hw. Bischof an, dass er, als derselbe vom Verfassungsentwurfe [3] Kenntnis erhielt, bei der Regierung wegen 3 Paragraphen, die entweder direkt die Lehre der kath. Kirche verletzten oder aber die Rechte der kath. Kirche nicht genügend wahrten, 2mal vorstellig geworden sei. [4] "Bezüglich Art. 37 und 38 ist die Kommission entgegen gekommen. In Bezug auf Art. 16 aber hat die Kommission an den beiden Bestimmungen festgehalten: das gesamte Erziehungs- und Unterrichtswesen steht /unbeschadet der Unantastbarkeit der kirchlichen Lehre/ unter staatlicher Aufsicht und im Absatz 7 wird die oberste Leitung des Erziehungs- und Unterrichtswesens dem Staate zugeschrieben.

Diese beiden Sätze widersprechen direkt der katholischen Lehre, dass Christus in erster Linie der kath. Kirche den Lehr- und Erziehungsauftrag erteilt hat: 'Gehet hin und lehrt alle Völker.'

In der Erwägung einerseits, dass Einer besser sein kann als sein Ruf, d.h. dass die praktische Ausführung eines Gesetzes dessen redaktionelle Mängel verbessern kann; sodann in der Voraussetzung anderseits, dass weder das brave katholische Volk von Liechtenstein, noch sein erlauchter frommer Fürst, noch der Wortlaut der Sanktion der Verfassung es je dulden wird, dass aus dem Wortlaut eines anfechtbaren Satzes ein Recht abgeleitet werde, zur Verletzung des göttlichen Rechtes der Kirche und des natürlichen Rechtes der Eltern auf Erziehung und Unterricht ihrer Kinder; und in Erwägung endlich, dass das Land Liechtenstein Ruhe braucht – nach so viel Unruhe und Unrast der letzten Jahre, sehen wir für jetzt von einer Remedur jener Bestimmungen ab und nachdem ich meiner beschworenen Pflicht der Belehrung und der Verwahrung gegenüber § 16 nachgekommen bin: will ich der Erste sein, welcher dem schönen lieben Lande Liechtenstein, diesem altehrwürdigen Teile meines Bistums, unter der neuen Verfassung Gottes reichlichsten Segen wünsche und die Früchte des hl. Geistes, wie sie der hl. Paulus der Christengemeinde von Galata gewünscht hat: 'Liebe, Friede, Geduld, Güte Treue, Sanftmut, Enthaltsamkeit und Keuschheit'. Wo diese Tugenden wohnen, da wohnt ein braves, tüchtiges kath. Volk, das stets dem Kaiser geben wird, was des Kaisers ist, aber auch Gott geben wird, was Gottes ist.

Um aber auch in Zukunft dem Lande einen Kampf auf religiös-kirchlichem Gebiete, welcher Kampf die Gemüter weit mehr erregt als selbst wirtschaftliche Kämpfe, zu ersparen und um die Möglichkeit zu benehmen, die Bestimmungen des § 16 gegen die Rechte der Kirche auszuschlachten, wollen Eure Durchlaucht gestatten, dass ich als Diözesanbischof die dringende Bitte an Euer Durchlaucht richte, die Sanktion der Verfassung so zu gestalten, dass dem Sinne nach die Klausel, die der Apostolische Stuhl in solchen Fällen stets beifügt: 'Salvis juribus Ecclesiae', [5] enthalten ist. Die Sanktion könnte beispielsweise so lauten:

Unter Anrufung des Namens Gottes, des Allmächtigen, unter Wahrung der Rechte der Kirche und des christlichen Volkes und in der schönen Hoffnung, dass die neue Verfassung meinem geliebten Land und Volke zum Frieden und zur Wohlfahrt gereichen werde, sanktioniere ich hiemit die gegenwärtige Verfassung etz.

Damit würde für jetzt und für später allen Weiterungen vorgebeugt und auch der bürgerliche Friede und die Eintracht gefördert durch die Sicherung des religiös-kirchlichen Friedens und der verständnisvollen Zusammenarbeit von Kirche und Staat zur zeitlichen und ewigen Wohlfahrt des Volkes …"

Im höchsten Auftrage ersuche ich nunmehr und zwar nach vertraulichem Einvernehmen nach Ihrem Ermessen mit den Herren Landtagspräsidenten [Friedrich Walser] und Landtagsvicepräsidenten [Wilhelm Beck], Verfassungskommissionen etz. mir ehetunlichst mitteilen zu wollen, ob und inwieweit den Wünschen des hw. Herrn Bischofs entsprochen werden, bezw. dessen Anregungen im Handschreiben ad Zl 4018/Reg. Aufnahme finden könnten. [6] Dass Seine Durchlaucht auf ein gutes Einvernehmen vom Fürstenhaus und Land mit der kirchlichen Oberbehörde einen grossen Wert legen, ist selbstverständlich.

Mit dem Ausdrucke der besonderen Hochachtung des Regierungschefs ergebener

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[1] LI LA RE 1921/4348 ad 963. Aktenzeichen: Präs. 191. Auf der Rückseite des Bogens handschriftliche "Drahtantwort" von Ospelt vom 30.9.1921.
[2] LI PA Paul und Judith Kaiser-Eigenmann, Nachlass Josef Ospelt, Bischof Georg Schmid von Grüneck an Johann II., 14.9.1921 (Abschrift "Lediglich zur Kenntnis des Herrn Regierungschefs").
[3] LI LA RE 1921/0963, Regierungsvorlage von Josef Peer, 12.1.1921.
[4] Der Bischof von Chur hatte am 13.5.1921 bei Fürst Johann II. vorgesprochen und Änderungswünsche zum Verfassungsentwurf vorgebracht (vgl. dazu LI LA RE 1921/3290 ad 963, Emil Beck an Regierung, 21.7.1921). Am 1.8.1921 brachte der Bischof bei einem Treffen mit Prinz Franz, Josef Ospelt und Landesvikar Johann Baptist Büchel erneut Forderungen zur Verfassungsrevision vor, die von der Verfassungskommission teilweise berücksichtigt wurden (vgl. dazu LI LA SF 01/1921/125, Prinz Franz an Kabinettskanzlei, 2.8.1921; LI LA SF 01/1921/134, Ospelt an Bischof Schmid von Grüneck, 5.8.1921). Schmid von Grüneck gab sich damit jedoch nicht zufrieden, sondern unterbreitete weitere Änderungswünsche (LI LA RE 1921/3690 ad 963, bischöfliches Ordinariat Chur an Ospelt, 17.8.1921; LI LA SF 01/1921/141, Schmid von Grüneck an Ospelt, 18.8.1921), denen der Landtag bei der Annahme der Verfassung am 24.8.1921 teilweise entgegenkam (LI LA RE 1921/3693 ad 963, Ospelt an Schmid von Grüneck, 27.8.1921; LI LA SF 01/1921/ad 141, Ospelt an Johann Baptist Büchel, 27.8.1921).
[5] Lateinisch für: Vorbehalten die Rechte der Kirche.
[6] Ospelt schlug nach Rücksprache mit Prinz Karl mit Telegramm vom 30.9.1921 vor, im Entwurf des Handschreibens (LI LA RE 1921/4243 ad 963) im Satz "[…] und aus dem altbewährten, verständnisvollen Zusammenarbeiten von Staat und Kirche auch auf dem Boden des neuen Staatsgrundgesetzes Meinem Volke und Meinem Lande neues Heil und reicher Segen erblühe" nach "altbewährten" die Worte "und auch weiterhin zu pflegenden" einzuschieben (LI LA RE 1921/4348 ad 963, Telegramm Ospelt, 30.9.1921). Von der "Aufnahme einer Formel", wie vom Bischof gewünscht, könne hingegen selbstverständlich "keine Rede sein" (LI LA RE 1921/4348 ad 963, Ospelt an Martin, 2.10.1921). Zur definitiven Fassung des Handschreibens vgl. O.N., Nr. 78, 8.10.1921, S. 4 ("Kundmachung").