Das „Prager Tagblatt“ berichtet über die Haltung der tschechoslowakischen Regierung zur Souveränität des Fürsten von Liechtenstein


Artikel im „Prager Tagblatt“ [1]

27.9.1923, Prag

Liechtenstein und die Tschechoslowakei

Genf, 26. Sept. Das Fürstentum Liechtenstein bemüht sich seit dem Zerfall Österreich-Ungarns Anerkennung seiner Selbständigkeit und diplomatische Vertretung bei den anderen Staaten zu erzielen. Bis jetzt hat nur England Liechtenstein als selbständigen Staat anerkannt, und zwar im April 1920. [2] Als im Völkerbund über das Gesuch Liechtenstein um Aufnahme in den Völkerbund verhandelt wurde, wurde ausgesprochen, dass kein Zweifel darüber bestehe, dass Liechtenstein ein souveräner Staat sei. [3] Jetzt sollen auch andere Staaten dem Beispiel Englands folgen, aber das Verhältnis zwischen Liechtenstein und Tschechoslowakei ist ein wesentlich anderes als zu den übrigen Staaten. Der Standpunkt der Prager Regierung ist: Die Tschechoslowakei war ein Teil der österreichisch-ungarischen Monarchie. Liechtenstein war gewissermassen ein Annex Österreichs. Der gewesene österreichische Staat hat mit seinen Organen die automatische Staatsmacht Liechtensteins besorgt (diplomatische Vertretung, Zollverwaltung, Postverwaltung, Justiz in höheren Instanzen usw.). Der Fürst Liechtenstein [Johann II.] verhielt sich gegen Österreich wie der heimische Adel. Die Mitglieder seiner Familie hatten verschiedene österreichische Staatsämter übernommen und der regierende Fürst hatte seinen ordentlichen Wohnsitz in Österreich. Er war Mitglied des österreichischen Herrenhauses. Über eine Exterritorialität könne also in diesem Falle nicht gesprochen werden. [4]       

Das wichtigste für die Tschechoslowakei ist aber, so wird betont, die wirtschaftliche Frage der geforderten Anerkennung. Man dürfe nicht vergessen, dass Fürst Liechtenstein den grössten Teil seines Vermögens in der Tschechoslowakei hat. Die Bodenreform, Vermögensabgabe und Zuwachssteuer müssten, wenn Liechtensteins Selbständigkeit anerkannt werden sollte, und der Fürst Liechtenstein folglich Souverän wäre, ganz anders behandelt werden, als Angelegenheiten eines fremden Herrschers. Mit Rücksicht auf die politischen Verhältnisse in der Tschechoslowakei sei dies unmöglich. Die Grundstücke des Fürsten Liechtenstein seien mit die besten, die Nachfrage nach ihnen sei eine grosse. Sie wurden nach dem ersten Teile des Programmes des Bodenamtes nach einem gegenseitigen Übereinkommen übernommen, nach Ansicht des Fürsten solle das aber kein Präjudiz für die weitere Durchführung der Bodenreform sein. Auch mit der Bewertung seines Vermögens für Steuerzwecke wurde begonnen, und das Erträgnis der Vermögensabgabe und Zuwachssteuer ist natürlich sehr gross.

Nach dem jetzigen Stande behandelt die Prager Regierung den Fürsten als einen Ausländer, der nicht in der Tschechoslowakei wohnt. Was die Frage der Anerkennung anbelangt, wäre die Prager Regierung nicht dagegen, aber unter der Bedingung, dass das Vermögen des Fürsten des Fürsten mit Rücksicht auf Bodenreform, Vermögensabgabe und Zuwachssteuer aus der Anerkennung ausgenommen werde.

Der Fürst hat in dieser Hinsicht eine Erklärung abgegeben, welche der Prager Regierung nicht genügt, daher wird weiter verhandelt, und zwar nicht nur in Prag, sondern jetzt auch in Genf. [5]

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[1] „Prager Tagblatt“, Nr. 225, 27.9.1923, S. 3. Das zwischen 1876 und 1939 erscheinende „Prager Tagblatt“ war die grösste liberal-demokratische deutschsprachige Zeitung Böhmens. Zur Frage der liechtensteinischen Souveränität vgl. auch den Artikel „Der kleine Souverän und die grossen Demokraten“ im „Prager Tagblatt“, Nr. 242, 15.10.1921, S. 3.
[2] Vgl. in diesem Zusammenhang den Bericht des liechtensteinischen Gesandten in Wien, Prinz Eduard, an den liechtensteinischen Landesverweser Prinz Karl vom 11.11.1919 über eine Unterredung mit dem britischen Bevollmächtigten Sir Francis Lindley betreffend die Vertretung der liechtensteinischen Interessen in London (LI LA V 002/0170/12 (Aktenzeichen der liechtensteinischen Gesandtschaft in Wien: 422/1); LI LA V 003/0069). Vgl. ausserdem die von der liechtensteinischen Gesandtschaft in Bern am 14.7.1920 erstellte Liste der Staaten, welche der diplomatischen Interessenvertretung Liechtensteins durch die Schweiz zugestimmt hatten – u.a. hatte sich Grossbritannien zustimmend geäussert (LI LA RE 1920/3241 ad 0141). Zur diplomatischen bzw. konsularischen Interessenvertretung Grossbritanniens gegenüber Liechtenstein durch den britischen Gesandten in Bern bzw. den britischen Generalkonsul in Zürich in den Jahren 1921 bis 1924 vgl. LI LA V 002/0097. 
[3] Vgl. den Bericht der 5. Kommission der Völkerbundversammlung vom 6.12.1920 (LI LA V 003/0131 (Aktenzeichen der Gesandtschaft Wien: 146/1-21)).
[4] Vgl. dagegen das Gutachten des Wiener Völkerrechtsprofessors Leo Strisower über die Souveräntität des Fürsten von Liechtenstein vom Februar/März 1921 (LI LA V 003/0337 (Aktenzeichen der Gesandtschaft Wien: 153/1)).  
[5] Der Hintergrund für diese Ereignisse war eine Verbalnote der liechtensteinischen Regierung vom Februar 1922, in welcher das tschechoslowakische Aussenministerium über das liechtensteinische Ansinnen informiert wurde, eine Gesandtschaft in Prag errichten zu wollen. In einer daraufhin von Liechtenstein verlangten Erklärung sollte zugesichert werden, dass weder Fürst noch Regierung durch die Errichtung einer Gesandtschaft in Prag Sonderbegünstigungen bezüglich der Bodenreform oder sonstiger tschechoslowakischer Gesetze beanspruchen würde. Der Entwurf einer solchen Note vom Februar 1923 behielt sich jedoch jene Vorzüge vor, die dem Fürsten als Oberhaupt eines souveränen Fürstentums nach dem Völkerrecht in Übereinstimmungen mit den dortigen Gesetzen und internationalen Gepflogenheiten zustehen würden. Die ablehnende Haltung der Tschechoslowakei veranlasste Liechtenstein wieder die Frage der Vertretung in Prag durch die Schweiz aufzugreifen (vgl. das Schreiben der fürstlichen Kabinettskanzlei an die liechtensteinische Gesandtschaft in Bern vom 24.7.1923 unter LI LA V 002/0048 (Aktenzeichen der Kabinettskanzlei: Präs. No. 55/5. Aktenzeichen der Gesandtschaft Bern: 873)).