Josef G. Rheinberger berichtet seinen Schwestern über das Unwetter in Brunnthal und Pasing.


Brief Josef G. Rheinberger an seine Schwestern
18. November 1854, München


Liebes Lisi!                                      Liebes Matscherle!
Jetzt habe ich mir gedacht
einem von Euch 2
müsste ich schreiben, und
um es noch besser zu ma-                 Detto
chen, schreibe ich beiden.
Ist es so recht?

Doch was solle ich noch schreiben? I wäss ger nüd meh [1]! Dieses Jahr habe ich erst eine Birne gegessen, das ist das Wichtigste.
Und wie viele Du? Und wie viele 1000 Du? Matscherli!
Das Wetter ist hier sehr schön, wahrscheinlich in Faatutz auch, ich gehe beinahe alle Täger zum Baden. Letzten Sonntag war hier ein schreckliches Ungewitter, davon im 2ten Theile - däd der Fetz säga [2]- - -

[Notenbeispiel]
O du ar - mer mar gar eh ta

2ter Theil.

Ich ging mit 2 Freunden in den englischen Garten. Nachdem wir ungefähr bis halb 5 Uhr dortgewesen waren, kam ein entsetzlicher Wind, so dass die Bäume rechts und links einstürzten und über die Wege hinfielen, auch fing es an zu regnen. Jetzt hättest Du sehen sollen, wie alle Leute zu laufen anfingen! Besonders aber, wenn wieder ein Baum prasselnd abbrach und über den Boden fiel, so schrien die Frauenzimmer vor Schrecken ganz entsetzlich. Den Durcheinander kannst Du Dir denken, als diese vielen 1000 Personen, die an diesem Tage im englischen Garten waren, durch die Anlagen, Wege, Zäune hin auf Tod und leben zu laufen anfingen. Wir waren in Brunnthal (wo ich vor 3 Jahren mit dem Vater, Lampert, Marxer war) als dort auch Bäume einstürzten und eine ganze Reihe Sommerhäuschen zusammenschlug, glücklicherweise waren die Leute schon davongelaufen, unglücklicherweise für die Wirthe grösstentheils ohne zu bezahlen, nur zerbrochene Gläser hinterlassend. Nun fing es auch noch zu hageln an. Die Fiaker waren in Verzweiflung, überall, wo sie hinfuhren, versperrten solche Bäume den Weg, durch die Gesträuche konnten sie nicht fahren, umkehren grösstentheils auch nicht! Die Leute stiegen alle aus! Nun beim Hageln sah man nichts als zerfetzte Sonnen-und Regenschirme, welche viele Leute aufgemacht, trotz dem wüthenden Winde. -
Die Meisten brachten von den Schirmen nur noch einen Spatzirstock heim! -
Nun beim Hageln verbanden sich die elegantesten Damen Sacktücher und Schürzen um ihre Hüte. Diejenigen welche das nicht thaten, deren Hüte sahen aus wie Potchambern. Dieses ewige Schreien, laufen; überall Leute, soweit man sah, rührte sich alles; und als ein paar Besoffene noch zu jauchzen anfingen, das Donnern, Hageln, Blitzen, Bäume einfallen, machte einen tragikomischen Effekt. Im Hofgarten fand ich einen Hagelstein von der Grösse meiner Faust! Das hat gewiss vielen Hüten die Gopfen [3]gekostet. In der Ludwigsstrasse schlug es 4 mal hintereinander ein, jedoch ohne zu zünden, es krachte beständig wie eine Batteriesalve. Einmal schlug es mitten in der Ludwigsstrasse ein Loch von 10' Länge und 5' Breite bis in den Strassenkanal hindurch, wobei eine Frau vom Blitze gestreift wurde und darüber den Verstand verlor.
Wir kamen noch ganz passable durch. Die Pferde waren alle scheu und die Kutscher ganz wüthend. Das war bloss auf der nördlichen Seite der Stadt, auf der südlichen (wo ich wohne) war den ganzen Nachmittag Sonnenschein. Am Ärgsten soll es beim chinesischen Thurm gewesen sein. (Da war ich nicht dabei) Da suchten eine Menge Menschen Obdach, als 4 ungeheure Bäume auf denselben fielen, und da er ganz von Holz ist zum Wanken brachten; das Geschrei soll furchtbar gewesen sein; wenn er eingestürzt wäre, müssten einige 100 Menschen ihr Leben verloren haben! -

Das schönste nun im 3ten Theile!

3ter Theil

Am nämlichen Nachmittage war bei Pasing (Eisenbahnstation, 2 Stunden von hier) ein Ehrsamer Münchner Bürger beim Baden, in einem kleinen Flüsschen. Während dem Baden nun kam der furchtbare Wind und nahm ihm die Kleider plötzlich davon, ausser den Stiefeln, welche er sogleich anzog und ganz triefend den Kleidern nachjagte; 'unglücklicherweise nahm der Wind die Kleider gegen die Eisenbahnstation, wo eine ungeheure Menge Menschen auf die Eisenbahn warteten. Der Unglückliche musste nun in seinem Anzuge (vielmehr Nicht anzuge) gegen die Leute rennen, kam ganz rasend durch die Menge hindurch und fing endlich das Gilet auf, zog es an und fing von neuem zu laufen an unter einem furchtbaren Gelächter bis er nach langem das Hemd erwischte! Der arme Tropf. Wahrscheinlich kommt er noch in die Fliegenden Blätter.

Ende von der Predigt! Anm:
Nun bist Du eingeschlafen? Ful's Lisi [4]!
Ist Lisa Schauer hoffentlich Deine Freundin? Viele Grüsse an alle Bekannte. Schreibt mir bald, Du und das Matscherli. Was macht der Toni und die Seffa? Seid ihr immer gesund und schnupft die Mutter recht viel? Das letzte Jahr um die Zeit da wurde Obst vertilgt. Gelt Mali, diessmal hast Du doppelte Arbeit!

Pfüat'ne Gott! An anders mal [5].

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[1] I wäss ger nüt meh = Ich weiss gar nichts mehr.
[2]däd der Fetz säga = würde der Fetz. (Hofkaplan in Vaduz) sagen.
[3] Gopfen = Oberteil des Hutes
[4] Ful's Lisi = Faules Lisi
[5] Pfüat'ne Gott! An anders mal. = Behüt Euch Gott! Ein anderes Mal. (Abschiedsgrussform in Liechtenstein)