Der Landtag empfiehlt den Wählern in seiner Botschaft die Ablehnung der Proporzinitiative


Broschüre, 7 Seiten [1]

24.5.1935

Werte Mitbürger!

Nächsten Donnerstag, den 30. Mai, haben die Wähler Liechtensteins über das Initiativbegehren [2] abzustimmen, das auf die Einführung des Verhältniswahlrechtes bei Landtagswahlen hinzielt, das aber auch die Verfassungsgrundlage für eine später allenfals einzuführende berufsständische Ordnung schaffen soll. Da dieses letztere Ziel jedoch erst später auf dem Wege der Gesetzgebung erreicht werden soll, beschränken wir uns auf die Beurteilung des ersten Teiles der Initiative, des Verhältniswahlrechtes oder des Proporzes. Wir sehen geradezu keine Möglichkeit, den zweiten Teil derselben, die berufsständische Ordnung, hier und jetzt zu beurteilen, weil der Wortlaut des Initiativbegehrens durchaus unbestimmt ist und die verschiedensten, sich gegenseitig sogar ausschliessenden Möglichkeiten offen lässt, sodass dieser Teil des Begehrens als Verfassungsbestimmung nicht nur ungewöhnlich, sondern direkt unverantwortlich erscheint.

Das Verhältniswahlrecht oder der Proporz will jeder Partei eine ihrer Stärke entsprechenden verhältnismässige Vertretung im Landtage geben. Wenn man sich uneingeschränkt auf den Boden des Parteistaates stellt, scheint dieses Wahlsystem gerecht zu sein, weil es jeder Partei so viel Abgeordnete gibt, als ihr gemäss der Parteistimmen-Zahl zukommen. Diesem Vorzug stehen jedoch soviel Mängel gegenüber, dass uns der Proporz für unser Land durchaus ungeeignet erscheint.

A. Der Proporz im allgemeinen Urteil der Gegenwart

Aus dem großen katholischen Staatslexikon, herausgegeben im Auftrage der Görres-Gesellschaft, Bd. 5, Seite 1071:

"Die Mehrzahl der europäischen Staaten, ausgenommen England, war während des Weltkrieges oder nach seiner Beendigung zur Verhältniswahl übergegangen. Bald zeigten sich aber ihre Schwächen, nämlich starke Parteizersplitterung und damit Erschwerung der Regierungsbildung. Allenthalben setzten Versuche ein, den Proporz wieder zu verlassen oder ihn für besondere Bedürfnisse des Parlamentarismus brauchbar zu gestalten."

"Parlamentarisches Regierungssystem und Verhältniswahl sind Gegensätze, die sich schwer vereinbaren lassen."

"Je mehr die Parteizersplitterung überhand nimmt, desto schwieriger ist es, das parlamentarische Regierungssystem funktionsfähig zu erhalten."

Aus der "Neue Schweiz" vom 1. März 1935, Nr. 9:

"Alles ist zersplittert und auseinander gerissen. Nirgends sehen wir eine geschlossene und verantwortliche Mehrheit. Überall Zickzack und Kompromisse, nirgends Einheit und geraden Weg." (Folgen des Proporzes.)

Aus "Neue Zürcher Ztg." vom 3. März 1935, Nr. 365:

"Was hat uns seit den Kriegsjahren politisch abwärts gebracht? - Nicht das Versagen der Demokratie, das Fehlen einer autoritären Staatsordnung, sondern einzig und allein die als Folge der wirtschaftlichen Schwierigkeiten und des proportionalen Wahlsystems zunehmende Aufteilung des Volkes in Interessengruppen."

Aus der "neue Zürcher Ztg." vom 25. Nov. 1934, Nr. 2115:

"Auf den Widersinn der Verhältniswahl ist im früheren politischen Schrifttum Deutschlands wiederholt hingewisen worden. Politische Reife und Erfahrung haben unser Volk und unsere Volksvertreter vorläufig noch daran gehindert, alle Möglichkeiten, die ihnen das Proporzverfahren bietet, auszuschalten, aber die Möglichkeiten sind da. Und es ist keine Gewähr vorhanden, dass nicht auch wir unter dem Drucke unvorhersehbarer Entwicklungen einst jenem unheilvollen "Parteiismus" entgegentreiben, den die Verhältniswahl nach ihrer ganzen Anlage eben begünstigt. Sie (die Verhältniswahl) begünstigt, wie die Erfahrungen in Deutschland gezeigt haben, die Entstehung neuer Parteien. Brauchte es unter dem Mehrheitswahlsystem mindestens die Hälfte der Stimmen zur Erlangung eines Mandates, so genügt jetzt ein ganz geringer Prozentsatz. Das wirkt ermutigend und kann zumal in einer Zeit, wo so viel verkanntes "Führertum" im Lande umgeht, zur Bildung von "Splitterparteien" führen, deren Lebensnotwendigkeit durch nichts erwiesen ist.

Hand in Hand mit der Überbetonung des Gegensätzlichen geht die Radikalisierung der alten un der neuen Parteien durch den Proporz.

Aus "Die Logik der Demokratie und der Widersinn der Verhältniswahl" von Karl Pfister in "Neue Schweizer Rundschau", Heft 6, Oktober 1934, Seite 396 ff.:

"Die Verhältniswahl bringt zunächst einen krankhaften Zustand des Staatslebens, der ziemlich allgemein mit Parteienstaat oder Parteiismus benannt wird, aber auch als Mehrheitslosigkeit bezeichnet werden könnte."

B. Proporz und politische Folgen

Vorerst müssen wir die irrige Auffassung der Initianten richtigstellen, dass Proporz und die Beibehaltung der sog. Gemeindebindung, d.h. der Vorschrift, dass jede Gemeinde mit über 300 Einwohnern einen Abgeordneten erhalten soll, vereinbar sei. Entweder nimmt man als Grundlage des Wahlsystems die Parteien oder aber die Gemeinden. Beides zusammen zu verbinden, geht nicht an, ohne dem Proporz Gewalt anzutun.

Die auf der ganzen Welt eingetretenen Schäden des Proporzes, die ihn als ein der heutigen Zeit nicht entsprechendes Wahlsystem erscheinen lassen, würden auch vor unserem Lande nicht Halt machen. Auch bei uns würden unerwünschte Folgen eintreten, nämlich:

1. Durch den Proproz finden die Parteien und das Parteiwesen unbedingt gesetzliche Verankerung. Das führt zu jener Missbildung im Staatsleben, die als Parteiismus bekannt ist und von unserem Volke mehr noch als anderswo als unnatürlich empfunden würde.

2. Durch den Proporz treten immer neue Parteien auf den Plan. Kleine oder kleinste Parteien oder Interessenten-Gruppen werden auftreten, ohne dass hiezu eine Notwendigkeit besteht. Während sich heute zwei Gruppen gegenüberstehen, von denen die eine eine klare, feste Mehrheit besitzt, die den ungetrübten Gang des Staatslebens gewährleistet, würden sich inskünftig vielleicht ein halbes Dutzend oder noch mehr Parteien bekämpfen und ihre Sonderinteressen im Landtage verfechten. Eine klare Mehrheit, die sich ihrer Verantwortlichkeit vor aller Öffentlichkeit bewusst ist, wird es nicht mehr geben. Beschlüsse, die für unser Land vielleicht lebenswichtig sind, können aus dem gleichen Grunde (Mangel an notwendiger Mehrheit) nicht mehr gefasst werden oder nur in der Form der berüchtigten "politischen Kuhhändel" zustandekommen. "Wir haben in den bestehenden politischen Parteien gerade genug" ist deshalb die gesunde und allgemein verbreitete Ansicht unseres Volkes.

3. Infolge leicht möglichen Fehlens einer starken, dauerhaften und beschlussfähigen Mehrheit (mindestens 8 Mandate) ist eine Bestellung von Behörden unter Umständen nicht möglich, weil jede der verschiedenen Kleingruppen ihre eigenen Kandidaten hat und auf ihnen beharrt. So sind denn auch überall dort, wo der Proporz eine grössere Anzahl von Parteien ins Parlament bringt, Regierungskrisen an der Tagesordnung. Ein Vergleich mit der Schweiz ist unmöglich, weil dort die Regierung vom Parlamente unanbhägig ist, während bei uns die Regierung zu gehen hat, wenn sie das Vertrauen einer Landtagsmehrheit nicht mehr besitzt. - Kleine, sonst unbedeutende Parteien, gewissermassen das Zünglein an der Waage, schlagen sich bei Abstimmungen für irgend einen Vorteil auf die Seite einer grösseren Partei, aber ebenso oft gegen die Regierungsmehrheit. Ein häufiger Regierungswechsel wäre deshalb auch bei uns die Folge der Einführung des Proporzes. Häufige Regierungswechsel sind nun aber ganz und gar nicht im Interesse eines Landes gelegen. Jedes Land fährt besser mit einer Regierung, die nicht alle Augenblicke von anderen Händen und Köpfen geführt wird.

Angesichts dieser Tatsachen fallen die Behauptungen der Initianten, dass der Proporz politischen Frieden und Zusammenarbeit bringe, in sich zusammen. Von Friede und Zusammenarbeit kann umso weniger gesprochen werden, je mehr streitende Parteien vorhanden sind. Während bei zwei Parteien eine Versöhnung der gegenseitigen Interessen im Bereiche der Möglichkeit liegt, muss eine solche wohl als unendlich schwer, ja unmöglich bezeichnet werden, wenn Gegensätze innerhalb von einem halben Dutzend Parteien ausgegelichen oder geschlichtet werden sollen. Die Behauptung, dass der Proporz Frieden und Zusammenarbeit bringe, wird aber am eindringlichsten Lüge gestraft durch die Entwicklung in den meisten Proporzländern. In Deutschland, Österreich, Italien, Frankreich, Ungarn, Polen usw. - früher bekannten Proporzländern - hat dieses Wahlsystem eine vollständige Zerrüttung des politischen Lebens, die Arbeitsunfähigkeit der Parlamente, ununterbrochene Regierungskrisen, unhaltbare Radikalisierung der Parteien, die sich in blutigen Zusammenstössen entlud, mit sich gebracht.

Selbst in der Schweiz, deren alter demokratischen Tradition der Proporz am ehesten entsprach, mehren sich Tag für Tag die Stimmen gegen ihn und seine Folgen (Siehe Pressestimmen aus der Schweiz auf Seite 2 und 3 dieser Botschaft.) Sollen aber wir daran gehen, ein Wahlsystem einzuführen, das sich als unbrauchbar in der heutigen Zeit erwiesen hat?

Proporz und wirtschaftliche Folgen

Jedes Land braucht zu seiner Entwicklung und zu seinem Gedeihen Ruhe. Dies gilt in besonderem Masse für kleine Länder, die in grösserer Abhängigkeit vom Ausland stehen.

Liechtenstein hat sich nach dem Zusammenbruch im Jahre 1928 durch die Durchführung eines für unsere kleinen Verhältnisse grossen Wirtschaftsprogrammes (Rheinbauten, Strassenbauten, Binnenkanal, Soziale Fürsorge, Abtragung der Landesschulden) das Vertrauen des Auslandes wieder erworben und durch lange Zeit der Krise Widerstand leisten können. Jede politische Beunruhigung ausserhalb des normalen Verlaufes der staatlichen Funktionen schadet nun in grossem Masse.

Von dem Vertrauen des Auslandes nämlich ist abhängig der Privatkredit und der Staatskredit unseres Landes. Verschiedene Erscheinungen der letzten Wochen auf dem Gebiete unseres Geldmarktes machen es uns zur Pflicht, auf die schwerwiegenden Folgen hinzuweisen, die im Gefolge der jüngsten Vorkommnisse im politischen Leben unseres Landes aufgetreten sind. Auf diese entscheidend wichtigen Umstände im Zusammenhang mit den schwebenden Initiativen mit allem Ernste hinzuweisen, hält sich der Landtag verpflichtet und jedwede Verantwortung jenen zu überbürden, die in voller Erkenntnis der schweren Folgen die kommenden Zustände herbeiführen wollen.

Wenn die Freunde des Proporzes Anhänger und Stimmen damit gewinnen wollen, dass sie sagen, der Proporz erleichtere die Lage der Landwirtschaft, des Gewerbes und der Arbeiterschaft, so ist dies bewusste Irreführung der Öffentlichkeit. Oder glaubt jemand, eine Kuh gelte einen Franken mehr, wenn der Landtag nach dem Verhältniswahlrecht gewählt wird? Oder der Gewerbetreibende erhalte mehr Aufträge und bekomme sein Geld früher? Oder es könne für einen Franken mehr Arbeit geboten werden? Es ist lächerlich, derartige Behauptungen aufzustellen.

Die wahren Absichten

Aus der Tatsache, dass die Freunde des Proporzes mit derartigen Mitteln und mit Versprechen, die sie nie und nimmer halten können, der Initiative zum Erfolge verhelfen wollen, aus der ferneren Tatsache der Häufung ganz unmöglicher Initiativen, wie z.B. jener der Sparkasse, erkennt man eigentlich die wahre Absicht der Initianten: die Beseitigung der heutigen Behörden. Eine eindeutige Volksbefragung herbeizuführen, ob die Behörden das Vertrauen des Volkes besitzen oder nicht, haben die Hintermänner der Initiative nicht gewagt. An die Macht aber wollen sie um jeden Preis kommen und so versuchen sie als Weg hiezu, das Mittel des Proporzes zu benützen.

Mitbürger, Ihr wisst worum es geht. Haltet Euch die Folgen vor Augen, die eintreten, wenn die Initiative angenommen würde. Gebt deshalb am Abstimmungstage auf die Euch vorgelegte Frage, ob Ihr den Proporz annehmen wollt, die Antwort:

Nein!

 

 

 

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[1] LI LA RF 152/323/002/036g. Die Botschaft des Landtags wurde am 27. Mai 1935 allen Gemeindevorstehungen zur Verteilung an die Stimmberechtigten zugestellt.
[2] Die Volkspartei und der Liechtensteinische Heimatdienst hatten im Februar 1935 eine Initiative zur Einführung des Proporzwahlrechts lanciert. Am 9. Mai 1935 hatte der Landtag die Initiative mehrheitlich abgelehnt. In der Volksabstimmung vom 30. Mai 1935 wurde dann die Initiative verworfen.