Entschliessungen von Fürst Johann II. in den "Schlossverhandlungen" (Fassung vom 15.9.1920)


Maschinenschriftlicher Zusammenzug der Entschliessungen von Fürst Johann II. vom 11. und 13.9.1920 [1]

15.9.1920, Vaduz [2]

Schlossabmachungen, 15.9.1920

I./ Ich werde Meine Regierung beauftragen, dem Landtage ehestens eine Verfassungsrevisionsvorlage unter Einhaltung folgender Richtlinien zur Schlussfassung vorzulegen:

  1. Das Fürstentum Liechtenstein ist eine konstitutionelle Monarchie auf demokratischer und parlamentarischer Grundlage. Die Staatsgewalt ist im Fürsten und im Volke verankert und wird von beiden nach Massgabe der Bestimmungen der Verfassung ausgeübt.
  2. Der Landesfürst wird bei längerer Abwesenheit jährlich auf eine gewisse Zeit und ausserdem fallweise nach Bedarf einen Prinzen aus seinem Hause ins Land entsenden und ihn als seinen Stellvertreter mit der Ausübung ihm zustehender Hoheitsrechte betrauen.
  3. Die dem Fürsten und dem Landtage verantwortliche Kollegialregierung besteht aus dem Landamman als Vorsitzenden und zwei Regierungsräten mit eben sovielen Stellvertretern. Der Landamman und sein Stellvertreter werden vom Fürsten einvernehmlich mit dem Landtage über dessen Vorschlag ernannt. Die Regierungsräte und ihre Stellvertreter werden vom Landtage unter Berücksichtigung beider Landschaften gewählt.
    Für das Amt des Landammans und seines Stellvertreters haben nur gebürtige Liechtensteiner in Betracht zu kommen.
    Wenn ein Mitglied der Regierung durch seine Amtsführung das Vertrauen des Volkes und des Landtages verliert, so ist der Landtag berechtigt, beim Landesfürsten die Enthebung des betreffenden Regierungsfunktionärs zu beantragen. Die Zuweisung der Geschäfte an die einzelnen Regierungsmitglieder wird durch eine vom Landtag zu beschliessende und vom Fürsten zu genehmigende Geschäftsordnung geregelt.
  4. Die gesamte Staatsverwaltung ist nach den Grundsätzen des Rechtsstaate unter Einführung eines Verwaltungsrechtspflegeverfahrens und Wahrung des Instanzenzuges zu ordnen und sparsam zu führen.
    Sämtliche Verwaltungs- und Justizbehörden mit Ausnahme des obersten Gerichtshofes in Zivil- und Strafrechtsachen sind ins Land zu verlegen.
    Kollegiale Behörden sind mehrheitlich mit Liechtensteinern zu besetzen.
    Ausserdem ist im Wege eines besonderen Gesetzes ein Staatsgerichtshof als Gerichtshof des öffentlichen Rechtes zum Schutz der staatsbürgerlichen Rechte, zur Entscheidung von Kompetenzkonflikten und als Disziplinargerichtshof für öffentliche Angestellte zu errichten.
    Zur Kompetenz des Staatsgerichtshofes gehören weiters: Prüfung der Verfassungsmässigkeit von Gesetzen, Entscheidung über Klagen und Haftung des Staates für Verschulden seiner Beamten und über Klagen des Landtages auf Entlassung von Regierungsmitgliedern oder von nichtrichterlichen Beamte wegen behaupteter Pflichtverletzungen.
    Seine Mitglieder sollen vom Landtage gewählt werden und mehrheitlich gebürtig Liechtensteiner sein. Die Wahl des Präsidenten bedarf der landesherrlichen Bestätigung.
  5. Ausländer dürfen als Beamte nur mit Zustimmung des Landtages angestellt werden. Dieser ist auch berechtigt beim Landesfürsten die Enthebung öffentlicher Funktionäre zu beantragen, die durch ihre Amtsführung das Vertrauen des Landtages und des Volkes verloren haben.
  6. Der Landtag hat zukünftig nur mehr aus gewählten Abgeordneten zu bestehen. Er ist je nach Bedarf, jedenfalls aber über begründetes schriftliches Verlangen von wenigstens 300 wahlberechtigten Landesbürgern oder über Gemeindeversammlungsbeschlüsse von mindestens drei Gemeinden einzuberufen. Bei Abänderung der Landtagswahlordnung ist das Proportionalwahlrecht einzuführen und die Zahl der Abgeordneten im Verhältnis zur Bevölkerungszahl festzulegen.
    Die Grundsätze des Proportionalwahlrechtes sind sinngemäss auch dann anzuwenden, wenn der Landtag im Wege der Wahl Kommissionen oder Behörden zu beschicken hat.
    Der Landtag übt die Kontrolle über die gesammte Staatsverwaltung durch eine von ihm zu wählende Geschäftsprüfungskommission aus.
  7. Die Grundrechte der Bürger sind in der Verfassung eingehendst und in vollkommen zeitgemässer Weise festzulegen. Das Recht des Referendums und der Initiative ist mit Fixierung der Stimmenzahl einzuführen und zu regeln. Verfassungsreferendum und Initiative erheischen wenigstens 500 wahlberechtigte Stimmen oder Gemeindeversammlungsbeschlüsse von mindestens vier Gemeinden. In allen übrigen Fällen genügt die in P. 6 fixierte Untergrenze.
  8. Die Staatsaufgaben sind in der Verfassung mit besonderer Bedachtnahme auf die Beförderung der gesammten Volkswohlfahrt und die Schaffung von Gesetzen zum Schutze der religiösen, sittlichen und wirtschaftlichen Interessen des Volkes, zu Förderung des Unterrichts-, Erziehungs- und Pflegewesens mit spezieller Berücksichtigung der haus- und landwirtschaftlichen, sowie der gewerblichen Fortbildung eingehend zu umschreiben.
  9. Die Regelung der zoll- und handelspolitischen Beziehungen zu einem Nachbarstaate und die gesetzliche Ordnung des Geldwesens zur Überleitung in ein gesunde Währung sind mit möglichster Beschleunigung durchzuführen. Das Jagdwesen ist im Interesse der Landwirtschaft und der Gemeindefinanzen ehesten zu regeln.
    Der Ordnung der Landesfinanzen ist ein besonderes Augenmerk zuzuwenden. Sie ist durch Erschliessung neuer Einnahmequellen und Schaffung gerechter Steuergesetze zu sichern.
  10. Im Interesse der arbeitenden Bevölkerung ist auf die Schaffung von Arbeitsgelegenheit im Lande kräftig Bedacht zu nehmen. Nach Zulass der Verhältnisse und der finanziellen Mittel des Landes ist möglichst bald die Einführung der Kranken-, Unfalls- und Altersversicherung in die Wege zu leiten.

II./ Ich bestelle den Hofrat Dr. Josef Peer provisorisch auf die Dauer von sechs Monaten zum Leiter der Regierungsgeschäfte mit den Rechten und den Vorzüge eines Regierungschefs und betraue ihn vornehmlich mit der Aufgabe, die ad I. umschriebene Verfassungsrevision, die gesetzliche Ordnung des Geldwesens und des Landeshaushaltes durchzuführen.

Die Abschliessungen der Zoll- und Handelsverträge mit einem Nachbarstaate ist aus den, dem Dr. Peer zugedachten Aufgaben auszuscheiden und es sind die diesbezüglich bereits eingeleiteten Verhandlungen mit dem Nachbarstaate durch den Geschäftsträger Legationsrat Dr. [Emil] Beck weiterzuführen.

Ich genehmige auch die Heranziehung eines katholischen Schweizerfachmannes zur beratenden Mitarbeit bei Einführung von Einrichtungen, die in der Schweiz gesetzlich geregelt sind und sich dort praktisch bewährt haben.

III./ Ich erwarte, dass nunmehr auf Grund dieser Meiner Entschliessungen die politischen Parteien im Lande einmütig dem geplanten Reformwerke zum Wohl des Landes ihre Mitarbeit widmen werden.

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[1] LI PA VU, Schlossabmachungen, o.Nr. Ebd. eine Abschrift des Dokuments. Ediert in: Die Schlossabmachungen vom September 1920. Studien und Quellen zur politischen Geschichte des Fürstentums Liechtenstein im frühen 20. Jahrhundert, hrsg. von der Vaterländischen Union, Vaduz 1996, S. 193–196. Das Dokument stammt aus dem Nachlass von Gustav Schädler und wurde von dessen Söhnen dem Parteiarchiv der Vaterländischen Union übergeben. Es enthält die Entschliessung des Fürsten vom 11.9.1920 (LI PA VU, Schlossabmachungen, Nr. 7) samt den Modifikationen vom 13.9.1920 (LI PA VU, Schlossabmachungen, Nr. 8). Die einzige Neuerung ist, dass in Punkt II Josef Peer "auf die Dauer von sechs Monaten" als Regierungschef eingesetzt wird. Das Dokument dürfte nach Abschluss der "Schlossverhandlungen" (LI PA VU, Schlossabmachungen, Nr. 5, Protokoll von Gustav Schädler, 16.9.1920) von den Vertretern der Volkspartei verfasst worden sein. Ob es den Vertretern des Fürstenhauses zur Kenntnis gebracht wurde, ist unbekannt.
[2] Das Dokument ist am Schluss datiert auf den 11.9.1920. Dieses Datum dürfte jedoch ebenso wie die Angaben "Johann m/p [manu propria]" und "Für die Richtigkeit: Kabinettskanzlei des regierenden Fürsten von Liechtenstein. Dr. [!] [Josef] Martin." aus der als Vorlage verwendeten Entschliessung vom 11.9.1921 übernommen worden sein.