Liechtenstein ersucht die Schweiz, die aus der Schweiz eingereisten Flüchtlinge zurückzunehmen


Schreiben der Regierung, ungez., an die Polizeiabteilung des Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartementes (Entwurf, mit handschriftlichen Ergänzungen) [1]

17.9.1940

Sehr geehrte Herren,

Unser Herr Regierungschef-Stellvertreter Herr Dr. Alois Vogt hatte vor längerer Zeit Gelegenheit, mit Ihrem hochgeschätzten Herrn Chef Dr. [Heinrich] Rothmund die Frage der Rücknahme deutscher Emigranten zu besprechen, die zuerst in der Schweiz wohnten und von dort nach Liechtenstein kamen. Wir beehren uns, Ihnen im Folgenden die einzelnen Fälle zu unterbreiten und Sie um wohlwollende Prüfung zu ersuchen, dass diese Emigranten wieder schweizerische Wohnsitze wählen dürfen:

  1. Dr. Walter Pinkus, geboren am 18. Dezember 1879 in Berlin, deutscher Reichsangehöriger, verheiratet, Arzt,
    seine Ehefrau Wally Pinkus geborene Schedtler, geboren am 25. Jänner 1882 in Annaberg, deutsche Reichsangehörige und Kurt Pinkus, geboren 29. April 1883 in Berlin, deutscher Reichsangehöriger, Wäschezuschneider, ledig, alle wohnhaft in Vaduz.
    Die drei Personen Pinkus sind am 23. März 1933 in die Schweiz eingereist und hielten sich zuerst bis Juli 1933 in Weesen Ct. St. Gallen auf, übersiedelten dann nach Zürich, wo sie bis Ende August 1933 blieben. Dort bekam die Familie Pinkus keine weitere Aufenthaltsbewilligung, weil sie nicht als politische Flüchtlinge betrachtet werden konnten, sondern nur als Erholungsreisende Aufenthalt bekamen. Tatsächlich sind die Mitglieder der Familie Pinkus erholungshalber nach der Schweiz gereist, wurden dann aber mit Rücksicht auf die deutschen Neuerungen Emigranten. Gezwungen, die Schweiz zu verlassen, kamen sie nach Liechtenstein, wo sie sich vom August 1933 bis Herbst 1935 meist im Hotel sowohl in Vaduz als in Triesenberg aufhielten. [2] Im Herbste 1935 übersiedelten die drei Genannten nach wiederholter Aufforderung, das Land zu verlassen, [3] nach Sevelen Ct. St. Gallen, wo ihnen eine Wohnsitznahme bewilligt wurde und wo sie bis zum Herbste 1937 blieben. Wegen Überfremdung wurde ihnen von den Schweizerischen Fremdenpolizeibehörden der weitere Aufenthalt in Sevelen verweigert, und die Familie Pinkus zog einfach wieder unbemerkt nach Liechtenstein. [4] Zahlreiche Bemühungen der Familie Pinkus, wieder in die Schweiz einzureisen und dort Wohnsitz zu nehmen, sind bisher gescheitert. Der Familie Pinkus wurde von der f. R. [fürstlichen Regierung] schon wiederholt der Befehl zur Ausreise gegeben, doch konnte dieser Befehl nicht durchgeführt werden. [5]
    Dr. Pinkus besitzt einen giltigen Reisepass bis zum 2. August 1941, die Frau Pinkus und der Bruder Kurt Pinkus besitzen Reisepässe mit Giltigkeit bis 20. Jänner 1941.
  2. Herr Dr. Georg Reich, geboren am 10. Jänner 1894 in Wien, deutscher Reichsangehöriger, Rechtsanwalt, geschieden und
    Weiss Lilly Franziska, geboren am 12. April 1908 in Wien, deutsche Reichsangehörige.
    Die beiden Genannten reisten am 27. August 1939 über Bregenz und St. Margrethen in die Schweiz ein, in der Absicht, nach England weiterzureisen. Herr Dr. Reich und Frau Weiss besassen ein englisches Einreisevisum und ein Durchreisevisum durch die Schweiz mit achttägiger Aufenthaltsbewilligung, ausgestellt vom Generalkonsulate der Schweiz in Wien. Die Flugfahrkarte Zürich-London besassen die Genannten bereits von Wien aus. Die Grenzpolizei St. Margareten erklärte, dass sie mit Rücksicht auf Nachrichten über die Einstellung von Flug- und Bahnlinien bei der Berner Fremdenpolizei rückfragen müsse, ob die Durchreise gesichert sei. Dr. Reich und Frau Weiss mussten die Antwort in St. Margarethen abwarten und wurden am 28. August 1939 verständigt, dass ihnen mit Rücksicht auf die erhöhte Kriegsgefahr die Durchreise verweigert werde und dass sie nach Bregenz zurückfahren müssen. Sollte es nicht zum Kriege kommen, so würde laut Zusicherung der Grenzbehörde eine spätere Einreise in die Schweiz möglich sein. Um nicht nach Deutschland zurückreisen zu müssen, ersuchten Dr. Reich und Frau Weiss die fürstliche Regierung um die Möglichkeit, die Einreise in die Schweiz in Liechtenstein abwarten zu dürfen. Mit dieser vorübergehenden Aufenthaltszusicherung reisten Dr. Reich und Frau Weiss dann nach Vaduz, wo sie bis heute auf die Möglichkeit der Einreise nach der Schweiz warten. Tatsache ist, dass für Frau Weiss und Herrn Dr. Reich am 27. August 1939 noch die Möglichkeit bestanden hätte, die Fluglinien von Zürich nach England zu benützen, wenn die Schweizerische Grenzpolizei die Leute nicht zurückgewiesen hätte.
  3. Höchheimer Berta, geboren am 25. April 1888 in Mannheim, deutsche Reichsangehörige, ledig ohne Beruf, wohnhaft in Vaduz.
    Seit 1933 soll Berta Höchheimer sich in Zürich aufgehalten haben. Sie besass dort auch immer eine Aufenthaltsbewilligung zur Erholung, musste jedoch die Schweiz jedes Jahr für 3 Monate verlassen. Sie reiste für diese 3 Monate jeweils nach Liechtenstein und kehrte nach Ablauf dieser Zeit wieder nach Zürich zurück. So machte es Frl. Höchheimer auch im Juli 1939, doch wurde ihr diesmal der Bescheid zuteil, dass sie nicht mehr in die Schweiz einreisen könne. Die Bemühungen des Frl. Höchheimer um eine Einreise an ihren früheren Aufenthaltsort Zürich sind bisher stets gescheitert.
  4. Wollenberger Paul, geboren am 12.6.1898 in Heilbronn, deutscher Reichsangehöriger, Treuhänder, verheiratet.
    Seine Ehefrau Wollenberger Anna geb. Blümlein, geboren am 21.4.1896 in Heilbronn,
    deren Kinder Werner Wollenberger, geboren 6. Juni 1927 in Heilbronn, und Hannelore, geboren am 29. Mai 1928 in Heilbronn, alle wohnhaft in Schaan.
    Vom März bis Mai 1933 wohnte die Familie Wollenberger in Basel. Im Mai 1933 reiste die Familie nach Frankreich, kehrte aber am 15. April 1934 nach Baselland zurück. Am 9. Dezember 1936 zog Paul Wollenberger nach Basel und seine Frau und 2 Kinder kehrten vorübergehend nach Heilbronn zurück. Bis zum 28. Februar 1939 hatte Paul Wollenberger in Basel Wohnsitz und besass eine ordnungsmässige Aufenthaltsbewilligung. Frau Wollenberger und deren Kinder waren in der Zwischenzeit (Jänner 1937) nach Liechtenstein gezogen und die Frau kehrte alle 3 Monate für einige Zeit nach Deutschland zurück, um den Wohnsitz in Heilbronn beizubehalten. Dies war notwendig, weil so die Möglichkeit bestand, Geld für Studienzwecke für die Kinder nach Liechtenstein zu bringen. Seit Jänner 1939 war diese Rückkehr nach Heilbronn nicht mehr möglich und Ehefrau und Kinder Wollenberger sind seit dieser Zeit ununterbrochen in Liechtenstein wohnhaft. Paul Wollenberger selbst ist seit 25. Februar 1939 von Basel nach Schaan gezogen. Am 1. April 1939 erhielt er die schweizerische Einreisesperre als unerwünschter Ausländer. Paul Wollenberger glaubt, dass er aus dem Deutschen Reiche ausgebürgert sei.

Die fürstliche Regierung hat in keinem der vorangeführten Fälle eine Aufenthaltsbewilligung erteilt, sondern die Anwesenheit dieser Emigranten nur toleriert. [6]

In all den vorgeschilderten Fällen kann die Regierung auch bestätigen, dass sich diese Emigranten in Liechtenstein stets tadellos verhalten haben und keinen Anlass zu einem Einschreiten gegeben haben. Die fürstliche Regierung wiederholt das Ersuchen, allen Vorgenannten die Möglichkeit zu geben, wieder in die Schweiz einzureisen und dort Wohnsitz zu nehmen. [7]

Genehmigen Sie, sehr geehrte Herren, die Versicherung unserer ausgezeichneten Hochachtung 

 

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[1] LI LA RF 200/443/004.
[2] Satz korrigiert aus: "Vom August 1933 bis Herbst 1935 hielt sich die Familie Pinkus sowohl in Vaduz als in Triesenberg auf."
[3] "nach wiederholter ... verlassen" ergänzt.
[4] "einfach wieder ... Liechtenstein" korrigiert aus: "wieder nach Vaduz, wo sie sich seither aufhält".
[5] Satz ergänzt.
[6] Satz ergänzt.
[7] Die Antwort der Polizeiabteilung des Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartementes wurde nicht aufgefunden. Das Ersuchen dürfte jedoch abgelehnt worden sein, blieben die genannten Emigranten doch alle in Liechtenstein.