Spitzelbericht des Carl von Vogelsang an deutsche Stellen ("Spitzelaffäre")


Schreiben des Carl von Vogelsang, ungez. [1] 

o.D. (Oktober 1934)

Am Sonntag d. 28. Oktober 1934 wurde ich Zeuge eines beschämenden Vorfalles am Bahnhof Rohrschach, wie ein junger Deutscher aus Lindau sein Vaterland in den Kot zog.

Derselbe kam mit dem Schiff, das 14,27 Uhr von Lindau nach Rohrschach fuhr.

In seiner Begleitung waren 2 Personen, deren Bekanntschaft er auf der Fahrt gemacht hatte. Eine ca. 50-jährige Frau aus ländlichen Verhältnissen, Reichsdeutsche, und eine sehr aufgeweckte, flotte junge Schweizerin der Intelligenzkreise. Die Schweizerin war anscheinend erst in Rohrschach mit dem jungen Mann bekannt geworden, die Deutsche lernte er scheinbar schon auf dem Schiff kennen.

Der junge Deutsche stand am Bahnsteig inmitten anderer Passagiere und zog so laut, dass es ausser seinen beiden Bekannten jedermann hören konnte, in der hässlichsten Weise über das Regime in Deutschland los. Eine wahre Hetzflut von Greuelnachrichten.

Er sagte unter anderem, dass man froh sein müsse, wenn man eine schweizerische Zeitung lese, damit man die Wahrheit über Deutschland erführe. Im Reich würde systematisch alles totgeschwiegen. Z.B. sei bei oder in Lindau ein grösserer Unfall gewesen, er habe erst aus Schweizerzeitungen darüber erfahren. Die Leute in Lindau hätten nichts darüber gewusst. So sei es in allem. Der Rückgang der Arbeitslosigkeit sei nur ein scheinbarer. Die Löhne seien so gering. Es würden nur grosse Reden gehalten, wie heute z.B. sei der Tag der Arbeit, da würde wieder mächtig geredet, es sei nichts dahinter. Es ginge rapide abwärts mit Deutschland. Man bekäme keine Stoffe mehr, er kenne einen Stoffhändler, der sagte ihm, er reise nur mehr als Lumpenhändler. Die Zeitungsverbote seien ja lächerlich. Deutschland habe kein Geld mehr. In den Konzentrationslagern würden die Leute fürs Leben ruiniert. Man sei furchtbar rigoros. Er wisse einen Fall, da hätte man in der Bahn einen Tschechen, der kein Wort Deutsch gekonnt hätte, aber eine illustrierte verbotene deutschgeschriebene Zeitung bei sich gehabt, 1 Jahr ins Zuchthaus geschickt. Er sässe noch. Keine Intervention des tschechischen Konsuls habe genutzt.

Der Redner sagte, er fahre jetzt nach St. Margareten, dort träfe er sich mit einer Österreicherin. In welcher Beziehung er dazu stünde, sagte er nicht. Er sagte, er führe auch nach Österreich, wenn er nicht dann wegen des Stempels gestraft würde.

Es war eine wahre Flut von Hetzerei, ich konnte nicht alles verstehen, aber er fing seine Greuelberichte immer mit „und" an, es war eine ganze Litanei, nach jedem „und" kam wieder etwas.

Die junge Schweizerin verhielt sich sehr interessiert und animierte den jungen Mann immer weiter. Sie sagte, sie sei die Tochter eines schweizerischen Redakteurs, sie dürfe aber nicht mehr nach Deutschland und auch nicht nach Italien. Sie schimpfte auch was sie konnte über Deutschland und der junge Mann gab ihr in allem recht und unterstützte sie noch. Er sagte, „unsere einzige Hoffnung in Deutschland ist nur noch, dass es dem Ruin zugehen muss oder das wir ja auch sterben können, wenn wir es nicht mehr erleben, dass es anders kommt."

Die ältere deutsche Frau beteiligte sich mit keinem Wort an dem Gespräch. Ich hatte den Eindruck, dass es ihr sehr peinlich war, dass sie aber diesen gebildeten Leuten sich nicht zu verteidigen wusste. Ich sprach dann noch in der Bahn mit ihr und frug sie, ob sie Schwierigkeiten gehabt hätte, ins Ausland zu fahren, sie sagte, alle deutschen Behörden seien ihr nur mit grösster Zuvorkommenheit begegnet. Diese Frau ist durchaus in keiner Weise straffällig geworden, es ist eine harmlose Frau, die nicht viel von den Dingen weiss, sie steht einfach gefühlsmässig zur Regierung Deutschlands und kommt nur als Zeugin zur Erhärtung meiner Aussagen in Betracht. Anbei die Beschreibung der Personen, die zur Feststellung dieses Deutschen und der Zeugen führen können. Ich füge auch die Beschreibung der Schweizerin bei, weil sie vielleicht zufällig an der Grenze bekannt ist.

Der Deutsche: Wohnhaft nach seinen Reden anscheinend in Lindau. Macht den Eindruck eines Kommis, vielleicht der Kleiderbranche, weil er aus dieser seine meisten Beispiele wegen der Stoffnot Deutschlands bezog. Alter ungefähr 25 Jahre. Mittelgross, langes Gesicht, glattrasiert, trug Hornbrille, dunkles Horn mit Hornhaltern zu den Ohren. Haar gekraust, etwas hochgewellt, dunkelbraun oder fast schwarz. Keinen Hut. Weisses Hemd mit weichem Kragen, keine lange Kravatte, sondern feste Schleife, rot mit weissen Tupfen. Dunkelgrauer Anzug mit schwarzen Streifen, sodass der Anzug fast schwarz scheint. Braune Lederhandschuhe. Lange, gut gebügelte Hose, beige Gamaschen, langen, glänzenden Gummimantel. Der Reisepass oder Grenzschein muss den Grenzübertrittsvermerk vom 28. Oktober tragen.

Die Schweizerin: Mittelgross, etwa 20 Jahre, hellblonder Bubikopf, frisches, sehr hübsches Gesicht, sehr gepflegt, rasierte Augenbrauen, hellgrauer Mantel. Anscheinend Haustochter oder aus besserem Büro.

Die Deutsche: Wohnort Bad Gecking bei Neustadt a.d. Donau, reiste nach Triesenberg in Liechtenstein, um ihre Tochter zu besuchen, die dort Ordensschwester [ist]. Die Frau kommt am kommenden Freitag d. 2. Nov. wieder über die Grenzstationen Lindau oder, was unwahrscheinlicher ist, Friedrichshafen, da ich dies gesprächsweise von ihr erfahren konnte. Sie ist mittelgross, abgearbeitetes, bäuerliches Gesicht, graue Haare, anliegenden graubräunlichen Hut, der die Haare fast ganz bedeckt, einfachen unauffälligen dunklen Umlegepelz, schwarzen, langen, glänzenden Plüschmantel, braunen, leicht tragbaren Koffer, etwa 50 : 40 cm. – Diese Zeugin wird diese Angaben bestätigen können. Es wäre aber gut, wenn sie auf den Glauben gebracht würde, dass sie im Zug zwischen Rohrschach und Buchs von einem deutschen Geheimagenten ausgefragt worden sei oder ein solcher das Gespräch mit angehört hätte, damit sie niemals auf den Gedanken kommt, dass es ein Ausländer war, da sie dies sonst ihrer Tochter hierher schreiben könnte und ich gefährdet wäre, hier schärfsten Repressalien ausgesetzt und der Schweiz verwiesen zu werden. Ich bitte sehr, diese Frau freundlich zu behandeln, weil sie absolut mit der Sache nichts zu tun hat, als dass sie unfreiwillige Zeugin des ganzen Gespräches war. Die Frau ist anscheinend Bäuerin.

[Stempel: Landesleitung Liechtensteiner Heimatdienst]

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[1] LI LA RF 169/170/002/014A-B. Das Schreiben trägt den Stempel der Landesleitung des Liechtensteiner Heimatdienstes.