Das "Liechtensteiner Vaterland" gibt antisemitische Anschuldigungen gegen Sally Isenberg wieder


Artikel von Carl von Vogelsang im "Liechtensteiner Vaterland" [1]

10.6.1936

Eine andere Rotter-Affäre?

Kürzlich beschäftigte sich das "Volksblatt" eingehend mit dem in Nürnberg erscheinenden "Stürmer". [2] Dies scheint verstärkt die Aufmerksamkeit des "Stürmer" auf Liechtenstein zu ziehen. Anscheinend ist ein Serienbericht über die Israeliten in Liechtenstein in Vorbereitung und soll dieser Reigen mit der Juninummer 23 eröffnet werden. Knallrote breite Bandschleifen weisen heute in unzähligen Zeitungskiosken und Aushängekästen in ganz Deutschland und in Danzig und wo sonst immer der "Stürmer" verkauft wird, auf den Fall "Sally Isenberg" hin. In dem Bildbericht des "Stürmer" heisst es unter der fetten Überschrift: "Sally Isenberg – der grösste Gauner des Saargebietes/Vom Ziegenhändler zum Bankfürsten" in einem ganzseitigen, vierspaltigen Aufsatz, dass sich der Genannte zuerst als Ziegenfellhändler durchgeschlagen, dann einen Devisenhandel angefangen habe und schliesslich unter Hinterlassung eines Schadens von Fr. 40'000'000 geflohen sei. 1'250'000 Franken betrüge der Steuerfluchtschaden. Im Zusammenhang mit dieser Angelegenheit habe der Schwager Isenbergs [Benno] Süsskind Selbstmord begangen. Nun sei Isenberg in Liechtenstein – schreibt der "Stürmer" –, wohin sich auch die Theaterjuden Rotter [3] gewandt hatten. – Muss gerade Liechtenstein immer in solchen Zusammenhängen genannt werden? Nachdem sich bereits die in 500'000 Vj.-Exemplaren allein in Deutschland verbreitete Zeitung solcherart mit unserem Lande befasst, erscheint es uns höchste Zeit, dass die Behörden hier nach dem Rechten sehen, ehe Liechtenstein wiederum der Schauplatz einer eventuellen Tragödie würde, die wir von Herzen bedauern würden. Es ist tieftraurig, dass unser Heimatland wiederum im Mittelpunkt der Cronique scandaleuse steht, und sehen wir uns ausschliesslich in Wahrung öffentlicher Interessen veranlasst, hier eine Warnung auszusprechen, ehe zu spät ist. Die Ehre unseres Landes geht uns über alles, und für alle Beteiligten ist es besser, dass diese Sache restlos klargestellt wird. Unsere Fremdenindustrie erleidet anderenfalls einen ungeheuren Schaden. – Mit Besorgnis sehen wir den weiteren Enthüllungen des "Stürmer" entgegen. Es wäre dringend zu wünschen, dass die Behörden mit erhöhter Aufmerksamkeit alle Zuwanderungen untersuchen würden.

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[1] L.Va., Nr. 48, 10.6.1936, S. 2.
[2] Das "Liechtensteiner Volksblatt" druckte am 9.5.1936 den Stürmer-Artikel "Die Juden in Liechtenstein" ab und setzte sich kritisch damit auseinander.
[3] Alfred und Fritz Schaie.