Louis W. Kelterborn einen biographischen Artikel von beträchtlicher Breitenwirkung über Josef Gabriel Rheinberger verfasste, schreibt über seine ersten Versuche als Biograph des Komponisten.


17.July 1891

Hochverehrter Herr Professor

Mit Kreuzband erhalten Sie gleichzeitig mit diesem Briefe eine Nummer des New Yorker Belletristischen Journals, wohl der gediegensten deutschen Zeitschrift Amerikas, worin sich ein Aufsatz von mir befindet, der Ihnen und Ihrer künstlerischen Wirksamkeit gewidmet ist. Ich habe demselben nichts beizufügen als den Wunsch, Sie möchten diesen bescheidenen Versuch, unserm hiesigen Leserkreise ein Bild von Ihnen zu entwerfen, freundlich aufnehmen, nachsichtig beurtheilen, und vor allem davon überzeugt sein, dass er der aufrichtigsten und herzlichsten Sympathie entsprungen ist, die ich für so manches Ihrer vielen schönen Werke hege. Aus der Überschrift ersehen Sie, dass der Aufsatz die Fortsetzung einer längeren Serie ähnlicher Skizzen ist, Ihre Vorgänger darin waren: Stockhausen, Cl. Schumann, Rob. Franz, Henselt, F. Lachner, Reinecke, Kirchner, Lassen und Fritz Hegar.

Im berühmten Cholera-Winter 1873/74 war ich als Student an der Universität München, kümmerte mich damals aber schon vorwiegend um Kunst, Theater und Musik. Damals verkehrte ich auch fast täglich im Hause des Herrn Prof. und Conzertmeisters Abel, der einst in gleicher Stellung eine Zierde des Musiklebens meiner Heimath Basel gewesen war, von wo auch seine Frau Gemahlin stammt. Seit der Zeit ist mir München, wo ich geistig so ungemein viel profitirt habe, fast so lieb wie eine zweite Heimath. Sollten Sie meine dortigen Freunde, die lieben Abels, sehen, dann bitte ich Sie, dieselben aufs Herzlichste von mir zu grüssen. Die Erinnerung an das schöne Zusammensein mit ihnen, sowie den ganzen Aufenthalt in München, kann ich hier im fernen Boston auf das Beste auffrischen, wenn ich ab und zu Gelegenheit finde, die lieben Baermanns in Newton zu besuchen, wo jede einzelne Stunde die Unterhaltung anregt und Genuss bringt.

Nochmals bitte ich um nachsichtige, freundliche Aufnahme meines Aufsatzes, den ich nur darum so frei bin, Ihnen zuzusenden, weil er als ein Gruss aus so weiter Ferne vielleicht eine kleine Überraschung bereitet, und füge noch bei, dass ich vor einiger Zeit mit dem kleinen deutschen gemischten Chore "Fidelio" Ihren prächtigen "König Erich"[1] mit schönstem Gelingen in einem Konzert aufgeführt habe, und schliesse mit der Versicherung meiner aufrichtigen herzlichen Verehrung und des innigsten Dankes für manche Ihren Werken zu verdankende genussreiche Stunde als Ihr

ganz ergebener

Dr. Louis Kelterborn.

 

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[1] "König Erich" = Ballade für gemischten Chor und Klavierbegleitung, op. 71, Text von Robert Reinick. Komponiert 1873.