Die Kabinettskanzlei rechtfertigt den Beschluss, die Gesandtschaft in Wien aufzuheben


Maschinenschriftliches Schreiben der fürstlichen Kabinettskanzlei, gez. Kabinettsdirektor Josef Martin, an Regierungschef Josef Ospelt [1]

6.10.1921, Wien

Interessenvertretung in Wien

Sehr geehrter Herr Regierungschef!

In Erledigung des d.a. [dortamtlichen] Schreibens vom 27. September 1921, Zl. 148 Präs., [2] bitte ich Folgendes zur Kenntnis zu nehmen:

Am 11.8.1921 langten bei der Kabinettskanzlei die beiden in Kopie angeschlossenen Schreiben Seiner Durchlaucht des Herrn Prinzen Franz sen. [von Liechtenstein], ddo. Bern 18. u. 19. Juli I.J., ein. [3]

Seine Durchlaucht der Herr Prinz hat mir nach seiner Rückkehr aus der Schweiz über seine Intervention in Bern mündlich Mitteilungen gemacht, die sich mit dem Inhalte seiner ebenerwähnten Schreiben vollkommen decken und hat insbesondere betont, dass die letzteren von ihm im vollen Einverständnisse mit Herrn Dr. Emil Beck abgefasst worden seien.

Hienach bestand – wie Herr Regierungschef insbesondere aus der rot unterstrichenen Stelle des Schreibens vom 18/7. [4] zu entnehmen belieben, zwischen Seiner Durchlaucht und dem Herrn Geschäftsträger in Bern volles Einverständnis darüber, dass die Schweiz baldmöglichst Liechtenstein in Wien vertreten solle.

Die Einschaltung der Worte "oder selbst nach Bern reist" in der h.a. [hieramtlichen], der fürstl. Regierung abschriftlich bereits zugegangenen Mitteilung an die Berner Gesandtschaft vom 16.IX.I.J., Zl. 119/8, [5] ist auf direkten Wunsch S.D. des Herrn Prinzen Franz sen. erfolgt, der selbst bereit gewesen wäre, die weite Reise nach Bern zu unternehmen, um die Angelegenheit in dem Sinne, wie sie eingeleitet wurde, baldigst zu Ende zu bringen.

Da schon im Jänner l.J. der damalige Regierungschef Herr Hofrat Dr. [Josef] Peer über Antrag Sr. D. des regierenden Fürsten [Johann II.] in Bern den dortigen Herrn Geschäftsträger ersuchte, vorsichtig bei den massgebenden Stellen der Schweizer Bundesregierung Fühlung zu nehmen, wie letztere sich gegenüber einem Wunsche nach Übernahme der diplomatischen Vertretung Liechtensteins in Österreich verhalten würde, so erscheint die Aktion Seiner Durchlaucht des Herrn Prinzen Franz sen. nur als konsequente Weiterführung eines schon vor vielen Monaten gefassten und in den obwaltenden Umständen wohlbegründeten Planes.

Jene Zwecke, um derentwillen die fürstliche Gesandtschaft in Wien seinerzeit ins Leben gerufen wurde und die hauptsächlich darin gipfelten, in den Zeiten des Umsturzes die Souveränität des Fürsten und des Fürstentumes zu betonen und zu wahren, sind mittlerweile erreicht worden; ich brauche wohl nur darauf hinzuweisen, dass inzwischen ja England und Frankreich diese Souveränität in unzweifelhafter Weise rückhaltlos anerkannt haben.

Jene weiteren, in den Aufgabenkreis der Liechtensteinischen Gesandtschaft fallenden Agenden, die sich zusammenfassend kurz als die Vertretung der Interessen Liechtenstein'scher Staatsbürger in Österreich bezeichnen lassen, können ebenso wirksam, wie durch eine eigene Vertretung, auch durch die in Wien accreditierte diplomatische Vertretung der Schweiz besorgt werden.

Es ist Ihnen, sehr verehrter Herr Regierungschef, ja wohl bekannt, dass der Wunsch Seiner Durchlaucht des regierenden Fürsten, in der Aussenvertretung Liechtensteins einen Wandel im eben gedachten Sinn eintreten zu lassen, nicht zuletzt auf Rücksichten finanzieller Art zurückzuführen ist, nachdem die bisher ausschliesslich vom Fürsten getragenen Kosten der Gesandtschaft auf die gedachte Weise ohne irgendwelche Beeinträchtigung des Zweckes ganz erheblich reduziert werden können – ein Umstand, der auch für das Land, das ja schliesslich doch auch einmal an den Kosten seiner Aussenvertretung wird mittragen müssen, zumal im Hinblick auf seine finanzielle Lage und Leistungsfähigkeit nicht ohne Bedeutung sein dürfte!

Jene Mitteilungen, die Herr Regierungschef von, mir allerdings nicht bekannter Seite über die Kosten der Übertragung unserer Vertretung an die Schweiz erhalten haben und im eingangs zitierten Schreiben erwähnen, entsprechen nicht den Tatsachen. [6]

Allfälligen Bedenken, die sich einer Übertragung unserer diplomatischen Vertretung an die Schweiz in der Richtung entgegenstellen könnten, dass derzeit die Vertragsverhandlungen mit der Schweiz noch im Zuge sind und für die mit Österreich noch in einigen Belangen zu führenden Unterhandlungen die Schweiz nicht wohl als Anwalt der Liechtensteinischen Interessen in Frage kommen könne, kann, wie schon von allem Anfang an gedacht, durch eine für solche Fälle zu schaffende Vertretung ad hoc begegnet werden, wogegen sicher auch die Schweiz nichts wird einzuwenden finden. [7]

Zugleich mit dem eingangs erwähnten d.a. Schreiben erhielt ich auch jenes des Herrn Geschäftsträgers in Bern, vom 27. v.M., Zl. 1243, das ich abschriftlich beilege. [8] Ich bin einigermassen erstaunt darüber, dass Herr Dr. E. Beck, der ja doch in voller Kenntnis der bestehenden Absichten und der zu ihrer Verwirklichung eingeleiteten Schritte war und ist, gegenüber dem ihm vom Herrn Regierungschef erteilten, mit diesen Absichten nicht vereinbarlichen Auftrage zur dilatorischen Behandlung und zur Sondierung, ob die gemachte Anfrage nicht redressiert werden könnte, nicht schon selbst jene Bedenken erhoben haben sollte, die sich aus den bereits eingeleiteten Schritten gegen einen solchen Auftrag ergeben. Es lag doch sehr nahe, dass Herr Dr. Beck den Herrn Regierungschef aufmerksam machte, in welch peinlich unangenehme Lage Liechtenstein durch eine solche schwankende Haltung gegenüber der Schweizerischen Bundesregierung kommen müsste!

Ich glaube, in Vorstehendem den Herrn Regierungschef ebenso über das in der Sache bereits Vorgekehrte, wie über die Gründe der getroffenen Massnahmen erschöpfend informiert zu haben.

Davon, dass "über den Kopf der Regierung hinweg" Massnahmen getroffen würden, kann umsoweniger die Rede sein, als ja, wie bereits erwähnt, die einleitenden Schritte, als deren konsequente Fortsetzung sich die nunmehrigen Massnahmen darstellen, seinerzeit vom Herrn Regierungschef Dr. Peer selbst in Bern unternommen worden sind.

Indem ich verehrten Herrn Regierungschef ersuche, mir den Standpunkt, welchen Euer Hochwohlgeboren nach Kenntnis meiner vorstehenden Ausführungen in Angelegenheit der Interessenvertretung Liechtensteins in Wien nunmehr einzunehmen gedenken, ehehtunlichst mitteilen zu wollen, bezw. nach Bedarf auf Zl. 119/8 KK. vom 10. September I.J. neuerliche Weisungen an die fürstliche Gesandtschaft in Bern ergehen zu lassen, [9] bin ich mit dem Ausdrucke der besonderen Hochachtung

Euer Hochwohlgeboren

ergebenster

______________

[1] LI LA SF 01/1921/153. Aktenzeichen: Zl. 119/11. Stenografische Randbemerkungen. Schlussvermerk: "Mit 3 Blg. [Beilagen]".  
[2] LI LA SF 01/1921/ad 148, Ospelt an Martin, 27.9.1921.
[3] LI LA SF 01/1921/ad 153, Bericht Prinz Franz, 18.7.1921; LI LA SF 01/1921/ad 153, Bericht Prinz Franz, 19.7.1921.
[4] In dieser Stelle hielt Prinz Franz fest: "Herr Dr. Beck und ich sind der Ansicht, dass die Schweizer Vertretung auch, und dies so bald als möglich, Liechtenstein in Prag und Wien vertreten soll, da doch die reiche und sehr beachtete Schweiz ein anderes Gewicht in die Wagschale werfen kann als, sei’s auch der beste, nur Liechtensteinischer Vertreter."
[5] LI LA SF 01/1921/146, Josef Martin an Emil Beck, 16.9.1921.
[6] Alfred von Baldass, Geschäftsträger ad interim in Wien, hatte Ospelt mitgeteilt, dass eine Übernahme der Interessenvertretung durch die Schweiz auf jährlich 6000–8000 Franken zu stehen komme (LI LA SF 01/1921/148, Baldass an Ospelt, 23.9.1921).
[7] Emil Beck war allerdings der Meinung, dass "die Schweiz es nicht gern sehen" werde, wenn "sog. Ad hoc-Vertretungen zum vorhinein [...] in Aussicht genommen würden" (LI LA SF 01/1921/ad 153, Ospelt an Kabinettskanzlei, 12.10.1921).
[8] LI LA SF 01/1921/ad 153, Emil Beck an Kabinettskanzlei, 27.9.1921.
[9] Ospelt antwortete mit Schreiben vom 9.10.1921. Darin rechtfertigte er seinen Standpunkt und wies darauf hin, dass er nicht informiert gewesen sein, "wie weit die Frage gediehen sei und welchen grossen Wert man von Höchster Seite auf die baldige Auflösung der Wiener Gesandtschaft lege" (LI LA SF 01/1921/ad 153). Nach Besprechungen mit Emil Beck plädierte Ospelt dafür, mit der Aufhebung der Gesandtschaft in Wien zuzuwarten, bis der Bundesrat einen Entscheid zum Zollvertrag gefällt haben werde (LI LA SF 01/1921/ad 153, Ospelt an Martin, 12.10.1921). Diesen Standpunkt übernahm in der Folge auch der Fürst (LI LA SF 01/1921/161, Martin an Ospelt, 24.10.1921).