Das k.u.k. Gericht des Militärkommandos in Innsbruck ersucht die liechtensteinische Regierung um eine grundsätzliche Äusserung zur Frage der Auslieferung österreichischer Deserteure


Handschriftliches Schreiben des k.u.k. Gerichtes des Militärkommandos Innsbruck an die liechtensteinische Regierung, gez. vom Gerichtsleiter [1]

27.1.1916, Innsbruck 

Strafsache: Josef Sigismund Lorenzi 

Am 9. Dezember 1915 wurde unter Berufung auf die bestehenden Staatsverträge von diesem Gerichte an das fürstlich Liechtenstein’sche Landgericht in Vaduz das diensthöfliche Ersuchen um Festnahme und Auslieferung eines auf Liechtenstein'sches Gebiet geflüchteten Deserteurs gerichtet. 

Dieses Ersuchschreiben wurde seitens des fürstlich Liechtenstein'schen Landgerichtes in Vaduz mit dem Ersuchen um Bekanntgabe des Staatsvertrages, auf Grund dessen die Auslieferung Lorenzi's verlangt wird, beantwortet. [2]

Das hiergerichtliche Ersuchen wurde sodann mit dem Bemerken wiederholt, dass sich das Auslieferungsbegehren auf die Bundes-Kartell-Konvention vom 10. Februar 1831 [3] stütze und hinzugefügt: "Sollte das dortige Gericht der Anschauung sein, dass die genannte Konvention zwischen der Monarchie und Liechtenstein nicht mehr zu Recht besteht, so wird um die Bekanntgabe der Gründe für diese Annahme ersucht."  

Das fürstlich Liechtenstein'sche Landgericht erwiderte hierauf mit folgenden Ausführungen:

"1.) Genannter Vertrag hatte das militärische Bundesverhältnis zur Voraussetzung; mit Auflösung des Deutschen Bundes ward er daher hinfällig. Dies ergibt sich auch aus Artikel XIII des Prager Friedensvertrages vom 23. August 1866, R.G.Bl. Nr. 103, worin die genannte Konvention zwischen Österreich und Preussen ’neuerdings in Kraft gesetzt’ wurde. [4] (Ungarn anerkannte deren Bestand bis Kriegsausbruch nicht; Ulbrich Staatswörterbuch [5] 2. Auflage, II. Band, Seite 755 und I. Band Seite 369). Die Fortdauer der Wirksamkeit der Konvention vom 10. Februar 1831 zwischen Österreich und andern ehemaligen Deutschen Bundesstaaten, wie Bayern, Württemberg, u.a. stützt sich auf spätere, nach Auflösung des Deutschen Bundes gegenseitig abgegebene Erklärungen der betroffenen Staaten (Kundmachung des Ministers des Innern vom 12. Dezember 1869, R.G.Bl. 182). [6] Dass von Seite des Fürstentums Liechtenstein eine ähnliche Erklärung erfolgte, dürfte nicht der Fall sein. 

2.) Hievon jedoch abgesehen, kann das Verbrechen der Desertion im Fürstentum Liechtenstein derzeit nicht begangen werden, da seit dem Jahre 1868 eine Militäraushebung nicht mehr stattfindet. [7] Wegen einer Tat, die begrifflich hierlands nicht begangen werden kann, dürfte eine Auslieferungspflicht aber überhaupt nicht bestehen (Bundesvertrag vom 26. Jänner 1854 Artikel I.). [8] 

Sollten Sie trotz vorstehender Erwägungen die Ansicht des gefertigten Gerichtes nicht teilen, so wolle das Ersuchen erneuert werden; die endgiltige Entscheidung würde dann von der vorgesetzten Behörde getroffen werden."  

Sodann wurde der Anregung des fürstlich Liechtenstein'schen Landesgerichtes stattgebend das Ersuchen erneuert, worauf die fürstl. Liechtenstein’sche Landesregierung unter Zl. 207/Reg. diesem Gerichte eine unmittelbare Erledigung zukommen liess, des Inhaltes, dass sich der gesuchte Deserteur nur ganz vorübergehend in Liechtenstein aufgehalten habe, spurlos verschwunden sei, und jedenfalls sich nicht mehr auf fürstl. Liechtenstein'schem Gebiete befinde. Für die fürstl. Liechtenstein'sche Regierung entfalle gegenwärtig der Anlass, zur Frage der Auslieferung des Deserteurs Guiseppe Lorenzi näher Stellung zu nehmen. [9] 

Wiewol nun im Falle des Deserteurs Lorenzi, dessen Aufenthalt auf fürstlich Liechtenstein'schem Gebiete, den gepflogenen Erhebungen zufolge ein ganz vorüber gehender war, offenbar eine Verfolgung selbst im Falle der Zustimmung der fürstlich Liechtenstein’schen Behörden, kein Ergebnis hätte zutage fördern können, stelle ich das diensthöfliche Ersuchen, die fürstlich Liechtenstein'sche Landesregierung wolle den vorliegenden Falle dennoch zum Anlass einer grundsätzlichen Äusserung nehmen, damit in dieser möglicherweise nochmals praktisch in Betracht kommenden staatsrechtlichen Frage wünschenswerte Klarheit geschaffen werde. [10]

Der Gerichtsleiter

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[1] LI LA RE 1916/0407 ad 0207 (Aktenzeichen K 2643/15). Unterschrift unleserlich. Stempel des k.u.k. Gerichts des Militärkommandos Innsbruck.
[2] Vgl. in diesem Zusammenhang auch das Schreiben des F.L. Landgerichtes an die liechtensteinische Regierung vom 31.12.1915 (LI LA RF 1915/4538 (Aktenzeichen Z. 725 Sts)) sowie das Schreiben von Landesverweser Leopold von Imhof an die fürstliche Hofkanzlei vom 4.1.1916, in welcher dieser den vom Landgericht eingenommenen Rechtsstandpunkt teilte (LI LA RE 1915/4538).
[3] Die genannte Konvention regelte die Auslieferung von Militärpflichtigen und Deserteuren zwischen den Staaten des Deutschen Bundes. Der Bund wurde nach dem deutsch-österreichischen Krieg von 1866 aufgelöst.
[4] Nach Art. XIII des genannten Friedensvertrages wurden alle zwischen Österreich und Preussen vor dem Krieg abgeschlossenen Verträge und Übereinkünfte, insofern dieselben nicht ihrer Natur nach durch die Auflösung des deutschen Bundesverhältnisses ihre Wirkung verlieren mussten, neuerdings in Kraft gesetzt. Insbesondere die allgemeine Kartellkonvention vom 10.2.1831 samt den dazugehörigen Nachtragsbestimmungen behielt ihre Gültigkeit zwischen Österreich und Preussen.
[5] Ernst Mischler, Josef Ulbrich (Hg.), Österreichisches Staatswörterbuch. Handbuch des gesammten öffentlichen Rechtes. 2 Bde. (Wien 1895-1896).
[6] Entsprechende Erklärungen gegenüber Österreich wurden von den ehemaligen deutschen Bundesstaaten Bayern, Königreich Sachsen, Württemberg, Baden, Hessen, Sachsen-Weimar, Sachsen-Coburg-Gotha, Sachsen-Meiningen und Sachsen-Altenburg abgegeben: Es wurde die Fortdauer der genannten Kartellkonvention von 1831 mit den durch den Bundesbeschluss vom 2.7.1863 erfolgten Abänderungen (öst. RGBl. 1864 Nr. 68) und ohne die im Art. IX der Konvention stipulierten Ergreifungsprämien ausgesprochen.
[7] Nach der Auflösung des Deutschen Bundes bewilligte der liechtensteinische Landtag keine Militärausgaben mehr und verweigerte die Aushebung neuer Rekruten (vgl. die ordentliche Landtagssitzung vom 31.5.1867). Fürst Johann II. löste am 12.2.1868 das liechtensteinische Militärkontingent auf.
[8] Bundesbeschluss vom 26.1.1854 über die gegenseitige Auslieferung gemeiner Verbrecher. In Österreich kundgemacht durch Erlass des Ministeriums der auswärtigen Angelegenheiten vom 5.4.1854 (öst. RGBl. 1854 Nr. 76).
[9] Vgl. das Konzeptschreiben des liechtensteinischen Landesverwesers Imhof an das k.u.k. Gericht des Militärkommandos Innsbruck, vermutlich vom 15.1.1916 (LI LA RE 1916/0207)).
[10] Die liechtensteinische Regierung antwortete dem k.u.k. Gericht des Militärkommandos in Innsbruck am 29.1.1916: "Mit Beziehung auf die Note vom 27. Jänner l.J., K 2643/15, beehrt sich die fürstliche Regierung mitzuteilen, dass dieselbe den vom hiesigen fürstlichen Landgericht in der Frage der Auslieferung von Deserteuren eingenommenen Standpunkt als rechtlich vollkommen begründet anerkennen muss und beim Abgang einer noch zu Recht bestehenden bezüglichen Vereinbarung weder die Auslieferung eines Deserteur durchführen noch der Verfolgung eines solchen auf liechtensteinisches Territorium zustimmen könnte. Dieser durch die anerkannte Neutralität des Fürstentums gebotenen Verpflichtung vermag sich die fürstliche Regierung um so weniger zu entziehen, als die Approvisionierung des Landes derzeit in der Hauptsache auf obigem Umstande basiert." (Konzeptschreiben von Imhof, reingeschrieben von David Strub am 31.1.1916 (LI LA RE 1916/0407 ad 0207)).