Eugen Nipp, Redaktor des "Liechtensteiner Volksblatts", bezeichnet in einem Kommentar die Vorgänge an der Landtagssitzung vom 7. November 1918 als "Staatsstreich" und "Verfassungsbruch" und erhebt schwere Vorwürfe gegen Landesverweser Leopold von Imhof wegen seines Rücktritts


Leitartikel im "Liechtensteiner Volksblatt", gez. Redakteur Eugen Nipp [1]

15.11.1918

An alle Liechtensteiner!

Der 7. November 1918 [2] brachte unserem Lande einen Staatsstreich, in die Wege geleitet von zwei oder drei Männern, von denen der eine eigens zu diesem Zwecke, wie er selber bekennt, vor wenigen Tagen aus dem Auslande zu uns kam. Einen Verfassungsbruch, eine schwere Verletzung des Verfassungseides, das brachten uns diese Männer am 7. November 1918! Die Mehrzahl der Abgeordneten wurde eine halbe Stunde vor der Sitzung überrumpelt und verwirrt, wollen wir daher den Verfassungsbruch dieser eingeschüchterten Männer nicht allzuschwer verurteilen. Unbegreiflich ist das Vorgehen des Herrn Abgeordneten [Friedrich] Walser, der durchaus gegen den Willen eines Grossteils seiner Wähler vorgegangen ist. Unbegreiflicher aber noch ist das Verhalten des Herrn Baron [Leopold] von Imhof, der diesen Verfassungsbruch befürwortete. Er war schon am Tage zuvor eingeschüchtert worden und er und ein Grossteil der Abgeordneten waren an diesem schicksalsschweren Tage befangen, eingeschüchtert auch durch die Anwesenheit bestellter Leute im Zuhörerraum. Herr Landesverweser Baron von Imhof hatte nicht das Recht zurückzutreten ohne Zustimmung unseres Fürsten [Johann II.], denn er war Vertreter Seiner Durchlaucht und von unserem Fürsten an seinen Posten gestellt. Wohlgemerkt, Liechtensteiner, wir können hauptsächlich aus diesem Grunde nicht mehr für unsern Landesverweser eintreten (wollen allerdings auch keine Hyänenpolitik treiben). Wenn der Herr Landesverweser das Vertrauen der Mehrheit des Volkes nicht mehr besass, dann gehörte er nicht mehr an diesen verantwortungsvollen Posten. Wir verurteilen aber ganz entschieden die Art und Weise des Vorgehens gegen den Herrn Landesverweser, denn das war ein Schlag ins edle Antlitz unseres Fürsten.

Man hätte können eine Abordnung an Seine Durchlaucht schicken und um Enthebung des Herrn Landesverwesers von seinem Posten bitten; das wäre verfassungsgemäss gewesen. Oder man hätte, da die Reiseverhältnisse äusserst schwierig waren, für diese schweren Tage provisorisch zwei Beigeordnete wählen können, falls man der Ansicht war, der Herr Landesverweser allein wäre der Lage punkto Grenzschutz und Verkehr mit der Schweiz nicht mehr gewachsen gewesen, und dann hätte man nachher über die Abberufung des Landesverwesers rechte Schritte tun können.

Aber man wollte eben das, was nun geschehen ist. Man rief den Landtag zusammen zur Beratung über Grenzschutz, scheinbar. Aber den zwei oder drei Veranstaltern war es um den Staatsstreich zu tun, was ja Herr Dr. [Martin] Ritter unumwunden zugab. Erst eine halbe Stunde vor der Sitzung erfuhren die meisten Abgeordneten, um was es sich handle und liessen sich einschüchtern. Sie schämen sich nun zum Teil und machen nun mit, wie die Sitzung vom Dienstag den 12. November zeigte; sie denken sich eben, wer A sagte, müsse, wenn auch schweren Herzens, B sagen, und das ist eben in diesem Falle ein Fehler. Respekt vor dem Herrn Kanonikus [Johann Baptist] Büchel, dass er in der Sitzung vom 7. November so mutig für unsere Verfassung und unsern Fürsten eintrat! Die drei fürstlichen Abgeordneten stimmten dann natürlich auch gegen den Verfassungsbruch, von dem Herr Abgeordneter [Franz Josef] Hoop am Dienstag den 12. November privat sagte, die Sache sei überstürzt gewesen.

Ist es nicht eine Komödie, wenn man dem Landesweser [!], wie es in der Sitzung vom 7. November geschah, einstimmig das Vertrauen ausspricht und zu gleicher Zeit sagt, er solle gehen? Fragt die Feldkircher, fragt die Schweizer drüben! Auslachen tun sie die Liechtensteiner und sagen: "Ihr habt das grösste Recht, so gegen Euren Fürsten vorzugehen, gegen diesen Euren Wohltäter, dem Ihr es allein zu verdanken habt, dass Ihr es im Kriege so gut gehabt. Ihr bezahlt Wohltaten mit schändlichem Undank! Andere Völker haben ein gewisses Recht so vorzugehen, Ihr aber nicht! Ist es nicht dumm, sein eigenes solides Haus wegen einiger Schäden, die sich leicht ausbessern lassen, anzuzünden, nur weil der Nachbar sein morsches Gebäude in Brand steckt?"

Das ist unsere offene, mutige und sachliche Kritik, Liechtensteiner!

Und nun zum jetzigen provisorischen Vollzugsausschuss! Wir sind Patriot genug, um diesen Männern nicht persönliche Schwierigkeiten machen zu wollen, aber nicht ihnen zuliebe, sondern eben aus Liebe zu unserem teuren Fürsten, Volke und Vaterland. Behaltet ruhig Blut, Liechtensteiner! Wir wollen keinen Bürgerkampf im Ländchen, jetzt besonders nicht! Anarchie können wir keine brauchen. Jemand muss, wenn in dieser Form auch nur provisorisch, regieren, und wenn diese Regierung auch ungesetzlich ist. Aber es muss anders kommen, und zwar auf ruhigem, gesetzlichem Wege. Wohl sagen die Herren des Vollzugsausschusses: "Wir wollen beim Fürsten bleiben, es lebe der Fürst!" Sie wissen eben, dass unser Volk sich seinen Fürsten nicht nehmen lässt. Aber sie wollen eine grosse Kluft auftun zwischen Fürst und Volk, sie wollen unserem Fürsten alle Rechte nehmen, sie wollen unseren edlen Monarchen zum Schattenfürsten machen, zu einer Form ohne Inhalt. Wohl sagte Herr Dr. Ritter am Dienstag im Landtag: [3] "Wir wollen dem Fürsten auch noch gewisse Rechte einräumen". Aber bitte, was sind denn das noch für Rechte, wenn man sagt, er soll nur noch den Namen führen, das andere übernehmen wir selber! Und das sagen die Herren im Privatgespräch; in öffentlicher, glänzender Rede getrauen sie sich nicht so weit hervor, da wird von Zwing Uri [4], Absolutismus usw. gesprochen. Allerdings in glänzender Rede, mit Advokatenkünsten! Lasst Euch nicht täuschen dadurch, Liechtensteiner! Lasst Euch durch hohe Worte und holdes Lächeln nicht berücken! Wird sich wohl unser Fürst, unser Wohltäter, von gewissen Herren gnädigst noch seinen Namen schenken lassen und nicht viel mehr in edlem Zorn uns der Undankbarkeit zeihen müssen? Das steht auf dem Spiele, Liechtensteiner! Und würden uns die Herren das Krankenhaus mit modernster Einrichtung und grossem Betriebsfond, eine soziale Grosstat, die uns Seine Durchlaucht als Angebinde und Überraschung auf den 12. November [5] zugedacht hatte, werden sie es uns geben können? (Obiges ist von Ehrenmännern verbürgte Tatsache!) [6]

Also Liechtensteiner: Treue zum Fürsten und Fürstenhause, Verurteilung des Verfassungsbruches!

Aber nicht, dass wir etwa gegen Fortentwickelung unserer Verfassung wären! Wir fühlen als freie Liechtensteiner! Wir sind für Parlamentarisierung! Beherzigt und besprechet in würdiger Weise miteinander folgende Gedanken:

Der jeweilige Landesverweser wird vom Fürsten gewählt, aber mit vorherigem Einvernehmen mit dem Landtage. Es sollen hiezu in erster Linie Liechtensteiner gewählt werden, falls geeignete Persönlichkeiten da sind. Dem Landesverweser zur Seite stehen zwei vom Landtage gewählte Liechtensteiner als Regierungsräte. Auch der jeweilige Sekretär gehört zur Regierung. Auch über die Abberufung eines nicht geeigneten Landesverwesers könnte eine Bestimmung getroffen werden. Die drei fürstlichen Abgeordneten werden wie früher vom Fürsten ernannt.

Beherziget diese Gedanken; dann liesse sich auf diesen fussend ein neues, festes, modernes Staatsgebäude errichten, vielleicht durch direkte Volksabstimmung. Seid Patrioten, aber dankbare!

Hoch Fürst und Vaterland!

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[1] L.Vo., Nr. 46, 15.11.1918, S. 2.
[2] In der Landtagssitzung vom 7.11.1918 hatte Landesverweser Leopold von Imhof seinen Rücktritt angeboten, worauf der Landtag einen provisorischen Vollzugsausschuss wählte, dem Martin Ritter (Vorsitzender), Wilhelm Beck und Emil Batliner (am 12.11.1918 ersetzt durch Franz Josef Marxer) angehörten. Vgl. LI PA Quaderer, Nachlass Wilhelm Beck, handschriftliches Protokoll der Landtagssitzung vom 7.11.1918; ebd., stenographisches Protokoll der Landtagssitzung vom 7.11.1918; L.Vo., Nr. 46, 15.11.1918, S. 3f. ("Zur Landtagssitzung vom 7. des Monats"). Ein offizielles Protokoll existiert nicht.
[3] Vgl. die Rede Ritters, in der er das Programm der neuen Regierung vorstellte (LI LA LTA 1918/S04/2).
[4] Burgruine oberhalb vom Amsteg (Kt. Uri), die nach der legendenhaften Überlieferung zur Gründung der Eidgenossenschaft vom tyrannischen Landvogt Gessler angelegt und von den aufständischen Innerschweizern gebrochen wurde. Vgl. auch das Drama "Wilhelm Tell" von Friedrich Schiller, Erster Aufzug, Erste Szene: "Zwing Uri soll sie heissen, denn unter dieses Joch wird man euch beugen."
[5] Am 12.11.1918 war das 60-jährige Jubiläum des Regierungsantritts von Johann II.
[6] Der bereits weit gediehene Plan zum Bau eines vom Fürsten mitfinanzierten Krankenhauses auf Dux (Schaan) scheiterte an der Geldentwertung nach dem Ersten Weltkrieg.