Der Vorsitzende des provisorischen Vollzugsausschusses, Martin Ritter, stellt im Landtag das "Regierungsprogramm" vor


Teils maschinenschriftliches, teil gedrucktes Protokoll der öffentlichen Landtagssitzung mit handschriftlichen Ergänzungen, nicht gez. [1]

12.11.1918

Der Vorsitzende des Vollzugsausschusses, Herr Dr. [Martin] Ritter, hält die Programmrede der neuen Regierung und führt wörtlich Folgendes aus:

Herren Landtagsabgeordnete!

Ihrem ehrenvollen Auftrage vom 7. ds. Mts. entsprechend hat die von Ihnen gewählte Regierung sofort die Regierungsgeschäfte vom bisherigen Hrn. Landesverweser [Leopold von Imhof] übernommen, [2] welcher ihr hierbei in entgegenkommender Weise an die Hand gegangen ist und hiefür ihren Dank und die vollste Anerkennung sich erworben hat.

Gestatten Sie nun, meine Herren Abgeordneten, dass ich als Vorsitzender der Regierung Ihnen in Kurzem auseinandersetze, von welchen Gesichtspunkten die Regierung sich bei Ausübung ihrer Amtstätigkeit leiten lassen wird und welche Ziele sie anstrebt.

Die Regierung betrachtet sich als Organ, durch welches die Regierungsgeschäfte strenge nach dem Willen des vom Volke gewählten Landtages in Übereinstimmung mit dem Landesfürsten [Johann II.] ausgeübt werden sollen, die Regierung will also sein und bleiben eine Volksregierung. [3]

Die bisherige Regierungsweise war, wie Herr Landesverweser Herr Baron Imhof selbst an dieser Stelle zugegeben hat, unhaltbar geworden; tatsächlich war sie der Zustand eines verkappten Absolutismus, durch den das Volk von Liechtenstein, welches doch einen Teil des grossen deutschen Kulturvolkes und nicht den schlechtesten, bildet, tatsächlich für unfähig erklärt wurde, sein Schicksal so wie Kulturvölker anderer Staaten es tun und wie die moderne Zeit es so stürmisch fordert, selbst in die Hand zu nehmen und zu bestimmen. Liechtenstein wurde in der Tat von fremden Staatsangehörigen verwaltet und regiert, die Verfassung vom Jahre 1862 [4] durch die nachträglich erlassene Amtsinstruktion vom 30. Mai 1871 [5] in wesentlichen Punkten praktisch vernichtet und jener Willkürherrschaft fremdländischer Beamter Tür und Tor geöffnet, die unser braves Volk durch Jahrzehnte hindurch in unwürdiger Weise knechtete und entrechtete.

Bisher stand die Regierung, richtiger der jeweilige, einem fremden Staate angehörige und ihm ausserdem durch Diensteid verpflichtete Landesverweser, der allein, wenn auch verfassungswidrig, so doch tatsächlich die Regierung darstellte und ausübte, auf dem Standpunkte, dass er als vom Fürsten eingesetztes Vollzugsorgan über dem Landtage und somit über dem Willen des Volkes stehe und wurde der Wille des Landtages bezw. Volkes nur insoweit beachtet, als es dem jeweiligen Landesverweser bezw. der ihm übergeordneten Hofkanzlei in Wien, deren Weisungen er befolgen musste, genehm war.

Grosser Lärm auf der Tribüne, [Friedrich] Walser droht mit Rückzug des Landtages wenn die Vorgänge sich wiederholen. Mit dem Stimmzettel in der Hand, nicht auf solche Weise antworte man, wenn einem der neue Zustand nicht passt.

Dr. Ritter fährt fort: Mit dem Stimmzettel in der Hand möge man es zu erkennen geben, wem der jetzige Zustand nicht passe. Unreife Burschen hätten hier nichts zu sagen.

Die Landräte, welche verfassungsgemäss, bei allen wichtigeren Regierungsgeschäften beizuziehen waren und sohin bei Erledigung derselben ihren Einfluss als Vertreter des Volkes ausschlaggebend auszuüben gehabt hätten, wurden vom jeweiligen Landesverweser ganz nach Willkür oft auch Jahr und Tag nicht einberufen.

Zwischen Fürst und Volk stand für uns Liechtensteiner eine unübersteigliche Mauer, die fürstliche Hofkanzlei in Wien, welche das offenkundige Bestreben hatte, nicht nur uns Liechtensteiner möglichst von ihrem Fürsten fern zu halten, sondern es auch zu verhindern wusste, dass einer von uns Landsleuten überhaupt eine bessere und insbesondere eine auch auf den Gang der Regierungsgeschäfte in Liechtenstein Einfluss nehmende Stelle im Dienste des Fürsten erhalte.

Einen schlagenden Beweis hiefür aus allerneuester Zeit bildet die Diensteinteilung unseres Landsmannes Dr. Otto Walser aus Schaan, welcher für landwirtschaftliche, Zwecke eingeteilt wurde, obwohl er seinem Berufe nach nicht dorthin gehört, da er Jurist ist. [6]

So bildete sich schon vor vielen Jahrzehnten im Volksmunde das allgemein bekannte Sprichwort: "Der Fürst wäre scho recht, aber d'Rafa sind nünt." [7] In diesem Sprichworte, dessen Berechtigung von keinem Liechtensteiner jemals bestritten wurde, hat der Volksmund die tatsächlichen Zustände im Lande mit wenigen Worten auf das Treffendste gekennzeichnet. Dass aber ein solcher Zustand von allen Liechtensteinern, welche auf die Ehre ihres Landes, ihres Volkes und auf ihre eigene halten und das Herz am rechten Fleck haben, als tief beschämend empfunden werden musste, braucht nicht erst bewiesen zu werden und darum musste er, als die Zeit gekommen war, geändert werden; kein Volk das auf Ehre hält, wird seine Schande auch nur eine Stunde länger tragen, als es muss. "Nichtswürdig ist", sagt [Friedrich] Schiller, "die Nation, die nicht ihr Alles setzt an ihre Ehre." [8]

Aus diesem Grunde haben Sie, meine Herren Abgeordneten, der von Ihnen Ihren Wählern gegenüber übernommenen Pflicht getreu, das schmähliche Joch abgeschüttelt und eine aus Landesangehörigen bestehende Volksregierung gewählt, welche berufen ist, die Rechte des Volkes vor jedermann und gegen jedermann zu wahren und durchzusetzen.

Sie haben eine Befreiungstat gesetzt. Sie haben dem Volke von Liechtenstein seine Ehre und seine Würde zurückgegeben. Sie haben sich als aufrechte, pflichtbewusste Männer gezeigt, wofür Ihnen noch die spätesten Enkel danken werden. Ein Zwinguri [9] wird nicht mehr in Liechtenstein aufgerichtet werden, wir wollen freie und selbstbestimmende Liechtensteiner sein und bleiben immerdar.

Im Einvernehmen mit Ihnen, meine Herren Abgeordneten, wird nun die Regierung mit allem Nachdrucke daran gehen, die Rafen, von denen obiges Sprichwort sagt, gründlich auszuwechseln, damit dem "First" anpassend ein Dach zu errichten, welches gegen jedes Unwetter vollen Schutz gewährt und unter diesem Dache ein Haus zu bauen, wo jeder Liechtensteiner ein trautes Heim finden soll und welches verwaltet werden wird, wie seine Bewohner zu ihrem allgemeinen Wohle es wünschen.

Das Verhältnis zwischen Fürst und Volk soll sich viel näher und inniger gestalten, als es bis jetzt war. Die Mauer, welche die beiden bislang geschieden hat, muss fallen, die vom Landtag gewählte Regierung wird mit allem Nachdrucke darauf bestehen, als Vollzugsorgan des Willens vom Volk und Landtag unmittelbar, wie es bei allen parlamentarisch regierten Staaten der Fall ist, mit dem Staatsoberhaupte zu verkehren und in allen wichtigen seiner Endentscheidung obliegenden Angelegenheiten gehört zu werden. Wir brauchen, soweit es unsere eigenen Landesangelegenheiten betrifft, keine Hofkanzlei mehr, in der ein Tscheche, ein Feind unserer Nation, auf unsere Verhältnisse entscheidenden Einfluss ausübt. [10]

Der Souveränität des Fürsten gegenüber muss die Souveränität des Volkes stehen, die beiden Gewalten müssen miteinander in harmonischen Einklang gebracht werden, weil nur dann ein gedeihliches Zusammenwirken derselben zum Wohle der Gesamtheit möglich ist.

Die Regierung hat die volle Überzeugung, dass es an beiderseitigem guten Willen nicht fehlen wird und erwartet, dass auch in Wien der Fürst nicht übel beraten werde. Ein Zurück gibt es nicht, wir werden uns vor niemandem beugen als vor dem Willen des Volkes, mit dem Stimmzettel ausgedrückt, Gut, Blut, Leben.

Bei Ausübung der Regierungsgeschäfte wird sich die neue Regierung einzig und allein von dem Gedanken leiten lassen, dem Wohle des Vaterlandes zu dienen, sie wird ihr Amt ausüben, niemandem zuliebe, niemandem zuleide, der erste wie der letzte Liechtensteiner wird von ihr in gleicher Weise behandelt werden. Nebenrücksichten gibt es nicht, das Wohl des Einzelnen muss sich dem Wohle der Gesamtheit unterordnen, ein Bewusstsein, das tief ins Volk dringen muss.

Nach aussen hin werden wir unsere Selbständigkeit weitgehendst wahren, wir wollen nicht mehr, wie bisher leider mit einer gewissen Berechtigung gesagt werden konnte, als Anhängsel eines fremden Staates gelten, wir wollen das souveräne, unabhängige Fürstentum Liechtenstein sein und bleiben wie bisher, ja mehr noch als wie bisher, aber regiert nach den Grundsätzen, die die Welt vor unsern Augen unter ungeheuren Opfern erobert haben, d. h. nach den Grundsätzen einer ehrlichen, aufrichtigen Demokratie, aber mit monarchischem Einschlag.

Der neuen Regierung, meine Herren Abgeordneten, und auch Ihnen, obliegt keine leichte Aufgabe.

Ihre Verantwortung ist dadurch, dass Sie nunmehr tatsächlich die Regierung bestimmen und das Wohl des Volkes, des Vaterlandes ausschlaggebend in der Hand halten werden, eine bei weitem grössere geworden, als wie bisher war.

Zur Förderung des allgemeinen Wohles werden eine Reihe schwieriger Fragen an Sie und die Regierung, welche Ihre Beschlüsse auszuführen haben wird, herantreten, insbesondere die Fragen der Verfassungs- und Geschäftsordnungsänderung, Abänderung [sic], Abänderung des bürgerlichen Gesetzbuchs, Steuergesetzgebung, Ernährungswesen, Schul- und Armenwesen, Verkehrswesen usw. [11] Die Landesfinanzen sind durch den Krieg stark in Mitleidenschaft gezogen, es wird daher getrachtet werden müssen, dieselben wieder in Ordnung zu bringen, eine Aufgabe, die sich sehr schwierig gestalten wird. Die Verwaltung des Landes muss nach Möglichkeit verbilligt werden.

Menschlicher Voraussicht nach werden die durch den Krieg auch in unserm Lande hervorgerufenen schweren Übelstände sich nunmehr allmählich verringern, da der Friede nahe, wenn wir auch gerade jetzt durch das Zuströmen von Leuten, welche nach der Schweiz und nach Italien wollen, infolge der Grenzsperre bei unserer Lebensmittelknappheit sehr in Mitleidenschaft gezogen werden.

In dieser Richtung hält die Regierung dafür, dass das Land sich so entgegenkommend wie möglich verhalte, um sein internationales Ansehen zu wahren und zu heben.

Zweifellos haben wir Liechtensteiner, durch die am 7. ds. Mts. erfolgte Einsetzung einer Volksregierung an internationalem Ansehen ungeheuer gewonnen, es wird uns jetzt daher auch leichter möglich sein, künftighin unsere Interessen dem Auslande gegenüber zu wahren.

Indem die Regierung die feierliche Versicherung wiederholt, ihr Amt der übernommenen Pflicht getreu auszuüben, erklärt sie nachdrücklich, keine gerechte Kritik zu scheuen oder zu unterbinden, sie steht auf dem Standpunkte, dass jeder liechtensteinische Staatsbürger als freier Staatsbürger im Rahmen des Gesetzes das Recht vollster freier Meinungsäusserung habe, gerechte Kritik, dem Fortschritt förderlich, wird ihr stets willkommen sein und wohlgemeinten Ratschlägen, seien sie von wem immer, wird sie ihr Ohr nicht verschliessen. Beugen wird sich die Regierung vor niemand. Angst kennt sie nicht, sie wird den durch die Gesetze und den Willen des Landtages ihr vorgezeichneten Weg der Pflicht unbekümmert um Gunst oder Missgunst dahinschreiten, nur bittet sie den hohen Landtag, ihr das geschenkte Vertrauen, das sie nach bestem Können rechtfertigen will, weiterhin zu bewahren, weil sie nur getragen von dem Vertrauen des Landtages und des hinter ihm stehenden Volkes ihre schwere Aufgabe erfüllen kann.

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[1] LI LA LTA 1918/S04/2. Die gedruckten Teile dieses Protokolls sind den O.N., Nr. 47, 16.11.1918, S. 2 ("Landtagssitzung vom 12. Nov. 1918") entnommen.
[2] Landesverweser Imhof hatte in der öffentlichen Landtagssitzung vom 7.11.1918 dem Landtag seinen Rücktritt angeboten (vgl. die Rede von Imhof (LI LA PA 001/0021/08)) bzw. seinen Rücktritt erklärt, gleichzeitig war ein provisorischer Vollzugsausschuss mit Martin Ritter, Wilhelm Beck und Emil Batliner gewählt worden (LI PA Quaderer, Nachlass Wilhelm Beck, handschriftliches Protokoll). Anstelle von Batliner, der die Wahl ablehnte, wurde in der öffentlichen Landtagssitzung vom 12.11.1918 Franz Josef Marxer in den Vollzugsausschuss gewählt (LI LA LTA 1918/S04/2).
[3] Vgl. in diesem Zusammenhang die vom Abgeordneten Wilhelm Beck in der öffentlichen Landtagssitzung vom 14.10.1918 angestossene Debatte über die Einführung des parlamentarischen Regierungssystems bzw. über die Bestellung der beiden Landräte im Einvernehmen mit dem Landtag (LI LA LTA 1918/S04/2); ferner den diesbezüglichen Antrag von Beck und Konsorten vom 24.10.1918 (LI LA LTA 1918/L03).
[4] Vgl. die Verfassung vom 26.9.1862, besonders die §§ 28 ff. (LI LA SgRV 1862).
[5] Vgl. die Fürstliche Verordnung vom 30.5.1871 über die Trennung der Justizpflege von der Administration mit Amtsinstruktion für die Landesbehörden des Fürstentums Liechtenstein, LGBl. 1871 Nr. 1, besonders die §§ 2 ff.
[6] Otto Walser trat nach seiner Promotion zum Dr. iur. 1918 als Gutssekretär in die fürstliche Verwaltung in Feldsberg ein (vgl. DoA 1918/081; LI LA SF 01/1918/012). 1919 wurde er dann zum Schriftführer des fürstlichen Appellationsgerichtes und der politischen Rekursinsanz in Wien ernannt.
[7] Wortspiel: "Der Fürst/First wäre schon recht, ab die Rafen sind nichts." Rafen sind die vom Dachfirst zur Dachrinne laufenden Dachsparren, auf welche die Dachlatten genagelt werden.
[8] Das Zitat lautet korrekt: "Nichtswürdig ist die Nation, die nicht ihr alles freudig setzt an die Ehre." Es stammt aus dem Drama "Die Jungfrau von Orleans", Fünfter Aufzug, von Friedrich Schiller.
[9] Vgl. das Drama "Wilhelm Tell", Erster Aufzug, Erste Szene, von Friedrich Schiller: "Zwing Uri soll sie heissen, denn unter dieses Joch wird man euch beugen."
[10] Leiter der fürstlichen Hofkanzlei war seit 1892 Hermann von Hampe. Mit "Tscheche" war vermutlich der fürstliche Justizreferent Josef Jahoda gemeint. Vgl. in diesem Zusammenhang die Polemik der "Oberrheinischen Nachrichten" gegen liechtensteinische Verwaltungs- und Gerichtsinstanzen im Ausland (z.B. O.N., Nr. 25, 12.4.1919, S. 1 ("Los von Wien! I."); O.N., Nr. 26, 16.4.1919, S. 1 ("Los von Wien! II.").
[11] Vgl. insbesondere die Verfassung des Fürstentums Liechtenstein vom 5.10.1921, LGBl. 1921 Nr. 15; das Steuergesetz vom 11.1.1923, LGBl. 1923 Nr. 2, sowie das Sachenrecht vom 31.12.1922, LGBl. 1923 Nr. 4. Dagegen wurde die Geschäftsordnung für den Landtag des Fürstentums Liechtenstein vom 29.3.1863, LGBl. 1863 Nr. 1, erst 1969 aufgehoben bzw. durch eine neue Geschäftsordnung ersetzt (LGBl. 1969 Nr. 27 und 28).