Das „Liechtensteiner Volksblatt“ übt Kritik an der Christlich-sozialen Volkspartei sowie an den Landtagsabgeordneten Friedrich Walser, Johann Wanger und Franz Josef Marxer


Artikel im „Liechtensteiner Volksblatt“ [1]

29.11.1918

Wo sind unsere Führer?

(Mitgeteilt)

Als bei den letzten Landtagswahlen [2] die nationalen Wogen hoch gingen, konnte man recht deutlich, das erste mal in unserem Lande, zwei verschiedene Tendenzen, Richtungen wahrnehmen. [3]

1. Eine der Regierung, trotz deren mehr oder weniger bekannten Fehlern, treue und anhängliche, wir wollen sie nennen die Rechte. [4]

2. Eine der Regierung mehr entgegengesetzte, wir wollen sie nennen die Linke oder die Opposition. [5]

Beide diese Richtungen vertreten in unserem Lande ein Volk und ein Land, beide wollen das Beste für dasselbe, beide nur sein Gedeihen. Und doch sind die grundlegenden Gedanken dieser beiden Parteien so verschiedener Natur, so verschiedener Wirkung, dass man, namentlich in letzter Zeit, glauben möchte, es wäre nicht möglich, dass diese Leute in ein und demselben Hause, unter einem Dache wohnten.

Beide diese Parteien wollen den Fortschritt des Landes, wollen die moderne Demokratie, und doch sind die Grundgedanken ganz verschiedener Natur. Die eine dieser Parteien, die Rechte, sie will den Fortschritt des Landes, doch nur im Rahmen des Gesetzes, sie ist allem sich Überstürzendem ein Feind, sie will nur Taten nach reiflicher Überlegung. Diese Partei, gewiss auch nicht ohne Fehler, sie war bis in die letzte Zeit die einzig Richtung gebende in unserem Lande. Das Volk im allgemeinen ist damit nicht schlecht gestanden. Der Wohlstand des Landes hat sich ungemein gehoben, namentlich der Bauernstand konnte sich günstig entwickeln. Es wurde im Lande Grossartiges geleistet an Strassen und Wasserbauten, Kanalisation, Rüfebauten usw. Es konnte dem Lande der unschätzbare Frieden erhalten werden. Das Land ist aus ganz schlechten und armen Verhältnissen, noch vor 50 Jahren, auf die Höhe gekommen, auf der es jetzt steht, und um die es viele beneiden. Das ist ein Erfolg, und nicht zuletzt einer der Rechten.

Seit ein paar Jahren nun haben wir im Lande Keime von Unzufriedenheit. In den, nun Gott sei dank verflossenen Kriegsjahren, hat sich diese Unzufriedenheit unter einer zielbewussten Führung vervielfacht, sie ist heute zu jener Stärke und Macht gelangt, dass sie im Stande war, durch ihre überlegene Führung die fürstl. liechtensteinische Regierung am 7. November zu stürzen. [6]

Diese Linke nun, hervorgegangen aus Unzufriedenheit, verspricht dem Lande sehr vieles. [7] Eisenbahn, Krankenhaus, eigene Regierung aus Landeskindern, wohl noch Präsident und Republik. Man spricht, das Geschäft werde blühen, die Bauern werden es gut bekommen, man spricht von neuen modernen Steuern, da die alten nichts mehr taugen. Man spricht mit sehr schönen Worten, wohl mit sehr reiflicher Überlegung, damit gerechnet, dass die grosse, plumpe Masse, die ungelenken und schwerfälligen Bauern, deren Sinn nicht verstehen.

Ja, es wurde gefehlt bei dem Bahnbau, als man die Bahn nicht gleich durch das ganze Land hinaufführte. [8] Die Schweiz hat sich eben damals schon stärker erwiesen als wir. Wenn die Schweiz uns wohlgesinnt und uns Anschluss an ihre eigenen Bahnen erlaubt, ja dann können wir oder andere eine Bahn bauen, sonst aber nicht. Eine eigene Bahn, ohne Anschluss, ist bei unserem Personen- und Frachtverkehr ein Unding, ein Unglück für das Land für die Steuerzahler. Ja, diese Bahn bringt doch Verkehr in das Land, bringt Fremde, die Geschäfte werden blühen; ja, die Geschäfte werden blühen und ihr Landwirte, die ihr trotz Abschaffung der alten und Einführung neuer, moderner Steuern, immer und immer werdet die Hauptschuldenlast zu tragen haben, bekommt die Ehre zum zahlen.

Mag die neue Steuer heissen wie sie will, Vermögens-, Kapitalsteuer  etc. ihr Landwirte werdet am schlimmsten davonkommen und umso schlimmer, wie mehr man unrentable Bauten aufführt.

Dem Geschäftsmanne mit seinem blühendsten Geschäfte, mit einem Herrenleben, können die Gesetze mit bestem Willen und Gewissen mit Steuern nie so beikommen, als euch Landwirten, ganz einfach: sein Vermögen lässt sich nicht kontrollieren in dem Sinne, wie es bei den Landwirten geschieht. Der Kapitalist im Grossen, er ist bewandert in Geldgeschäften, er gibt sich mit ihnen ab. Wo er die grössten Zinsen herausschlägt, wo sich sein Geld am meisten rentiert, dort legt er es an; dort kann er es anlegen, wo ihn unsere Gesetze niemals einholen können.

Es bleibt der Landwirt, der seine Ersparnisse, ob klein oder gross, in unserem Lande bei unserer Sparkasse anlegt und sozusagen anlegen muss. Er hat keine weiteren Geschäftsverbindungen, ist in Geldgeschäften nicht bewandert, seine mühevoll ersparten Kronen bringt er zur Kasse im Lande. Diese Landwirte nun, die zuerst Grund und Boden versteuern, Viehausfuhrtaxen bezahlen, kommen in letzter Instanz wieder zur Gelegenheit, auch ihre Ersparnisse zu versteuern. Ganz einfach aus dem Grunde, weil man Steuern einziehen muss, dort wo etwas zu holen ist, dort, wo man am wenigsten Widerstand findet, dort, wo die Führung am schlechtesten, dort bei der grossen ungelenken Masse.

Ihr Landwirte, ihr Kleinbauern, es geht um vieles, ob wir eine moderne Regierung oder die alte, ob ihr euch die Führung des Landes gänzlich aus den Händen reissen lässt oder nicht. Die neue Regierung, sie will vorderhand neben einem guten Bauernstand, mehr Industrie, mehr Verkehr, sie will mehr Proletariat, sie will mehr Stimmen. Ist einmal Stimmengleichheit oder gar Mehrzahl eingetreten, werdet ihr Steuerzahler des Landes nie und nimmermehr die Geschicke des Landes zu bestimmen haben. Man will mehr Stimmen, die immer nur gewinnen und nie etwas verlieren können. Man will Stimmen, die bei jeder Gelegenheit gleich zu haben sind, die stimmen ohne zu überlegen, ob es zum Nutzen oder Schaden des Landes, die stimmen nur nach dem Willen ihrer Führer. Man weiss ganz gut, dass der stärkste Rückgrat der alten Regierung, der Rechten, in unserem hochverehrten Fürsten [Johann II.] liegt, man weiss, ihn jetzt zu stürzen, ist nicht des Volkes Wille, man weiss aber auch, dass der Wille des Volkes in andere Bahnen geleitet, über kurz oder lang einen katastrophalen Umschwung herbeiführen könnte. Ihr Landwirte, ihr Kleinbauern, nicht schöne Worte sind es, die euch das Leben verschönern und euch eurem Ziele näher bringen, nein, es ist Arbeit und Eintracht, es ist ein Nimmerlassen von eurem Fürsten.

Wo sind die Führer, die Abgeordneten der Rechten? Wo ist ein Herr [Friedrich] Walser, ein Herr [Johann] Wanger, ein Herr [Franz Josef] Marxer usw. am 7. November, [9] am Tage der Trauer für einen jeden zu Fürst und Land haltenden Patrioten, sind sie mit klingenden Phrasen in das Lager unserer Gegner, in das Lager der Linken übergegangen, ihre Wähler, die auf sie, ihre Führer bauten und vertrauten im Stiche lassend, diese stehen nun da ohne Führung und ohne Leitung. Ihre letzte Hoffnung ist nun doch der Fürst und schliesslich, dass der gesunde Sinn des Volkes und der in das andere Lager übergegangenen Führer sich in letzter Stunde noch des Rechten besinnen. Es wäre auch wirklich zu schade, wenn ihr Bauern und Landwirte des Landes, die ihr den Rhein habt geholfen in sein Bett zu lenken, die ihr all die Kanäle gebaut, die ihr die Kultur des Landes gehoben, die ihr es hauptsächlich gewesen, die das Land auf seine jetzige Höhe gebracht haben, es wäre zu traurig, wenn ihr eines Tages dastehen würdet, ohne mehr Anteil nehmen zu können an den Geschicken des Landes. Es wäre ein unverdientes, aber selbst gewolltes Schicksal. Ich schreibe diese Worte, nicht etwa um Hass zu säen, Unfrieden zu stiften, nein, sondern um euch Bauern des Landes zu zeigen, um was für einen Preis es gehen kann, um euch zu erhalten, was ihr selbst geschaffen. Zu zeigen euch, dass Fürstentreue und Undankbarkeit ihm gegenüber für uns zwei Worte, die nie hoch genug eingeschätzt werden können. Mit dem Fürsten fällt auch die errungene Selbständigkeit der Landwirte Liechtensteins, mit dem Fürsten fällt auch das hohe Ansehen Liechtensteins im Auslande, mit dem Fürsten fällt unser Landes Wohl.

Ein Fürst ohne Rechte im Lande ist auch gleich keinem Fürsten; ein Fürstenhaus wie das unserige, welches auf Einkommen vom Lande gänzlich verzichtet, wird auch niemals zu uns betteln kommen um einen Fürstenthron. Der Fürst kann einen Titel verlieren, wir aber viel mehr und besonders ihr Landwirte.

Wo sind unsere Führer? [10]

Ein Bürger und Bauer

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[1] L.Vo., Nr. 48, 29.11.1918, S. 1.
[2] Die Hauptwahlen zum Landtag fanden am 11.3.1918, die Stichwahlen am 18.3.1918 statt. Die fürstlichen Abgeordneten wurden erst im April 1918 ernannt.
[3] Vgl. in diesem Zusammenhang die Kontroverse zwischen der im Volksmund „Löwenpartei“ oder „Herrenpartei“ genannten Vorläuferin der formal am 22.12.1918 gegründeten Fortschrittlichen Bürgerpartei und der Christlich-sozialen Volkspartei, etwa in: L.Vo., Nr. 8, 22.2.1918, S. 1 („Unsere Oberländer Abgeordneten für den kommenden Landtag“) und O.N., Nr. 9, 2.3.1918, S. 1 („Zum Programm der neuen Partei“)
[4] Anspielung auf die politischen Kreise um das „Liechtensteiner Volksblatt“. 
[5] Anspielung auf die Christlich-soziale Volkspartei.
[6] In der ausserordentlichen Landtagssitzung vom 7.11.1918 wurde Landesverweser Leopold von Imhof zum Rücktritt gezwungen und ein provisorischer Vollzugsausschuss unter dem Vorsitz von Martin Ritter eingesetzt (vgl. das handschriftliche Protokoll von Wilhelm Beck in LI PA Quaderer, Nachlass Wilhelm Beck).
[7] Vgl. z.B.: O.N., Nr. 9, 2.3.1918, S. 1 („Zum Programm der neuen Partei“).
[8] Die für das Land unglückliche Streckenführung der 1872 eröffneten Eisenbahn von Feldkirch über Schaanwald, Nendeln und Schaan nach Buchs führte wiederholt zu Bestrebungen, Vaduz, Triesen und Balzers an das Schienennetz anzuschliessen (1881-1884, 1903-1907, 1926 und 1927).
[9] In der genannten Landtagssitzung beantragten Landtagsvizepräsident Friedrich Walser und der Abgeordnete Wilhelm Beck, den abtretenden Landesverweser Imhof das Vertrauen auszusprechen und einen Vollzugsausschuss zu wählen. Lediglich die fürstlichen Abgeordneten Albert Schädler, Johann Baptist Büchel und Johann Wohlwend stimmten dagegen. Am 12.11.1918 wurde zudem Franz Josef Marxer anstelle von Emil Batliner in den Vollzugsausschuss gewählt.
[10] Eine Entgegnung zu diesem Artikel erschien in: O.N., Nr. 50. 7.11.1918, S. 1 („Zu den Vorgängen in unserem Land“).