Das neue Sachenrecht wird der Öffentlichkeit vorgestellt


Artikel in den „Oberrheinischen Nachrichten“ [1]

10.2.1923

Aus dem neuen Sachenrecht

o. Mit dem 1. Februar ist das schon mehrfach erwähnte, vornehmlich infolge des Kredites notwendig gewordene Sachenrecht [2] in Kraft getreten. Es ist dieses für jeden Grundbesitzer, aber auch für jeden Bürger ein sehr wichtiges Gesetz, aus dem wir in den nächsten Nummern [3] einige praktisch wichtigsten Punkte besprechen wollen. Einiges soll diesmal gebracht werden.

Kaufverträge und andere über Grundstücke können in Zukunft wohl noch von den Parteien oder ihren Vertretern ausgefertigt werden. Dagegen fallen die Zeugenunterschriften weg. Die Unterschriften der Parteien müssen zwecks grundbücherlicher Durchführung entweder vom Grundbuchführer oder vom Vermittler beglaubigt sein. Bis zum Inkrafttreten der Rechtssicherungsordnung, die demnächst erfolgen dürfte, [4] können nur das Landgericht und der Grundbuchführer die Unterschriften beglaubigen. Es müssen mithin beide Parteien vor der Amtsstelle in Vaduz, später bei einem Vermittler erscheinen. Das ist ein sehr wichtiger Unterschied gegenüber früher, der im Interesse des Kredites und der Ordnung geschaffen worden ist.

Nach bisherigem Rechte konnten Verträge und Vorverträge über ein Grundstück mündlich abgeschlossen werden. Das ist in Zukunft anders! Verträge und Vorverträge, die ein Grundstück zum Gegenstande haben (über Kauf, Tausch, beschränkte dingliche Rechte, Verkaufs-, Rückkaufsrecht, Kaufrecht usw.) bedürfen zu ihrer Gültigkeit der schriftlichen Form. Mündliche Verträge sind ungültig und können nicht mehr im Klageweg geltend gemacht werden. Das ist ein sehr wichtiger Unterschied. Wer also ein Grundstück z.B. kaufen will, der muss den Kauf schriftlich festlegen, sonst ist er ungültig. Mündliche Abmachung genügt nicht.

Marchungen. Die Grenzen werden durch die Abgrenzungen auf dem Grundstück selbst angegeben. Ihre Richtigkeit wird vermutet, d.h. im Streitfalle würde bis zum Beweis des Gegenteils angenommen, dass die Grenzen richtig seien.

Abgrenzungspflicht. Jeder Grundeigentümer ist verpflichtet, auf das Begehren seines Nachbarn zur Feststellung einer ungewissen Grenze mitzuwirken und die Anbringung von Grenzzeichen an der Grenze zu dulden. –

Abgrenzungsverfahren. Auf Begehren eines Grundeigentümers hat die Feststellung streitiger Grenzen unter Mitwirkung des Gemeindevorstehers oder Vermittlers zu erfolgen. Dieser ladet die Parteien rechtzeitig zur Ausmarkung ein, setzt nach deren Anhörung die Grenze fest und stellt beiden Parteien einen unterzeichneten Grenzbeschrieb zu. Erscheint eine der Parteien nicht oder bleiben beide Parteien trotz rechtzeitiger Ladung aus, so wird gleichwohl die Grenze festgestellt und ein Grenzbeschrieb zu gestellt. Gegen den Entscheid des Vorstehers oder Vermittlers kann die benachteiligte Partei Anfechtungsklage beim Landgericht stellen, widrigenfalls der Entscheid rechtskräftig wird. Das Gesetz regelt gleichfalls die Tragung der Marchungskosten. Dieses im Gesetz vorgesehene Marchungsverfahren wurde bisher ohne gesetzliche Grundlage gehandhabt. Das Gesetz hat diese Übung nur geregelt.

Bauten. Nach der bisherigen Handhabung der Bauvorschriften [5] und insbesondere nach der Instruktion für Bauaufseher, [6] die offenbar dem bürgerlichen Rechte widersprechende Bestimmungen enthielt, konnte man mangels Erhältlichkeit einer Baubewilligung auf fremden Grund und Boden nicht bauen. Eine bekannte Ausnahme entgegen jener Instruktion wurde nur beim Bau von Jägerhäusern im Alpgebiet gemacht. Nach dem neuen Recht können sogar auf fremdem Grund und Boden Bauwerke errichtet werden (sogen. Baurecht). Nur die Bestellung eines Baurechts an einzelnen Stockwerken schliesst das Gesetz aus. Ein solches Baurecht ist  selbst wieder ein Grundstück und ist, wenn es auf 30 oder mehr Jahre bestellt ist, veräusserlich und vererblich. Hinsichtlich des Bauens enthält das Sachenrecht Bestimmungen, die einen Teil der bisherigen Bauordnung abändern und ergänzen.

Bei Bauten darf der Eigentümer die nachbarlichen Grundstücke nicht dadurch schädigen, dass er ihr Erdreich in Bewegung bringt oder gefährdet oder vorhandene Einrichtungen (beispielsweise Quellen, Brunnen) beeinträchtigt.

Gesetzliche Bauabstände sind in Zukunft: bei unüberbautem Boden 3 ½ Meter, bei überbautem Boden 7 Meter. Eine Ausnahme gilt für Bauplätze an Gassen und Strassen mit zusammenhängender Häuserreihe. Wird ein bestehendes Gebäude höher gebaut oder umgebaut, oder wird auf dem Platze eines bisherigen Gebäudes ein neues errichtet, so dürfen dabei die Grenzen des alten Gebäudes nicht überschritten werden. Diese Grenzabstände können aber mit Zustimmung des Nachbarn in beliebiger Weise abgeändert werden. –

Gegenüber Strassen haben die Bauten einen Abstand von 3 ½ Meter, gegenüber Ortsgassen (Gemeindestrassen) einen Abstand von 2 Metern einzuhalten. Das Bauamt kann jedoch, wo wichtige Gründe es rechtfertigen, eine Ausnahme gestatten.  

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[1] O.N., Nr. 11, 10.2.1923, S. 1-2.
[2] Sachenrecht vom 31.12.1922, LGBl. 1923 Nr. 4 (vgl. auch LI LA LTA 1923/L06). Verfasser des Gesetzentwurfes zum Sachenrecht war der liechtensteinische Geschäftsträger in Bern, Emil Beck (vgl. LI LA LTA 1922/L06). Vgl. weiters Ziff. 7 des Protokolls der Finanzkommission des Landtags vom 16.10.1922 unter LI LA LTA 1922/S03. Diesbezügliche Berichte von Emil Beck oder der Finanzkommission an den Landtag sind jedoch in den Landtagsakten nicht aufzufinden. Die Gesetzesvorlage wurde vom liechtensteinischen Landtag am 20.11. und 21.11.1922 behandelt und mit Änderungen einstimmig angenommen. Für die Vornahme der Änderungen wurde eine Redaktionskommission, bestehend aus Landtagspräsident Wilhelm Beck und Emil Beck, gewählt (LI LA LTP 1922/196 und LI LA LTP 1922/197 ff.). Vgl. schliesslich die Regierungsverordnung vom 1.5.1924 zum Sachenrecht, LGBl. 1924 Nr. 13. 
[3] Vgl. in weiterer Folge O.N., Nr. 16, 28.2.1923 („Aus dem neuen Sachenrecht“); O.N., Nr. 17, 3.3.1923, S. 1 („Die Genossenschaftsalpen nach dem neuen Sachenrecht“); O.N., Nr. 18, 7.3.1923, („Aus dem neuen Sachenrecht“); O.N., Nr. 19, 10.3.1923, S. 1 („Aus dem neuen Sachenrecht“); O.N., Nr. 21, 17.3.1923, S. 1 („Aus dem neuen Sachenrecht“); O.N., Nr. 24, 28.3.1923, S. 1 („Aus dem neuen Sachenrecht“); O.N., Nr. 26, 4.4.1923, S. 1 („Aus dem neuen Sachenrecht“) sowie O.N., Nr. 34, 2.5.1923, S. 1 („Handwerker und das neue Sachenrecht“).
[4] Die Rechtssicherungs-Ordnung vom 9.2.1923, LGBl. 1923 Nr. 8, trat mit ihrer Publikation am 26.2. in Kraft.   
[5] Vgl. die Bauordnung vom 14.7.1870, LGBl. 1870 Nr. 6.
[6] Vgl. die Verordnung vom 6.3.1908 betreffend die Erlassung einer Dienstinstruktion für die Bauaufseher der Gemeinden, LGBl. 1908 Nr. 1, und das Gesetz vom 14.1.1904 betreffend Bestellung von Bauaufsehern, LGBl. 1904 Nr. 2.