Martina Gstöhl an ihre Schwester Balbina Gstöhl über die Zusendung von Geld und Kleidern aus Amerika, die Inflation und die schlechte wirtschaftliche Situation in Österreich, die grassierende Grippe, die Staatsbediensteten und Eisenbahnangestellten als Kriegsgewinnler, die amerikanischen Kinderausspeisungen, den Erholungsaufenthalt von österreichischen Kindern in der Schweiz, den teuren Eisenbahnverkehr nach Liechtenstein, die neue Zollgrenze bei Tisis und Nofels sowie die Einführung der Frankenwährung in Liechtenstein


Handschriftliches Originalschreiben der Martina Hartmann [-Gstöhl], Ludesch (Vorarlberg), an ihre Schwester Balbina (Marie Balbina Öhri [-Gstöhl]), Spencer (Nebraska) [1]

05.09.1920, Ludesch (Vorarlberg)

Liebe Schwester u. Famielie! [2]

Haben Dein Schreiben samt Wert-
papiere erhalten. Auch das Paket
haben wir gestern erhalten, der
Brief schon einige Tage vorher. Bitte
daher um Entschuldigung, dass [3] ich
nicht sofort auf den Brief geantwortet,
weil wir jeden darauf folgenden
Tag auch das Paket erwarteten.
Wir sagen Euch ein tausendfaches
Vergelts-Gott dafür. Der lb. Herrgott
im Himmel wolles Euch Allen an
Glük u. Wohlergehen vergelten. [4]
Wir wollen Euer täglich im Gebete
gedenken u. Gott bitten, dass er Euch
Alle gesund u. im besten Wohlergehen
noch recht lange lange erhalten möge.
Aber was werden Dein Mann [Ulrich Öhri] u.
Deine Kinder dazu sagen, wenn sie
noch für uns arbeiten sollen. Ich
kann Euch die grosse Freude über
diese Wohlthat nicht schreiben.
Tochter [Katharina] zeigt das ganze Paket
immer allen Leuten wo kommen
vor lauter Freude, sie spricht
immer nur vom Paket u. zur
mir sagt sie immer, weisst soviel
Geld, soviel Geld von der Tante
u. von Allen. Sagen daher [5]
nochmals tausendmal Vergelts-
Gott Euch Allen. Ich könnte Dir
nicht sagen, welches Stük als wir
nodweniger brauchen würden
als das andere. Ein farbenes
Taschentuch z. B. kostet heute hier
30 Kr. [Kronen] 1 Spul Faden 34 der Meter
solcher Stoff 90-95 Kr. Seife 24 Kr.
per Stk. Strümpfe weiss ich gar
nicht wie teuer wir habens
immer nur zusammen geflikt, aber
alles war so kaput, dass es fast nicht
mehr beisammen hält.

Käther geht diesen Winter
das letzte Jahr in die Schule, [6]
jetzt wolle sie eben die weissen
Taschentücher schön zeichnen, damit
sie Euch dieselben im Frühjahr,
wenn Ihr hier kommt zeigen könne.
Die Soken würden hier gewiss […] [7] Kr.
kosten per Paar.

Wie geht es Euch sonst. Seid Ihr
wieder gut. Die Krippe herrscht hier
auch furchbar. Gegenwärtig in unserer
Gemeinde nicht so, aber im Tirol.
Nächste Woche sollen wir amerikani-
sches Weizenmehl zu Brotmehl
bekommen, vielleicht das wo die
Deutsch-Amerikaner uns geschenkt
u. wir müssen es teuer kaufen.
In der Tiroler Zeitung heissts immer [8]
wie in Amerika furchbar viel
gesamelt u. gespendet werde für
Östreich, Kleider, Schuhe u. Lebens-
mittel aber hier bei uns giebts
nichts davon. An Orten wo viel
so Beamte u. Staatsangestellte
sind, welche sonst schon Riessenlöhne
beziehen, dort sind überall
amerikanische Kinderausspeisun-
gen aber hier bei uns nicht.
Wenn für so was gesammelt wird,
gebet nur nichts, den so was be-
kommen nur solche, welche das
Geld was sie verdienen zu Ver-
gnügungen u. Genusssucht
brauchen. Östreich hat auch Kinder [9]
in die Schweiz gesend zur Erholung.
Habe diese Tage gelesen in der
Zeitung, dass selbe vor Ablauf
der Zeit aus der Schweiz zurük
gekommen mit dem Bemerken,
dass es nicht notwendig sei,
solchen die Kinder zu erhalten
welche den stetten Vergnügun-
gen nach gehen können. So steht
es in Östreich heute, die ehrlich
u. redlich denken u. handeln die
können sich blos erhalten u. die-
jenigen die Schieben, Schmuggeln
u. unverschämt handeln die kommen
zu Geld u. können sich alles leisten.
Die Bahnangestellten haben [10]
ungeheure Löhne, aber das Eisenbahn
fahren vermag bei uns nicht mehr
alles z. B. früher wenn ich nach Lichten-
stein gefahren kostete die Fahrt
retour 3’60 Kr. heute kostet es eine
Fahrt gewiss 12-13 Kr. Ich war
nämlich schon bald 2 Jahre nicht
mehr draussen. Es gehört jetzt
wirtschaftlich zur Schweiz, die Grenze
ist jetzt in Tisis u. Nofels.
Draussen haben sie jetzt auch
Franken. Ich weiss drum
eben noch nicht soll ich die Wechsel
in Franken od Kronen lösen.
Man sagt hier immer an einem
schönen Morgen habe unsere [11]
Krone gar kein Wert mehr.
Uns hindert es nicht sehr,
bis ich dem Mädel auf den Winter
Kleider geschaffen, brauche ich noch
vieles Geld. Wir haben dem Mädel
ein paar Halbschuhe u. Rok ge-
kauft, aber bos Bandrok ohne Theile
kostet zusamen 717’50 Kr. Mann [Johann Josef Hartmann]
u. ich haben auch müssen Schuhe
haben, kosteten wenigstens 2000 Kr.
Wen ein Schweizer hier einen
Besuch macht, der kann billig leben,
denn der Frank gilt gegenwärtig 38 Kr.
kommt aber sowieso wie letzten
Winter noch auf 50 Kr. Wenn man
so hört u. liest u. schaut, komts
einem vor, wie wenn alles verrückt
wäre. [12]
Es frägt sich zwar alles hier,
wie lange diese Wirtschaft noch
so gehe, aber es ist schon lange so,
u. wird mir scheint noch lange
bleiben, den wie höher der Franken
steigt gegen unsere Krone, desto
teurer kaufen wir. Habt Ihr
auch schon Schweinfett verkauft
nach Östreich, was bekommt Ihr dafür.
Gegenwärtig bezahlen wir 140 Kr.
per Kilo u. Mais kommt gewiss auch
von Amerika, hier kostet Kilo 12’75.
Kochmehl könnte man kaufen, soviel
man möchte Kilo um 42 Kr.
Habe diese Tage zu Mittag einen
Schmarn gemacht u. berechnet [13]
wie hoch er zu stehen kam. Ver-
wendet habe ich 2 Eier 10 Kr. Mehl
für 3 Kr. Schmalz 12 Kr. Milch
1’50 ½ lt. also kam der Schmarn
zum Mittagessen auf 26’50 kr.
Wie werden es Leute machen
wo vom Verdienste leben
müssen mit 5-6 od. noch mehr
Kindern. Es kommen nicht umsonst
den ganzen Tag betteln, es ist
ja nicht anders möglich.

Nun wir wollen hoffen, dass es
doch noch einmal anders wird.
Schiket uns bald wieder einmal
etwa ein Bild, Ihr macht sie
ja selbst. Würden auch gerne [14]
eins haben von Magdalena [Connot [-Öhri]]
u. Famielie. Werde Ihnen auch
schreiben, morgen in der Früh
heute ist es schon spät.

Habe zwar schon viel zu viel
geschrieben, aber ich meine
nur, dass Ihr ein Begriff von
hier habet.

Lasset daher auch bald wieder
etwas von Euch hören.

Nochmals ein Vergelts-Gott

mit vielen Grüssen u.
Wohlergehen von uns Allen
besonders von Deiner Schwester

Martina [15]

Ich habe nicht gemeint, dass
Du mir solltest neue Waare
schiken, blos von Euch altes
Zeug, welches Ihr nicht mehr
traget, den hier kann man jetzt
alles brauchen, jetzt so neues
Zeug kaufen kostet ja ungeheuer
Geld

Nochmals tausend Vergelts-Gott.

Auf Wiedersehn. Lebet Alle wohl.

______________

[1] LI LA PA 016/3/11/08.
[2] In lateinischer Schrift.
[3] Ursprüngliche Fassung: „daẞ“. Das Eszett wird im Folgenden zu „ss“ umgewandelt.
[4] Seitenwechsel.
[5] Seitenwechsel.
[6] Seitenwechsel.
[7] Wegen eines Flecks auf dem Papier unleserlich.
[8] Seitenwechsel.
[9] Seitenwechsel.
[10] Seitenwechsel.
[11] Seitenwechsel.
[12] Seitenwechsel.
[13] Seitenwechsel.
[14] Seitenwechsel.
[15] Seitenwechsel.