Emma Rheinberger an Alois Rheinberger über ihren kostspieligen Kuraufenthalt in Arosa und ihr Heimweh, die Wallfahrt mit Olga Rheinberger nach Lourdes, die Eindrücke und die wunderbare Heilung zweier Pilger in Lourdes sowie das schlechte Weinjahr in Vaduz


Handschriftliches Originalschreiben der Emma Rheinberger, Arosa (Graubünden), an Alois Rheinberger, Nauvoo (Illinois) [1]

28.08.1905, Arosa (Graubünden)

Lieber Herr Vetter!

Wie schon so lange
[2] mich verlangt, wieder einmal zu
Ihnen zu kommen! Ihnen zu danken
für Ihre letzten lb. Worte. – Vorerst aber
verzeihen Sie meine schlechte Schreibart,
ich muss liegend schreiben. – Gewiss,
lb. H. Vetter haben Sie gedacht, ich sei
ein undankbar‘ Geschöpf, so lange nicht
zu danken! Aber es ist inzwischen so
Vieles, was am Schreiben hinderte gekommen,
ich hatte eine kl. Rippfellentzündung!
Der Arzt bestand auf Höhenluft u. so
bin ich denn freilich furchtbar hoch he-
rauf gekommen 1800 Mtr. liegt Arosa,
Ct. Graubünden, 6 Poststunden über
Chur. – Arosa ist schön, eine grossartige
Gebirgswelt, noch nie gesehene Riesen-
berge umringen es, – aber ein schrecklich
Heimweh liess mich dies Alles nicht mehr
sehen. Denken Sie nur diese Blamage
für meine Schwester Olga [Rheinberger], – sie ist mit
mir hergekommen, – am Tage vor Ihrer Ab-
reise hörte ich nicht mehr auf zu weinen,
bei [3] Tisch vor allen Gästen fielen
mir die Tränen in d. Teller hinunter, – [4]
wie musste sich Olga geniren! – Ich riet ihr
dann, sie solle heimlich fort, dass ich’s nicht
merke, – aber sie konnte d. Wirtsleuten doch nicht
auf- u. davonlaufen, – so heulte ich denn
8 Tage fort; – Ach es mag noch so schön sein
da u. dort in d. Welt, meine liebe, liebe
Heimat
[5] ersetzt nichts. – Und d. Schönste
von Allem – der Dr. will mich wahrscheinlich
Monate, bis in den Winter hinein hierbe-
halten. Er findet es für meine Lunge
absolut notwendig. – Soll ich nicht
durchbrennen, Vetterchen? Durch’s Bündner-
land hinunter das wäre mir ein Spass, –
nur fürchte ich d. Prügel v. daheim! –
So will ich denn Gott zu lieb ausharren,
um so bälder macht er dann gewiss, dass
ich heim [6] darf, heim [7] juche! – Es sind
hier meist Lungenschwache, welche die
Ihnen gewiss bekannten Liegekuren auf
Veranden u.d.g. benützen. Dies tu auch
ich u. zwar fast den ganzen Tag, dess-
halb um Verzeihung dieser garstigen Schrift.
Ach wie viel viel sollte, möchte ich Ihnen
erzählen, es kommt mir fast 1 Jahrlang vor, dass
ich Ihnen nicht geschrieben, in Gedanken
war ich freilich um so mehr bei Ihnen, ach
wie oft! – Zuerst müssen Sie mir nun
sagen, ob Sie unterdessen auch immer gesund
u. munter gewesen? Dann will ich Ihnen
etwas sehr Schönes erzählen. Hat der [8]
Sommer, mit seinen vielen Arbeiten in den
Weinreben Ihrem armen, noch blutenden
Vaterherzen, das dem lb. Gott erst wieder
einen Sohn [Hans Rheinberger] geschenkt, nicht doch ein ganz
kl. wenig Linderung errungen? – O sehen
Sie, wie gut, treu u. allmächtig d. lb.
Gott ist, – er kann trösten, wo es Niemand
mehr kann. Seine lb. hinterlassenen ar-
men Waislein, sie wachsen jetzt heran zu
Ihrer Freude, – sie werden Grossväterchen
in’s Herz hineinlachen, wie stärkende
treue Engelein. – Ihren andern lb. Kin-
dern allen geht es doch gut? – Aber leider
d. meisten so weit, weit weg, nicht? –
Um so mehr dürfen sie sich dann alle X
heim [9] freuen, – dürfen heim zum Väterchen [10],
ich habe keines mehr. –

Jetzt werde ich Ihnen etwas gar schönes
erzählen. – Denken Sie ich darf unter ei-
nem Dache mit d. lieben Heiland wohnen.
Das kam so: Arosa existiert als Kurort
erst wenige Jahre, von d. wenigen Einwohner 
sind meist Alles Protestanten, so dass
d. lb. Heiland mit einem ärmlichen Zimmer
für lieb nehmen muss. – Ach so arm ist
es, dass es einem ganz weht tut, was wie [11]
viel tut d. lb. Gott doch uns zu lieb.
In den obern Stockwerken dieses Hauses
ist eine Fremden-Pension u. einer die-
ser glücklichen Bewohner bin ich. – Sehen
Sie wieder diese Güte – Gottes. – [12]

Von Lourdes lieber H. Vetter – ach von dort
erzählen, von jenem heilg. geliebten Orte
das kann man gar nicht. Zu Füssen des
süssen Himmelsmutterle an jem einfachen
Felsen Massabielle [13] fühlt man d. Nähe der
hohen Himmelskönig
[14], dass einem das Herz
ergriffen wird. Olga u. mir rollten erst d. Thrä-
nen nur so herunter. Es war eine furchtbare
weite Reise, viel weiter als wir geahnt.
Unser Pilgerzug allein hatte 100 Kranke bei
sich, eine in einer Kiste [15]. Aber welche Beloh-
nung am Ziele! 1000fache Vergeltung harrte
ja unser Aller. – So ungefähr muss es sein
vor dem Paradiesespförtlein zu stehen,
man denkt, wünscht, verlangt nichts
mehr dort in der Nähe unsrer lb. hl. Mut-
ter, – „nur bei Dir sein lasse mich immer
Mütterle“ – gehe nie mehr fort von mir
spricht’s im Innern. – Die Grotte ist so
schmucklos u. einfach, als denkbar, die
bösen Franzosen hatten nicht genug 2
d. blühendsten Klöster Lourdes auszu-
rotten, auch an diese himmlische Stätte
wollten sie sich wagen – nicht beden-
kend, dass sie es nicht können, wenn
d. lb. Himmelsmutter es nicht will. –
Die Kirche, od. eigentlich d. 3 Kirchen
über einander sind wol v. d. grössten,
Kunstwerken d. Welt. – Man weiss nicht
möchte das Herz immer weinen, od. lachen vor [16]
Freude u. Entzücken – jedes Steinchen
spricht von den Wunderwerken U. l. Frau.
Abends bei einer wunderherrlichen
Lichterprozession mit so vielen 1000
Menschen, welche alle das Lob d. Himm-
lischen singen – ach dann ist es so
rührend, so unaussprechlich als ob man
d. Irdischen enthoben wäre u. erglüht
v. Liebe zur lb. Mutter im Himmel oben.
Wirft mein ein Blick zurück, – o, wie-
der kommen d. Thränen, – die ganze Kirche
[17] prangt wie in überirdischen
Lichtlein, v. d. Erde bis zur Thurm-
spitze ist mit unzählbaren elektri-
schen, verschieden farbigen Flämmchen
alles beleuchtet (mit gewiss annähernd
so viel elektrischer Kraft, als ganz Vaduz
zu seiner Beleuchtung hat). – Und
welches Glück, welche Freude gewährte
uns Himmelsmütterchen, 2 arme Kranke
heilte sie in unsrer Gegenwart, ich
glaube Ihnen schon davon erwähnt
zu haben, es waren 2 grosse, grosse
Wunder, ein armer junger Mann aus
d. Österreichisch-Ungarischen Pilger-
zug u. eine Kölnerpilgerin wurden
geheilt. – Ach welch ein Jubel, welch
ein Lobgesang ist das dann stets, [18]
einige [19] singen aus Dank u. Her-
zensfreude, andere weinen u. viele beten mit
ausgestreckten Armen in neuer Hoffnung,
Himmelsmutterle werde sie nun auch
von ihrem Herzeleid erlösen. – Ach wie
bitter, viel Elend u. Kummer trägt man
doch dort hin zu unsrer herrlichen Mutter.
Ein grosser [20] Platz vor d. Grotte
ist mit Krankenwägelchen besetzt,
welche sich zum Teil nicht mehr rühren
können. Und keiner geht trostlos, leer
nach Hause, – so dass ich beim Ab-
schied v. Lourdes Olga frug, ob sie in ihrem Leben
schon einmal so glücklich [21] gewesen?
Die Gnaden volle Quelle [22] ist erstaunlich
stark, gefasst jetzt in 12 [23] Wasser-
hänen. – Die Bäder davon machen ei-
nen ergreifenden Eindruck für’s ganze
Leben, – denken Sie nur Vetterchen ich
hatte auch 2 x diese grosse Gnade zu baden.
Vor d. Grotte, wie vor diesen Bädern (zu
letztem ist ein eigenes grosses Haus)
machen es sich d. ersten Aristokraten
Frankreichs zur Ehre [24], Wache
zu halten, dass keine Unordnung unter
den vielen 1000 Menschen entstehen
kann. – Gott sei Dank hat d. lb. Gott in
Frankreich denn doch auch noch gute [25], reli-
giöse Männr, welche mit ihrem Beispiel un-
endlich viel Gutes wirken. – Ich habe Ihnen
auch etwas von Lourdes mitgebracht, lb.
Vetter, v. d. Stätte, wo d. lb. Himmelsmutter [26]
gestanden, aber ich habe es jetzt nicht bei mir.
Sollte je Jemand Ihrer Lieben nach Europa
kommen, bestehen Sie doch darauf, dass dann der
Weg über Lourdes genommen wird, nicht wahr?
es ist ja ein ganz kl. Umweg u. ein Glück
für Zeit u. Ewigkeit. – Wenn ich nicht irre,
wurde unsr. lb. F. von Lourdes auch v. Amerikanern
schon aufgesucht. – Wir haben auf d. Reise
auch eine kl. Meerfahrt gemacht – o wie rei-
zend war das, ich hätte weiter, immer weiter fahren
mögen bis nach Nauvoo u. dann aber wieder
zurück in meine lb. süsse Heimat. –

Ich habe eben gedacht, welche Herzensfreude
das sein müsste, Sie ein einzig mal nur,
u. nur ein Augenblickchen sehen zu dürfen,
– aber nein, ich hätte nicht genug, – ich
möchte Sie auch hören, Ihre lb., mir so
zur Seele sprechenden Worte selbst hören.
Um das Geldlein das ich hierlassen muss
wäre ich wol 2 x hinüber u. wieder he-
rüber gekommen über das grosse Wässer-
lein. Es ist so entsetzlich teuer hier
(unter 10 frs. [27] pro Tag geht es kaum ab)
so dass ich mir oft recht viel Kummer
mache, meinen Geschwistern so viel weg-
zunehmen. Sind d. Kurorte bei Ihnen
auch so teuer? Bei d. Wochenrechnung wird
mir alle X fast schlecht, wie soll ich denn
dies meinen Geschwistern gegenüber wieder
gut machen? um so mehr kein gutes Wein-
jahr zu erwarten, die Reben hatten einen
bösen, kalten Winter u. der Sommer brachte [28]
Krankheit u. Hagel, eine ganz eigentüm-
liche Krankheit, d. Beeren wurden schnell ganz
ausgetrocknet (dürr, schwarz) u. fielen ab.
Wie sie wol bei Ihnen sein mögen? –
Eigentlich bin ich jetzt in d. Heimat
Ihrer lb. Frau [Margarethe Rheinberger [-Brasser]], ungefähr 5 Stund v. hier über
d. Berge ist man in Churwalden. Diese
Tur wird v. hier aus sehr viel v. Turisten
gemacht, mehr aber noch d. Lenzerhaide
zu. – Und nun, viellieber Vetter, em-
pfehle ich Sie dem Schutze des lb.
Himmelsmütterchen u. bitte Sie inniglich
bei ihr, unserm Himmelstrost auch meiner
mit 1 Ave zu gedenken, dass ich bald
wieder heim darf, die Auslagen hier für
mich sind mir so schrecklich. –

Grüssen Sie Ihre Lieben! O welch ein
Glück, welche eine Gottesgabe immer ge-
sund zu sein, Ihnen hat sie d. lb. [29]
geschenkt, aber dafür so bitter, bitter
schwere Opfer von Ihrem Vaterherzen gefor-
dert, dass es vielleicht eben so viel ge-
litten, als das [30] sterbende Kindes-
herz, nicht wahr? Lieber selbst leiden
als andre die Eigenen leiden sehen
müssen, nicht wahr? –

Verzeihen Sie auch meine schlechte Schrift?
Bleiben Sie mein lb. g. Vetter /

Ihrer
anhänglichen
Emma Rheinberger.

Es ist auch ein Herr hier, der sich schon mehrere Jahre in New-York aufhält, er
kannte aber auf mein Befragen d. Namen Rheinberger, Ihres Sohnes nicht. [31]

Adress: Arosa [32] (Pension Waldrand)
Graubünden [33]

______________

[1] LI LA AFRh Ha 18. Brief in lateinischer Schrift.
[2] Durchstreichung.
[3] Durchstreichung.
[4] Seitenwechsel.
[5] Unterstrichen.
[6] Unterstrichen.
[7] Doppelt unterstrichen.
[8] Seitenwechsel.
[9] Doppelt unterstrichen.
[10] Unterstrichen.
[11] Unterstrichen.
[12] Seitenwechsel.  
[13] Mariengrotte von Massabielle bei Lourdes.
[14] Unterstrichen.
[15] Unterstrichen.
[16] Seitenwechsel.
[17] Durchstreichung.
[18] Seitenwechsel.
[19] Durchstreichung.
[20] Durchstreichung.
[21] Unterstrichen.
[22] Unterstrichen.
[23] Unterstrichen.
[24] Durchstreichungen.
[25] Unterstrichen.
[26] Seitenwechsel.
[27] Unterstrichen.
[28] Seitenwechsel.
[29] Unsichere Lesung, da mit schwarzer Tinte überschrieben.
[30] Durchstreichung.
[31] Dieser Satz am Rande der 8. Seite hinzugefügt.
[32] Unterstrichen.
[33] Die Adressangabe mit schwarzer Tinte über den Text auf der 8. Briefseite geschrieben.