Bericht der Thurgauer Zeitung, nicht gez. [1]
4.12.1918
Liechtenstein
i. Buchs, 3. Dez.
Das kleine Ländchen Liechtenstein, das sich von einem erhöhten Standort leicht übersehen lässt, will also auch zur Schweiz. Wenigstens sucht das Fürstentum sich wirtschaftlich an die Schweiz anzuschmiegen – eine Vorstufe zum politischen Anschluss. Sehr interessant ist der Werdegang dieser Bestrebungen.
So wenig wie das Vorarlberg hat Liechtenstein vor und während der Kriegszeit in irgend einer Weise versucht, sich von der österreich-ungarischen Monarchie loszulösen. Im Gegenteil. Enge wirtschaftliche und politische Bande verbanden das Ländchen mit der grossen Doppelmonarchie. Der österreichische Baron [Leopold] von Imhof funktionierte als Landesverweser im Ländchen. Aller Art Landesprodukte, namentlich aber Vieh, wanderten in das benachbarte Vorarlberg. Riesige Gewinne wurden dabei erzielt, so dass die Sparguthaben bei der Landesbank in Vaduz von 3 Millionen Kronen vor dem Krieg auf über 20 Millionen im Jahre 1918 stiegen. Dabei wurden die Hypothekarschulden fast gänzlich getilgt. Einen ungeheuren Umfang hat das Schmugglerunwesen angenommen. Nicht mit Unrecht wird behauptet, dass in einzelnen Gemeinden des Oberlandes die ganze Gemeinde, ohne Unterschied von Stand und Stellung, sich mit diesem rentabeln Gewerbe beschäftigte. Wer Gelegenheit hatte, des Werktages die Dorfwirtschaften zu inspizieren, wo allzeit festliches Getriebe herrschte, hat sich einen Begriff machen können von der Rentabilität dieses Handwerkes.
Der Zusammenbruch des habsburgischen Staatsgebildes hat all diesen Treiben ein Ziel gesteckt. Durch die „Liquidierung“ der österreichischen Heeresvorräte, die in der ersten Phase der Auflösung in „beliebige Hände“ übergingen, war dem Schmuggel nach Österreich der Nährboden entzogen. Doch die „Schwärzer“, wie sie im Liechtenstein genannt werden, wussten sich zu helfen. Zu spottbilligen Preisen konnte man alle möglichen Gegenstände kaufen. Der Warenstrom änderte seine Richtung und warf sich auf die Schweiz. Der Hauptumschlagplatz war die Luziensteig, wo das Innere ganzer Kasernen zum Kaufe feilgeboten wurde. Nicht ein einziger Gegenstand, der im Kriege praktische Verwendung hatte, war nicht zu haben, vom Schuhnagel bis hinauf zur Feldküche und zum Munitionswagen. Es ist deshalb leicht begreiflich, dass das Gerücht herumgeboten wurde, eine gewisse Partei im Liechtenstein sei im Besitze von Maschinengewehren, Feuerwaffen aller Art und Munition.
Die österreichische Finanzwache, die nach wie vor die Grenze zu bewachen hatte, stand diesem Treiben machtlos gegenüber. Wo sie sich zeigte, wurde sie übel behandelt. Ein Grenzwachhaus wurde zertrümmert, und die Finanzer wurden mit der Waffe bedroht. Zeitweise wurde der österreichische Grenzschutz zurückgezogen. Die ganze Angelegenheit endigte mit der Kündigung der Zoll- und Handelsverträge mit Österreich. Die Liechtensteiner hatten sich jedoch mit diesem Akt ins eigene Fleisch geschnitten: Deutsch-Österreich sperrte von nun an die Grenze gänzlich.
Nun ist es begreiflich, dass das Ländchen in seiner Stellung zwischen Stuhl und Bank nach der Schweiz angelte. Befremden ruft aber die Meldung hervor, dass beidseitige Kommissionen an der Arbeit sind, die ganze öffentliche Verwaltung, wie das Zoll-, Post- und Telegraphenwesen der Schweiz anzugliedern.
Vor allem muss auf wichtige Tatsachen hingewiesen werden, die bei eventuellen Abmachungen unter keinen Umständen ausser acht gelassen werden dürfen. Österreich hatte nicht nur den Zoll und die öffentlichen Verkehrsanstalten in den Händen, sondern besass zudem noch das Recht, alle im Mutterlande erhobenen indirekten Steuern einzufordern (auf Zucker, Kaffee, Petrol, Seife, Zündhölzer, Tabak, Alkohol usw.). Laut vertraglichen Abmachungen erhielt das Ländchen für die Privilegien jährlich 136‘000 Kronen. In den letzten Jahren betrug die Zuteilungsquote jedoch 200‘000 Kronen, womit Liechtenstein die ordentlichen Ausgaben fast vollständig bestreiten konnte, ohne von den Bürgern drückende Steuern zu verlangen. Sollte Liechtenstein dem schweizerischen Zollgebiete einverleibt werden, so fielen alle diese indirekten Steuern ohne weiteres dahin, da wir dies Steuern nicht kennen. Es ist somit leicht zu begreifen, warum Österreich in der Lage war, einen solchen Betrag dem Lande abzugeben. Unser Land wäre jedoch niemals in der Lage, auch nur die geringste Entschädigung für die erhobenen Zölle zu gewähren, da die Einfuhr für dieses vorwiegend landwirtschaftstreibende Land, ohne Industrien von Bedeutung, belanglos ist. Zudem ist von Österreich für die nächsten Jahre sowieso nichts zu erwarten, da das Ländchen einzig auf die Schweiz angewiesen ist.
Damit hat aber die Sache noch nicht ihr Bewenden. Die Grenzlinie des Rheins mit ihren drei Übergangsstellen (und die Luziensteig) ist leicht zu bewachen ohne allzu grosse Aufwendung von Personal. Ganz anders würde es sich verhalten, wenn anstatt der gesicherten Rheingrenze die Bergkämme der „Drei Schwestern“ und die Falknisgruppe zu schützen wären. Eine Verfünffachung des Personals wäre unumgänglich, und zudem müssten noch neue Zoll- und Wachthäuser erstellt werden. Wer aber könnte Garantie leisten, dass der Schmuggel damit unterbunden werden könnte, da das während der Kriegszeit mit grossem Schwung getriebene Handwerk die Schmuggler mit allen Wegen und Stegen vertraut gemacht hat?
Eine andere für Buchs und die Umgebung wichtige Frage rollt sich gleichzeitig auf: Was würde mit dem grossen Bahnzollamt und seinen Lagerhäusern geschehen? Bereits ist ein Teil des österreichischen Zolls nach Feldkirch verlegt worden, da die Ausfuhr von Österreich einer scharfen Kontrolle unterzogen wird und die Untersuchung der Eisenbahnzüge naturgemäss in Buchs nicht mehr so gründlich vorgenommen werden kann wie auf eigenem Gebiete. Auf die Dauer ist eine solche Doppelspurigkeit unhaltbar; sie hätte unbedingt eine Verzögerung in der Spedition der Waren zur Folge, welche die Handelswelt unter keinen Umständen ertragen würde. Österreich würde sich aber weigern, die Aus- und Einfuhr gleichzeitig in Buchs abzufertigen, da ein Zollamt im Innern unseres Landes ihnen keine Gewähr der Sicherheit bieten würde. Die unfehlbare Folge davon wäre, dass auch der schweizerische Zoll nach Feldkirch verlegt werden müsste, womit der Schwerpunkt des Handels und Verkehrs an diesen Ort überginge.
Es wird nicht speziell betont werden müssen, dass solche Veränderungen für Buchs und die umliegenden Ortschaften nicht ohne weiteres ruhig hingenommen werden. Nun ist es endlich einmal Zeit, dass man in Bern auch der eigenen Landeskinder sich annimmt und nicht aus lauter überschwänglicher Gefühlsduselei eine Ortschaft und deren Umgebung ruiniert zugunsten fremder Völker, wo die oben geschilderten Zustände herrschen. Die finanzielle Seite tritt hiebei in den Hintergrund.
Wie eingangs erwähnt wurde, bilden diese Bestrebungen nur den ersten Akt des vollständigen Anschlusses an die Schweiz,wovon ein anderes Mal berichtet werden soll.