Überlegungen der Regierung zu den Gefahren des Kriegsendes für Liechtenstein


Amtsvermerk, vermutlich von Regierungschef Josef Hoop[1]

o.D. (wohl 1945)

Gefahren 1. Grades:

  1. Flüchtlinge, die dem Kriegsgeschehen ausweichen wollen wie Frauen, Kinder und Greise. Dieser Fall tritt wohl nur dann ein, wenn unsere Nachbarschaft in den Krieg einbezogen wird und die dortige Bevölkerung mit mehr oder weniger Berechtigung um ihr Leben fürchtet. Darunter werden wohl auch ziemlich Liechtensteiner sein. Gleichviel ob Liechtensteiner oder Ausländer, aus menschlichen Gründen müssen diese wie in anderen Staaten aufgenommen werden, wenn sie sich nicht zur Rückkehr überreden lassen und wirklich für sie eine Gefahr besteht.
    Unterbringung:
    Soferne sich diese Flüchtlinge nicht etwa bei Bekannten aufhalten können, müssen sie in Gasthäusern und evtl. in Massenlagern in Wirtshäusern, Vereinshäusern, Turnhallen etz. untergebracht werden. Sodann muss getrachtet werden, diese Flüchtlinge möglichst bald wieder an ihren früheren Wohnort zurückzuführen.
  2. Wirtschaftliche Gefahren:
    Wenn in Vorarlberg die Lohnzahlungen eingestellt oder die Grenzen geschlossen werden, muss für etwa 400 Arbeiter Beschäftigung im Lande bereit gestellt werden.
    Die Regierung hat für diesen Zweck die nötigen Geldmittel bereit gestellt. An Arbeitsmöglichkeiten ist folgendes erwähnt worden:

Gefahren 2. Grades:

Unterbruch der Stromversorgung.

Dadurch würde ein Teil unserer Industrie und das tägliche Leben sehr in Mitleidenschaft gezogen. Das Lawenawerk hat von sich aus diese Möglichkeit ins Auge gefasst und die nötigen Massnahmen vorgekehrt.

Verunmöglichung des Heimtransportes des Viehes von den Vorarlberger Alpen.

Wenn Vorarlberg Kriegsgebiet ist, würde evtl. die Grenze geschlossen werden.

In Anbetracht der Raschheit der militärischen Operationen frägt es sich, ob nicht ein früherer Alpabtrieb zweckmässig wäre.

Kämpfe in Vorarlberg: (Luftbombardements)

Politische Flüchtlinge des nationalsozialistischen Regimes. Denselben ist grundsätzlich der Eintritt zu verwehren.

Eine Gefahr besteht auch darin, dass Flüchtlinge mit gefälschten Pässen (liecht. Papieren) Eintritt verlangen. Hier sollte ein Identifizierungsverfahren an der Grenze durchgeführt werden.

Kämpfende Gruppen (grössere und kleinere) müssen entwaffnet werden, irgendwo untergebracht und verpflegt werden. Sodann sind die entsprechenden Verhandlungen wegen der Ausreise zu führen.

Gefahren 3. Grades:

Gaskrieg

Gewaltsames Eindringen vom kämpfenden Gruppen (SS), die weiter kämpfen und evtl. von den nachrückenden Truppen verfolgt werden.

Kriegsschauplatz:

Evakuierung:

  1. in die Berge
  2. in die Schweiz.

Die Wahrscheinlichkeit des Eintretens dieses Falles richtet sich nach der Stärke der deutschen Abwehrkräfte. Wenn die deutschen Truppen zwar zurückgedrängt, aber nur zähe nachgeben, ist es wohl möglich, dass das gebirgige Gelände der Alpen in Vorarlberg und Tirol wegen der günstigen Verteidigungsmöglichkeiten als Rückzugsgebiet gewählt wird. Wenn die deutsche Verteidigung aber schwach ist wie etwa in Südfrankreich, werden die deutschen Truppen überholt und eingefangen, sodass es in unserer Nachbarschaft kaum zu ernsten Kämpfen kommen wird.

4. Schutz der Grenze

Die Grenzwache umfasst heute 64 Mann, die Hipo [Hilfspolizei] 56 und die ordentliche Polizei 6, zusammen also 126 Mann. Alle sind bewaffnet mit Karabinern und Pistolen. Die liecht. Polizei hat zudem noch Maschinenpistolen und Tränengas. An Munition sind 6-10'000 Schuss für jede Waffe vorhanden.

Die Schweiz, mit der wir des öfteren verhandelten wegen eines verstärkten Schutzes unserer Grenze, hat uns jedwede mögliche Hilfe zugesichert. Wie und in welchem Ausmass diese Hilfe eintreten kann, soll erst im Zeitpunkte des Bedarfes abgeklärt werden (völkerrechtliche Lage der Schweiz).

Auf alle Fälle sollte auch je nach Bedarf die Feuerwehr zum Ordnungsdienst herangezogen werden. Die freiwillige Feuerwehr hat rund 300 Mann, die an die Grenzübergangsstellen postiert werden sollten, damit auch für das Hinterland Polizeikräfte zur Verfügung stehen (Bewachung von Flüchtlingen, Festnahme von einzelnen Überläufern und dergl.).

Grenzwache und Polizei, verstärkt durch die Feuerwehr als Hilfsorgane, sollten genügen für Fälle, wo nur Übertritte ohne Gewaltanwendung vorkommen. Kämpfende Verbände müssen entwaffnet und nachdrängende Truppen der Alliierten zur Respektierung der Grenze angehalten werden.

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[1] LI LA RF 230/043/001/006. Am Schluss des Dokumentes handschriftliche Vermerke: Schadloshaltung Inventar, Nachkriegs(...) [unleserlich], Parzellenverzeichnis evak. + Karten, Kartoffeleinlagerung."