Der Liechtensteinische Verband für Handel und Gewerbe warnt die Regierung vor einer "Judeninvasion" aufgrund der Nürnberger Gesetze


Schreiben des Liechtensteinischen Verbandes für Handel und Gewerbe an die Regierung, gez. Gustav Biedermann [1]

3.10.1935

Betr. Die Stellung der Juden im neuen Reichsbürgergesetz

Im Nachtrage zum Schreiben der hohen Regierung vom 17. September [2] möchte der gefertigte Verband darauf hinweisen, dass Art. 2 des neuen Reichsbürgergesetzes vom 16. September 1935 Abs. 1 lautet: Reichsbürger ist nur der Staatsangehörige deutschen oder artsverwandten Blutes, der durch sein Verhalten weiss, dass er gewillt und geneigt ist, in Treue dem deutschen Volk und Reich zu dienen." [3]

Das Reichsbürgergesetz im Art. 1 Abs. 1 unterscheidet zwar auch ein Staatsangehörigkeitsrecht, aber faktisch sind Juden von der Reichsbürgerschaft durch Art. 2 Abs. 1 ausgeschlossen. Dieses Gesetz und das "Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre" [4] werden ohne Zweifel viele deutsche Juden veranlassen, ihre ehemalige Niederlassung aufzugeben und ein anderes deutschsprachiges Domizil mit Erwerbsmöglichkeit aufzusuchen.

Es ist daher die vom Verbande ausgesprochene Befürchtung hinsichtlich einer Judeninvasion in Liechtenstein und einer damit verbundenen schweren wirtschaftlichen Bedrohung der liechtensteinischen Bevölkerung durchaus angebracht und die hohe fürstliche Regierung möge alles daran setzen, diese Gefahr vom Lande fern zu halten.

Hochachtend

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[1] LI LA RF 155/391/001/002. Das Schreiben wurde gemäss handschriftlichem Vermerk von Regierungschef Josef Hoop am 7.10.1935 ad acta gelegt.
[2] Siehe LI LA RF 155/172/004.
[3] Deutsches Reichsbürgergesetz vom 15.9.1935, RGBl. I S. 1146. 
[4] RGBl. I S. 1146. Zu den Auswirkungen des deutschen "Blutschutzgesetzes" in Liechtenstein siehe den Entwurf eines Erlasses der Regierung, wonach Trauungen deutscher Reichsangehöriger in Liechtenstein nur mit besonderer Bewilligung der Regierung vorgenommen werden dürfen (LI LA RF 155/391/001/004).