Die Liechtensteiner in der Schweiz verlangen u.a. einen einheimischen Regierungschef, die Anerkennung der Zivilehe und die unverzügliche Reform der Verfassung


Beitrag in den „Oberrheinischen Nachrichten", gez. Gustav Matt aus Zug [1]

30.6.1920

Bericht der Delegierten-Versammlung der Liechtensteiner in der Schweiz

Unerwartet gross war die Teilnehmerzahl an der am Sonntag den 20. Juni a. c. [2] im Restaurant Alpenhof in Zürich stattgefunden Delegierten-Versammlung der Liechtensteiner in der Schweiz. Eine grosse Kraft und ein festes Zusammenhalten hat sich gezeigt.

Der ernannte Tagespräsident, Herr Baumeister Gerold Beck, eröffnete um 10 Uhr vormittags die Versammlung und begrüsste die erschienenen Landsleute aufs herzlichste. Nach erfolgter Erklärung der Versammelten, dass sie von [3] nur rein vaterländischem Geiste getragen sind und sich weder von einer sozialistischen, noch klerikalen, bürgerlichen oder einer andern Partei leiten lassen, machte der Tagespräsident auf die Wichtigkeit der vorliegenden Traktandenliste aufmerksam und gab dieselbe wie folgt bekannt: 1. Gründung einer Zentralstelle; 2. Regierungs- und Verfassungsfrage; 3. Stimmrecht der Liechtensteiner in der Schweiz; 4. Eheschliessungs-Vertrag mit der Schweiz; 5. Armenwesen und; 6. Verschiedenes. 

Die Diskussion über den Zusammenschluss der Liechtensteiner in der Schweiz wurde lebhaft benützt und die Gründung einer Zentralstelle als eine dringende Notwendigkeit bezeichnet. In Fragen, die das allgemeine Wohl und Wehe der liechtensteinischen Bürgerschaft betreffen, soll mit vereinten Kräften mitgewirkt werden, was nur durch eine gute Organisation möglich ist. Der Verein der Liechtensteiner in St. Gallen wurde, als ältester Verein, mit der Leitung der Zentralstelle beauftragt.  

Zu einer gewaltigen Debatte gab die Regierungs- und Verfassungsfrage Anlass. Es wurde besonders die Geheimpolitik der Bürgerpartei gerügt, die dem Ländchen wieder einen Ausländer als Landammann zuschieben wollte. Ernstlich und geschlossen wurde der Beschluss gefasst, mit allen Mitteln und Kräften dafür einzustehen, dass die Regierung endlich durch einen einheimischen tüchtigen Mann ersetzt wird. Unter keinen Umständen soll ein Ausländer als Landammann [4] anerkannt werden. Das Mitstimmrecht der Liechtensteiner in der Schweiz über wichtigere Landesfragen, das bereits seinerzeit vom Liechtensteiner-Verein in St. Gallen durch eine Initiative angestrebt wurde, [5] worauf der Landtag seinen Landeskindern unbegreiflicher Weise nicht einmal eine Antwort schenkte, soll nunmehr mit vereinten Kräften erwirkt werden. Die ungebührende Stellungnahme des Landtages in genannter Stimmrechts-Initiative wurde als ein Akt der Missachtung der Landeskinder im Auslande gekennzeichnet und keineswegs als erledigt betrachtet. Die anlässlich der Versammlung vom 13. Juni a. c. des Liechtensteiner-Vereins Baden über obige Punkte sowie betreffs Wirtschaftsanschluss an die Schweiz gefassten Entschliessung [6] stimmten die Delegierten voll und ganz zu.  

Anschliessend an diese hochwichtigen Fragen folgte das Thema über die Eheschliessungen liechtensteinischer Staatsangehöriger in der Schweiz. Wie wenig auf die Landeskinder im Auslande, die vielfach in ganz andern Verhältnissen und Anschauungen als die Bürger im Heimatlande stehen, Rücksicht genommen wird, zeigten die vielen vorgekommenen Fälle, die erzählt wurden. Man muss sich nur wundern, wieso die Liechtensteiner in der Schweiz zu den erlassenen Bestimmungen in dieser Frage solange stillschweigend zusehen konnten. – Es wurde allseits gerügt, dass laut der Verfassung die Religionsfreiheit gewährleistet ist [7] und dabei nur kirchliche Trauungen anerkannt werden. Diesen Widerspruch verurteilten die Versammelten auf das schärfste. Hierauf wurde zur weiteren Erläuterung der Sache das Kreisschreiben des Departements des Innern des Kantons St. Gallen an die Bezirksämter und Zivilstandsbeamten desselben vom 16. Juli 1912 verlesen, das wie folgt lautet: 

Mit Kreisschreiben vom 12. Juli 1912 machte das schweizerischen Justiz- und Polizeidepartement bekannt, dass die bisherige Praxis dem Eheabschluss von Angehörigen des Fürstentums Liechtenstein einer in aller Form von der fürstl. liechtensteinischen Regierung ausgestellten Eheanerkennungs-Erklärung die Trauung ohne weiteres vollzogen worden ist, nicht mehr genüge.

In einem Falle habe es sich nämlich erwiesen, dass die von einem Angehörigen des bezeichneten Fürstentums in der Schweiz auf Grund der besagten Eheanerkennungs-Erklärung abgeschlossene Ehe von den fürstl. liechtensteinischen Heimatbehörden nicht als zu Recht bestehend anerkannt wurde, und zwar mangels der kirchlichen Eheeinsegnung. Aus einer Note der fürstl. liechtensteinischen Regierung an die schweizerische Gesandtschaft in Wien geht hervor, dass der Grundsatz des österreichischen [8] Rechts, wornach die im Auslande nach dem dortigenRechte abgeschlossenen Ehe als gültig anerkannt werde, im Fürstentum Liechtenstein keine Geltung besitze, weil die für die österreichische Zentralbehörde hinsichtlich des Eherechtes massgebenden Grundsätze nicht ohne weiteres auch für Liechtenstein anwendbar seien.

Zur Vermeidung von künftigen heimatlosen Fällen muss die Bewilligung zur Vornahme der hierseitigen Ziviltrauung eines liechtensteinischen Staatsangehörigen an den Nachweis geknüpft werden, dass 

1. die nach dem Gesetze des Fürstentums Liechtenstein zur Gültigkeit der Ehe nötigen, vom schweizerischen Gesetze nicht vorgesehenen Anforderungen, wie kirchliche Trauung, ebenfalls erfüllt werden, und dass

2. der zuständige Geistliche bereit und in der Lage ist, nach der bürgerlichen die kirchliche Trauung vorzunehmen.

Es muss daher in Zukunft in allen Fällen, wo ein liechtensteinischer Bräutigam sich in der Schweiz verehelicht, von demselben die Beibringung einer Erklärung im Sinne der obigen Ziffer 2 sowie zur Sicherung der Vornahme der Ziviltrauung folgenden kirchlichen Eheeinsegnung eine angemessene Heiratskaution verlangt werden, deren Höhe jeweilen vom Regierungsrate zu bestimmen ist und die solange haftet, bis der Nachweis der kirchlichen Trauung durch Vorlage des bezüglichen Kopulationsscheines geleistet ist.

(Der folgende Absatz betrifft Ehen von Angehörigen aus Kroatien und Slawonien.)

Desgleichen greift die Leistung einer Heimatskaution, und zwar hier im Betrage von Fr. 3000, auch Platz für alle Ehen russischer Staatsangehöriger, da für dieselben von Staatswegen ausschliesslich nur die kirchliche Heirat in Betracht fällt.

Die Trauung eines Liechtensteiners in der Schweiz ist demnach nur möglich, wenn er über einen zu deponierenden Betrag von mindestens Fr. 3000 verfügt, der verloren ist, wenn er den Nachweis der kirchlichen Trauung nicht beibringt.

Die Gemüter der Versammelten waren über diese Bestimmung, die nicht nur in die Religionsfreiheit eingreift, sondern die nicht besitzenden Landeskinder noch zwingt, Trauungen in Liechtenstein vornehmen zu müssen, sehr erregt. Es wurde unter anderem auch die Frage aufgeworfen, wie es denn einem protestantischen Landsmann als Bräutigam ergehe, der über genanntes Depot nicht verfüge und die protestantisch-kirchliche Trauung in Liechtenstein nicht vornehmen kann. Die Lösung dieser interessanten Frage blieb ein Rätsel, obwohl bekanntlich schon eine grosse Anzahl Liechtensteiner in der Schweiz wie auch im übrigen Auslande der evangelischen Kirche angehören. - Die lauten, empörten Stimmen der Versammelten riefen daher allseits auf die unverzügliche Abänderung des betreffenden liechtensteinischen Gesetzes, dahin gehend, dass Zivilehen gleich wie in der Schweiz anerkannt werden. [9] Vermehrter Kampf soll dieser Aktion angediehen werden.

Über die Unterstützung der in Not geratenen Liechtensteiner im Auslande wurden ebenfalls viele Klagen laut. Die liechtensteinischen Gemeindebehörden sollen gegenüber solchen Landeskindern nur wenig oder gar kein Verständnis zeigen. „Ins Armenhaus" sei jeweils die Antwort auf solche Unterstützungsgesuche. Die durch die schweizerischen Behörden bis dato erhaltenen Notunterstützungen werden an die liechtensteinischen Staatsangehörigen nicht mehr geleistet, da in Not geratenen schweizerische Staatsangehörige in Liechtenstein anscheinend ebenfalls rücksichtslos die Unterstützungen versagt werden. Zur weitern Tätigkeit in dieser Frage wie auch betreffs Schaffung eines liechtensteinischen Arbeiter- Unfallgesetzes, [10] um den durch das Schweiz. Unfallgesetz bestimmten Benachteiligungen zu steuern, wurde die Zentralstelle in St. Gallen beauftragt.

Nach erfolgter Beschlussfassung, die allen Punkten einstimmig angenommenen Resolution an die liechtensteinischen Gesandtschaften in Bern und Wien zu entsenden, wurde um 1½ Uhr Schluss der Versammlung erklärt. Es folgte alsdann der gemütliche Teil.

Die Resolution lautet wie folgt:

Resolution

Die heute den 20. Juni 1920 im Restaurant Alpenhof in Zürich-Enge anwesenden Delegation der Liechtensteiner-Vereine St. Gallen, Zürich und Baden, sowie der Gruppen aus Frauenfeld, Zug, Hemberg, Wald, Dietikon, Wohlen und Mellingen haben nach reifer Überlegung und gewaltiger Diskussion im Auftrage der sich allseits vorher versammelten Bürgschaft Liechtensteins von total zirka 600 Mann folgenden festen Entschluss gefasst:

1. Der von der grossen Volksdemonstration vom 9. Mai 1920 in der Au-Bündt in Vaduz gefassten Entschliessung [11] stimmen die heute hier Versammelten voll und ganz zu und erklären jeder Reaktion den Kampf.

2. Die Versammelten bestehen auf der unverzüglichen Neubesetzung der Regierung und anerkennen an Stelle des jetzigen, angeblich kränklichen Regierungschefs [Prinz Karl] nur einen einheimischen u. tatkräftigen Bürger.

3. Die unbegreifliche, einseitige Stellungsnahme in der Besetzung der Regierung sowie der übrigen Behörden weisen die Versammelten energisch zurück.

4. Für den Fall einer Volksabstimmung betreffend Wahl eines einheimischen Regierungschefs verlangen die Liechtensteiner in der Schweiz das Mitstimmrecht. [12]

5. Jeder Versuch nach einem wirtschaftlichen Anschluss an Österreich wird bekämpft, da nur ein Wirtschaftsanschluss an die Schweiz in Betracht fallen kann. Zur Lösung wichtiger, wirtschaftlicher Fragen soll ein Fachmann aus der Schweiz zugezogen werden.

6. Die Liechtensteiner in der Schweiz verlangen die unverzügliche gesetzliche Anerkennung der Zivil-Ehe, gleich wie in der Schweiz. Da die gegenwärtigen Bestimmungen die Eheschliessungen in der Schweiz erschweren, viele in der Schweiz wohnende Landsleute in eine fatale Situation brachten und einen Eingriff in die laut der Verfassung gewährleistete Religionsfreiheit machen, drückten die Versammelten die Dringlichkeit der Erledigung dieser brennenden Frage aus und erklärten ihr vermehrten Kampf.

7. Endlich verlangen die Liechtensteiner in der Schweiz die schon längst zugesagte Reform der Verfassung ohne Verzug. [13]

Für die Liechtensteiner in der Schweiz:

Im Auftrage der Delegationen:

______________

[1] O.N., Nr. 52, 30.6.1920, S. 1-2.
[2] Anni currentis: laufendes Jahr.
[3] Hier wurde im Satz irrtümlicherweise eine Zeile eingefügt, die erst später im Text aufscheinen sollte: „Rechts, wornach die im Auslande nach dem dor-.".
[4] Der Begriff „Landammann" (Regierungschef) wird in Art. 60 des Verfassungsentwurfs von Wilhelm Beck verwendet und ist seinerseits Art. 86 der St. Galler Kantonsverfassung vom 16.11.1890 entlehnt. Vgl. O.N., Nr. 50, 23.6.1920, S. 1 („Verfassungs-Entwurf des Fürstentums Liechtenstein").
[5] Vgl. die Eingabe des Liechtensteiner-Vereins von St. Gallen und Umgebung an den liechtensteinischen Landtag vom 8.1.1919 (LI LA LTA 1919/L03). Darin ersuchte der Verein, den im Ausland wohnenden Liechtensteinern, welche im vorgeschriebenen Alter und in bürgerlichen Ehren stehen, für die Zukunft das staatliche Stimmrecht zu gewähren.
[6] Vgl. hiezu O.N., Nr. 48, 16.6.1920, S. 2 („Bericht des Liechtensteiner-Vereins Baden (Aargau)").
[7] Vgl. § 8 Abs. 1 der liechtensteinischen Verfassung vom 26.9.1862.
[8] Siehe Fussnote 3.
[9] In Liechtenstein kannte § 75 ABGB als einzig zulässige Eheschliessungsform die kirchliche Trauung: „Die feierliche Einwilligung muss vor dem ordentlichen Seelsorger eines der Brautleute er mag nun, nach Verschiedenheit der Religion, Pfarrer, Pastor oder wie sonst immer heissen, oder vor dessen Stellvertreter in Gegenwart zweier Zeugen geschehen." Beachte auch das Ehehindernis der Religionsverschiedenheit nach § 64 ABGB (alt). Zur Einführung der obligatorischen Zivilehe vgl. das Ehegesetz vom 13.12.1973, LGBl. 1974 Nr. 20: „Es steht jedermann frei, nach abgeschlossenem staatlichen Trauungsakt die Ehe auch vor dem Trauorgan einer Religionsgemeinschaft einzugehen. Die religiöse Traufeierlichkeit darf ohne Vorweis des Ehescheines nicht vorgenommen werden." (Art. 3 Abs.1).
[10] Vgl. das Gesetz vom 16.1.1931 betreffend die Unfallversicherung (Betriebsunfälle), LGBl. 1931 Nr. 2; die Verordnung vom 24.2.1931 zum Gesetze betreffend die Unfallversicherung (Betriebsunfälle), LGBl. 1931 Nr. 3; das Gesetz vom 21.1.1932 betreffend die Versicherung gegen Nichtbetriebsunfälle, LGBl. 1932 Nr. 6 sowie das Abkommen zwischen dem Fürstentum Liechtenstein und der Schweiz vom 31.12.1932 über die Gleichbehandlung der beiderseitigen Staatsangehörigen in der sozialen Unfallversicherung, LGBl. 1933 Nr. 4.
[11] Die Volkspartei veranstaltete am 9.5.1920 beim Gasthaus Au in Vaduz eine Versammlung zur Landesverweserfrage, an der angeblich über 1000 Personen teilnahmen. In einer fast einstimmig angenommenen Entschliessung wurde eine Regierung aus Landesbürgern verlangt und gegen die ungleiche Behandlung der Parteien protestiert (O.N., Nr. 38, 12.5.1920, S. 1-2 („Die grosse Volks-Demonstration vom 9. Mai 1920 in Vaduz, ein historischer Tag").
[12] In den „Schlosssabmachungen" vom September 1920 wurde jedoch zwischen Fürst Johann II. und den beiden Parteien vereinbart, den Feldkircher Juristen Josef Peer provisorisch für 6 Monate als Regierungschef einzusetzen. Am 23.3.1921 erfolgte dann eine Volksabstimmung über den Verbleib von Peer im Amt mit 993 Ja- zu 615 Nein-Stimmen. Peer blieb bis zum 23.3.1921 provisorischer Regierungschef Liechtensteins.
[13] Die Resolution wurde von Gustav Matt am 22.6.1920 an die liechtensteinische Gesandtschaft in Bern zwecks „Weiterleitung an die liechtenstein’sche Behörde" gesandt (LI LA V 002/0838). Gleichentags wurde die Resolution auch an die liechtensteinische Gesandtschaft in Wien zur „Kenntnisnahme, Weiterleitung und Rückäusserung" geschickt. Der Gesandte Prinz Eduard teilte Gustav Matt am 1.7.1920 mit, dass er die Resolution zur Kenntnis genommen und an die liechtensteinische Regierung weitergeleitet habe. Er sei jedoch zu einer Äusserung hiezu nicht in der Lage, da die Resolution lediglich innenpolitische Fragen betreffe und daher sein Ressort nicht tangiere (LI LA V 003/1196). Zur Landesverweserfrage und zur Frage der Einführung der Zivilehe vgl. etwa L.Vo., Nr. 53, 3.7.1920, S. 1 („Eintracht").