Liechtenstein kündigt den Zollvertrag mit Österreich


Schreiben von Prinz Eduard von Liechtenstein, Gesandter in Wien, an Theodor von Ippen, Leiter des deutschösterreichischen Staatsamts des Äusseren (maschinenschriftliche Abschrift zuhanden der Regierung) [1]

12.8.1919, Wien

Der Landtag des Fürstentumes Liechtenstein hat in seiner Sitzung vom 2. August 1919 einstimmig beschlossen, [2] "den im Jahre 1876 abgeschlossenen und seit 1919 provisorisch verlängerten Zollvertrag mit Österreich-Ungarn [3] im Verhandlungswege aufzukündigen."

In Durchführung dieses Landtagsbeschlusses habe ich im Auftrage der fürstlichen Regierung die Ehre, hiemit den Zollvertrag zu kündigen.

Der Landtag hat bei diesem Anlass ebenfalls einstimmig erklärt, "dass weder durch den Auflösungsbeschluss noch durch die Auflösung des Vertrages selbst ein unfreundlicher Akt gegen Deutschösterreich begangen werden soll; einzig die Wahrung der vitalen Interessen des Landes veranlassen ihn zu diesem Beschlusse."

Um in Ausführung dieses Teiles des Landtagsbeschlusses auch nur den Schein einer unfreundlichen Absicht bei dieser Kündigung eines durch viele Jahre erprobt gewesenen Verhältnisses zu vermeiden, beehre ich mich, zur näheren Begründung des Beschlusses auf meine in letzter Zeit mit dem Staatsamte für Finanzen geführten Verhandlungen bezüglich der Eindämmung des im Fürstentume überhandnehmenden Schmuggels hinzuweisen, welcher seinen Hauptgrund wohl in der Tatsache gehabt hat, dass dem Fürstentume die aus dem Zollvertrage gebührenden Einnahmen eine Zeit lang gar nicht zuflossen und in letzter Zeit nur in dem garantierten Mindestausmasse zukommen, während der gleiche Vertrag dem Lande nicht nur eine 350%ige Erhöhung der Zölle, sondern auch eine sehr fühlbare Erhöhung der Verzehrungssteuer und die gleichzeitige Münzunion eine furchtbare Devalierung seiner Valuta eingebracht hat, gegen welche die als schweres wirtschaftliches Hemmnis empfundenen Verfügungen der österreichischen Devisenzentrale leider keine Abhilfe brachten. Diesen schweren Opfern des kleinen Landes steht jedoch bei Aufrechterhaltung des Vertrages nicht einmal die Aussicht auf gleiche, geschweige denn auf höhere Einnahmen wie früher gegenüber.

Die fürstliche Regierung ist daher auch zu der Ansicht gekommen, dass die in letzter Zeit vereinbarte kostspielige Verstärkung der Finanzwache kaum genügen wird, um den aus der inneren Abwendung eines Grossteiles der liechtensteinischen Bevölkerung vom Zollvertrage und von der alleinigen wirtschaftlichen Orientierung des Fürstentumes nach Deutschösterreich entspringenden Hang zum Schmuggel wirksam zu bekämpfen, ohne im Lande selbst die schwersten politischen Wirkungen hervorzurufen. [4] Deutschösterreich wird voraussichtlich weit besser in der Lage sein, an der eigenen Grenze den Schmuggel einzudämmen. Das Fürstentum selbst muss bei Aufrechterhaltung des Vertrages bei den für Deutschösterreich höchst ungünstigen wirtschaftlichen Bedingungen des vor dem Abschluss stehenden Friedensvertrages dagegen weitere Zoll- und Steuererhöhungen gewärtigen, die seine Bewohner umso weniger tragen können, als sie gezwungen sind, einen grossen Teil ihrer Lebensbedürfnisse mit der entwerteten deutschösterreichischen Krone sich in der Schweiz und anderen Ländern zu beschaffen.

Diese Gründe zwingen die fürstliche Regierung, dem einstimmigen Beschluss des Landtages beizutreten und das durch nahezu 50 Jahre bestandene enge wirtschaftliche Verhältnis des Fürstentumes mit Österreich-Ungarn bezw. mit Deutschösterreich mit lebhaftem Bedauern zur Lösung zu bringen. Sie legt aber besonderen Wert darauf, die Beziehungen beider Länder und ihrer Bewohner auch in Hinkunft auf gleich herzlicher Stufe und in freundschaftlicher Weise zu gestalten. Im Sinne meiner heutigen Vorsprache [5] wäre ich sehr dankbar, wenn mir Gelegenheit geboten würde, in den allernächsten Tagen mit den Vertretern der interessierten d.ö. Stellen in einer mündlichen Aussprache festlegen zu können, bis zu welchem tunlichst nahen Zeitpunkte es der d.ö. Regierung technisch möglich sein wird, ihren Grenzschutz effektiv hinter die Vorarlberger Grenze zu verlegen, bis zu welchem Zeitpunkte die bisherige Grenzbewachung liechtensteinischerseits loyal aufrecht zu halten versucht werden wird und in welcher Weise es weiters möglich sein wird, ein provisorisches Abkommen über gegenseitigen Warenaustausch und über die Einräumung des kleinen Grenzverkehrs zu treffen, zu dessen Anbahnung der Landtag die fürstliche Regierung eingeladen hat und zu welchem einzelne für Deutschösterreich gewiss wertvolle Exportprodukte des Fürstentumes auch für Deutschösterreich einen Anreiz bieten. [6] Ich erlaube mir beizufügen, dass der Landtag die Zuziehung von seinerseits gewählten Vertretern zu diesen Verhandlungen wünscht; ohne diesen Vertretern vorzugreifen, möchte ich in möglichst kurzer Frist einige Grundzüge im Gegenstande besprechen, um ehestens meiner Regierung genaue Daten zur Verfügung stellen zu können.

Je eine Abschrift dieses Schreibens ergeht gleichzeitig an den Herrn Staatssekretär für Finanzen [Joseph Schumpeter] und an den Herrn Staatssekretär für Handel und Industrie [Johann Zerdik].

Genehmigen Herr Gesandter den Ausdruck meiner vorzüglichsten Hochachtung.

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[1] LI LA RE 1919/3979 ad 4/3761. Aktenzeichen: 219/2. Ein weiteres Exemplar unter LI LA V 003/0227. Das Schreiben wurde offenbar erst am 13.8.1919 verschickt. Die vorliegende Abschrift wurde am 13.8.1919 verschickt, langte mit dem Begleitschreiben (LI LA RE 1919/3978 ad 4/3761, Prinz Eduard an Regierung, 12.8.1919, mit Nachtrag vom 14.8.1919) am 17.8.1919 bei der Regierung ein, wurde in der Regierungssitzung vom 21.8.1919 zur Kenntnis genommen und anschliessend ad acta gelegt. Weitere Abschriften gingen am 13.8.1919 an Joseph Schumpeter, deutschösterreichischer Staatssekretär für Finanzen, Johann Zerdik, deutschösterreichischer Staatssekretär für Handel und Gewerbe, Industrie und Bauten, sowie an Emil Beck, Geschäftsträger in Bern.
[2] LI LA LTA 1919/S04, Protokoll der Landtagssitzung, 2.8.1919.
[3] Vertrag zwischen Seiner Majestät dem Kaiser von Österreich und apostolischen König von Ungarn und Seiner Durchlaucht dem souverainen Fürsten von Liechtenstein über die Fortsetzung des durch den Vertrag vom 5. Juni 1852 gegründeten Österreichisch-Liechtenstein'schen Zoll- und Steuervereines vom 2.12.1876, LGBl. 1876 Nr. 3. Liechtenstein hatte bei einer Besprechung in Feldkirch am 6.12.1918 mit Vertretern des Landes Vorarlberg das Weiterbestehen der Staatsverträge zwischen Österreich-Ungarn und Liechtenstein betreffend Zölle, Monopole, Verzehrungssteuern "provisorisch" anerkannt (LI LA RE 1918/5226 ad 2/5068).
[4] Vgl. LI LA V 003/0346, Prinz Karl von Liechtenstein an Gesandtschaft Wien, 25.7.1919.
[5] Prinz Eduard hatte am 12.8.1919 bei Theodor von Ippen vorgesprochen und das Kündigungsschreiben übergeben.
[6] Zu dieser Konferenz vgl. LI LA V 003/0227, Protokoll der Konferenz im Staatsamte für Äusseres vom 18.8.1919 über die Lösung des Zollvertrages.