Die Christlich-soziale Volkspartei kommentiert das Parteiprogramm der Fortschrittlichen Bürgerpartei


Leitartikel in den „Oberrheinischen Nachrichten“ [1]

11.1.1919

Zum Programm der sog. fortschrittlichen Bürgerpartei [2] 

Endlich hat man ehrliche und offene Farbe bekennt und sich als Partei des Fortschritts konstituiert. Wie lange wurde bestritten, man brauche keine Parteien in Lande und wie lange hatte doch eine bestanden! Nach dem Programminhalte zu schliessen, hat die Fortschrittspartei (Herrenpartei) den Fortschritt der Volkspartei kaum erreicht, geschweige denn überschritten. Bürgerpartei nennen sich die Gegner. Wir wollen nicht annehmen, dass darin eine Spitze gegen die Volkspartei gerichtet ist. Die Volkspartei ist keine sozialistische Partei. Sie ist eine gute demokratische Partei. Verwerflich ist es nur, wie gegnerischerseits mit Ausdrücken wie „Bolschewiki" u. a. herumgeworfen wird. [3] Wenn die Anhänger der Volkspartei dieses wären, dann würden es die Anhänger der fortschrittlichen Bürgerpartei ebenso gut sein und wir hätten dann lauter Bolschewiki im Lande. Alles das ist nicht der Fall. Welcher Schaden aber dem Ansehen des Landes im Auslande mit jenen Anwürfen gemacht wird, ermessen die Leichtfertigen nicht. Die Bauern, die Arbeiter, die Handwerker der Volkspartei sind ebenso gut Bürger wie die Anhänger der sogen. fortschrittlichen Bürgerpartei und sie werden ihre Rechte uneingeschränkt ausüben. Ist denn etwa der Name „fortschrittliche Bürgerpartei" ein Verlegenheitsname oder gar ein Propagandatitel? 

Anlässlich der Gründung der Bürgerpartei soll nach zuverlässigen Informationen gesagt worden sein, man müsse der Volkspartei entgegentreten, denn sie wachse zu stark an. Dieses Zeugnis des zu starken Anwachsens ehrt die Volkspartei, denn wir vernehmen nun aus dem Munde der Gegner, dass unsere Anstrebungen im Interesse des Volkes gelegen sind. Dass dies der Fall ist, lehrt uns übrigens das veröffentlichte, formulierte Programm der neuen Partei, das die meisten Volkswünsche, für die wir gekämpft haben, zu erfüllen verspricht. Liest man das Programm durch, so muss man sich fragen, wieso haben denn die Gegner eine Partei gründen müssen, wenn sie doch die meisten unserer Postulate annehmen? Halten denn etwa die Gegner uns nicht für fähig, jene Punkte zu verwirklichen? Glauben sie, nur sie seien die berufenen Leute zur Durchführung? Hätten sie sich denn nicht der Volkspartei anschliessen können? Liegt persönliche Abneigung vor? Gerade deshalb, weil man sich nicht auf den Boden den Verständigung stellte, obwohl gegnerischerseits fast die meisten Postulate mit jenen der Volkspartei übereinstimmen, stehen wir dem Programme kopfschüttelnd gegenüber. Wenn unsere Zweifel nicht in Erfüllung gehen sollten, wird es uns freuen. 

Die Volkspartei hat aus guten Gründen noch kein formuliertes Parteiprogramm ausgestellt, sie hat bisher nur einzelne Programmpunkte verfochten. Es wird nun in nächster Zeit ein formuliertes Parteiprogramm veröffentlicht werden. [4] Durch Vergleich mag sich dann jeder Leser die Unterschiede selbst heraussuchen.

Hier mag nur einiges gestreift werden. Das sogen. „politische" Programm enthält für uns nichts neues. Wenn dort und auch sonst immer betont wird, dass gesunder Fortschritt in den Bahnen des Fortschrittes statthaben solle, so wird stets auf die Vorgänge vom 7. November 1918 hingewiesen, an denen Bürgerparteiler auch teilgenommen haben. [5] Wir wollen doch alle ehrlich und aufrecht demokratische Politik treiben und eine demokratische Monarchie ohne besondere Hintergedanken ausbauen. Es ist darum festzuhalten, dass Inländer an der Regierung sitzen und da besonders auch der Regierungsvorsitzende ein Inländer ist. Die Formel: Auch bei Bestellung des Landesverwesers sollen in erster Linie hiefür geeignete Inländer in Betracht kommen, falls sie das Vertrauen von mindestens Dreivierteln des Landtages besitzen, ist unannehmbar. Auf der einen Seite sagt man stets von einer parlamentarischen Regierung. Dazu passt aber diese erhöhte Landtagsmajorität und diese versteckte Ausländerei recht schlecht. Mit Ausnahme in den Kolonien kommt es sonst nirgends mehr vor, dass Ausländer an der Spitze eines Staates regieren. Im Widerspruch mit dem Versprechen einer parlamentarischen Regierung und mit dem demokratischen Gedanken überhaupt stehen weiter die Forderungen, dass „wenn ein Mitglied der Regierung durch die Amtsführung das Vertrauen des Volkes und des Landtages verliert, so ist der Landtag berechtigt, beim Landesfürsten die Enthebung zu beantragen." Der Landtag kann diesen Antrag heute schon stellen, man vergleiche nur die Verfassungsbestimmungen, also ein neues Recht wird da nicht aufgestellt. [6] Wann hat denn ein Mitglied das Vertrauen des Volkes und Landtages verloren? Etwa wenn in allen Wirtschaften des Landes über ein Mitglied geschimpft wird oder wenn ein Mitglied der sog. besseren Gesellschaft nicht mehr passt? Und feststellen soll der Landtag, dass das Mitglied sein und des Volkes Vertrauen verloren habe. Nach parlamentarischen Grundsätzen hat die Regierung zurückzutreten, wenn sie das Vertrauen der Volksvertretung nicht mehr besitzt. Sie stellt daher von Zeit zu Zeit die Vertrauensfrage. Wird das Vertrauen verweigert, hat die Regierung nach näheren Förmlichkeiten zurückzutreten (Parlamentskrise). Schon wenn die Regierung das Vertrauen des Landtages nicht mehr geniesst, hat sie abzutreten, sonst könnte sie ja immer sagen, ich besitze noch das Vertrauen des Volkes, wenn auch nicht der Volksvertretung. Mit dieser Formulierung kann ein aufrechter Demokrat nicht einverstanden sein. Die Wahl der beiden Regierungsräte hat durch den Landtag zu geschehen und zwar ohne nachträgliche Bestätigung durch den Landesfürsten. [7] 

Die Landtagswahlen sollen wie bisher vor sich gehen. Fraglich ist nur, ob man nicht der Gemeinde Planken entgegenkommen und sie als eigenen Wahlort anerkennen will. [8] Warum soll diesem Wunsche nicht nachgekommen werden? Die Zahl der Landtagsmitglieder ist zu erhöhen, derart, dass im Oberlande wie Unterlande mehr Volksabgeordnete gewählt werden. Ein anderer Vorschlag ist, dass die fstl. Abgeordneten verschwinden. [9] Je kleiner das Gemeinwesen, desto grösser die Zahl der Volksvertreter. So ist z. B. in kleinen fremden Ländern auf je 250 Seelen ein Abgeordneter zu wählen. Das würde bei uns die respektable Zahl von 33 Volksabgeordneten ausmachen. Nach unserer Ansicht sollten etwa 19 oder 17 Volksabgeordneten gewählt werden; [10] die Grundlage des Landtages im Volke, ist dann eine breitere und damit eine festere; sie würde es verhältnismässig auch dann, wenn keine fürstl. Abgeordneten mehr bestellt würden. Aber selbst wenn solche bei erhöhter Zahl der Volksabgeordneten durch kollegialen Beschluss der Regierung zur Bestellung in Vorschlag gebracht werden, müssen die Vorgeschlagenen das Volksvertrauen ihres Wahlkreises besitzen und es muss bei der Ernennung nicht einseitig vorgegangen werden. Die Erfahrung hat hier misstrauisch gemacht. 

Die fortschrittliche Bürgerpartei hält immer noch am rückschrittlichen Alter von 24 Jahren fest. [11] Gerade Führer der Gegenpartei haben noch vor Wochen gesagt, es sollen nun die Jungen die Politik besorgen und die Alten zurücktreten. Sie waren mit der Herabsetzung des Wahlalters einverstanden. – In fast allen auswärtigen und in allen uns umgebenden Staaten ist das Alter auf 21, in der Schweiz sogar auf 20 Jahre heruntergesetzt. In Deutschland sind die Leute schon seit langer Zeit mit dem 21. Lebensjahre wahlfähig und grossjährig. Wenn aber in jenen Ländern das Alter auf 21 Jahre herabgesetzt wurde, warum soll es denn bei uns nicht geschehen? Der Einwand, dass man dort umgekehrt Militärdienst leisten müsse, trifft nicht voll zu, denn auch im Nachbarstaat Österreich mussten die jungen Männer Dienst leisten und wurden bis vor kurzem erst mit 24 Jahren volljährig und wahlfähig. Deutsch-Österreich hat nun aber auch das Alter von 21 Jahren angenommen. Übrigens ist es sonderbar, dass die jungen Männer bei uns Pflichtdienste (z.B. Feuerwehrdienst, dann Gemeindehilfsdienste) leisten müssen. Militärdienst können sie aus leicht verständlichen Gründen nicht leisten. Warum sollen sie aber andere Dienste leisten und warum kommt man ihnen nicht entgegen? Man brüstet sich weiter bei uns mit dem hohen Stande der Volksschulbildung. Dies zugegeben, aber vermag beim diese gleiche Bildung nicht zu bewirken, dass unsere Leute wie jene der Nachbarländer mit 21 Jahren voll berechtigt werden? Ein sonderbarer Widerspruch. Unsere jungen Leute müssen frühzeitig, mit 16 und mehr Jahren schon hinaus ins Leben, um ihr Brot zu verdienen. Wirtschaftlich müssen sich die Leute auf eigene Füsse stellen und das ist doch das Wichtigste und hieran hilft ihnen das Land nichts. Im Grossen und Ganzen halten sich unsere Auslandgänger brav. Warum soll ihnen das Land nicht auch im öffentlichen Leben die Selbständigkeit mit 21 Jahren einräumen? Etwa weil sie gar kurios wählen oder stimmen würden? Aber sie werden doch politisch nicht dumme Streiche spielen und sich wirtschaftlich brav aufführen. Auswärts sind die Leute wie gesagt früher volljährig, fallen nun die Liechtensteiner länger als Ausnahme unter väterlicher Gewalt oder Vormundschaft stehen? Sollen unsere Leute in privatrechtlicher internationaler Beziehung noch schlechter dastehen als bisher? Hierüber ein anderes Mal. Soll das Landgericht trotz seiner vielen Arbeit die Vormundschaften noch drei Jahre länger besorgen?

Jeder einsichtige Liechtensteiner wird für die Herabsetzung des Wahlalters eintreten. Vernünftige, stichhaltige Gründe können besonders von jenen Leuten, die sich einer fortschrittlichen Partei anschliessen, nicht vorgebracht werden.

Wir werden übrigens auf das Programm unserer Gegenpartei noch zu sprechen kommen. Wir wollen ja den guten Willen einiger Gegner nicht anzweifeln. Wenn aber von den Gegnern behauptet wird, sie seien keine Herrenpartei mehr und hätten gerade die älteren Herren abgeschüttelt und andere hätten keinen Einfluss mehr, so muss dies angesichts der tatsächlichen Vorkommnisse sehr stark bezweifelt werden.

Ob uns die Schreiber der Gegenpartei als Minderheitspartei betrachten oder nicht, ist ganz gleichgiltig. Dafür sollen die Wahlen den Beweis liefern. Es ist aber jedenfalls für uns ein Fingerzeig, dass man den alten Machtstandpunkt nicht aufgeben und dass man sich auf dieser Basis die Bestellung von Regierung und Landtag vorstellt. Unsere Freunde und Anhänger mögen sich hierüber nicht hinwegtäuschen. Ja, der Friede wäre ein köstliches Gut, wenn er im Sinne der Demokratie und des Fortschrittes aufgefasst würde.

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[1] O.N., Nr. 2, 11.1.1919, S. 1.
[2] Die Fortschrittliche Bürgerpartei war am 22.12.1918 offiziell gegründet worden (vgl. L.Vo., Nr. 52, 27.12.1918, S. 1 („Die Fortschrittliche Bürgerpartei“). Kurz darauf war das deren Parteiprogramm veröffentlich worden (vgl. L.Vo., Nr. 1, 4.1.1919, S. 1 („Die Fortschrittliche Bürgerpartei und ihr Programm“)
[3] Vgl. L.Vo., Nr. 2, 8.1.1919, S. 1 („Ich bin ein Roter.“ Eingesandt) oder L.Vo., Nr. 50, 13.12.1918, S. 1-2 („Unser Land, unsere Bauern“ (Eingesandt)).
[4] O.N., Nr. 3, 18.1.1919, S. 1-2 („Programm der christl.-sozialen Volkspartei Liechtensteins“).
[5] Vgl. das handschriftliche Protokoll der Landtagssitzung vom 7.11.1918 von Wilhelm Beck (LI PA Quaderer, Nachlass Wilhelm Beck) oder den Bericht des an diesem Tag zur Demission genötigten Landesverwesers Leopold von Imhof an Fürst Johann II. vom 10.11.1918 (LI LA PA 001/0021/08).[6] Vgl. dagegen die liechtensteinische Verfassung vom 26.9.1862 (LI LA SgRV 1862/5). 
[7] Vgl. dagegen § 12 Abs. 1 der Amtsinstruktion für die Landesbehörden des Fürstentums Liechtenstein (Anhang zur Fürstlichen Verordnung vom 30.5.1871 über die Trennung der Justizpflege von der Administration, LGBl. 1871 Nr. 1).
[8] Vgl. § 64 der Verfassung von 1862 in der Fassung von § 10 Satz 2 des Gesetzes vom 21.1.1918 betreffend die Abänderung der Landtagswahlordnung, LGBl. 1918 Nr. 4.
[9] Vgl. § 55 der Verfassung von 1862 in der Fassung von § 1 Satz 2 der genannten Landtagswahlordnung von 1918.
[10] In der Volksabstimmung vom 2.3.1919 wurde dann die Frage, ob die Zahl der vom Volk zu wählenden Landtagsabgeordneten von 12 auf 17 erhöht werden sollte, mit 711- Ja zu 863 Nein-Stimmen abgelehnt. Die Wahlbeteiligung lag bei 89,4 %.  
[11] Vgl. § 56 der Verfassung von 1862 in der Fassung von § 2 der genannten Landtagswahlordnung von 1918. In der Volksabstimmung vom 2.3.1919 wurde die von der Christlich-sozialen Volkspartei propagierte Herabsetzung des Grossjährigkeits- und Wahlfähigkeitsalter von 24 auf 21 Jahre mit 712 Ja- zu 863 Nein-Stimmen abgelehnt.