Die Christlich-soziale Volkspartei veröffentlicht ein revidiertes Parteiprogramm


Veröffentlichung in den „Liechtensteiner Nachrichten“, gez. Parteiobmann Anton Walser-Kirchthaler und Aktuar Wilhelm Beck [1] 

20.2.1926

Partei- und Arbeits-Programm der liechtensteinischen Volkspartei

Motto:

„Recht und Gnade sind erhabene Gegenstände,
aber sie scheinen einander zu fliehen, denn wo
das Recht ist, will keine Gnade walten, und wo
die Gnade waltet, da ist das Recht verwirkt.“

(Peter Kaiser)

Einfach, aufbauend und sparsam!

In Revision des am 18. Januar 1918 [2] veröffentlichten Programms beschliesst die Vertrauensmännerversammlung der Volkspartei vom 26. Dezember 1925 in Vaduz wie folgt:

I. Grundsätzliche Erklärungen

Die liechtensteinische Volkspartei besteht aus den Stimmberechtigten des Landes, deren politisches Ziel der demokratische Ausbau der Verfassung [3] und Gesetze, namentlich durch eine gesunde und den Verhältnissen des Landes entsprechende volkswirtschaftliche und soziale Gesetzgebung ist. Die Mitgliedschaft bei der Volkspartei ist unvereinbar mit der Zugehörigkeit zu einer andern politischen Partei [4] im Lande.

Die Volkspartei steht auf dem Boden einer demokratischen Monarchie auf parlamentarischer Grundlage im Sinne der Verfassung.

Sie befolgt eine nationale, volkstümliche Politik, die sachlich und nicht persönlich, entsprechend den Landesverhältnissen grosszügig und nicht kleinlich sein soll und die auf katholischer und geschichtlicher Weltauffassung beruht.

Die Volkspartei ist der Anschauung, dass nur einmütiges Zusammenwirken aller Stände: der Landwirte, Gewerbetreibenden und Arbeiter (mit Einschluss der geistigen Arbeiter) eine glückliche staatliche und politische Zukunft verbürgt. Sie lehnt daher die Politik des Hasses, der unfruchtbaren Kritik, Parteidiktatur und der Klassenherrschaft – von welcher Seite sie immer kommen mag – ab.

Ihr Zweck ist die Hebung des Wohlergehens des Volkes, seiner Glieder und des Staates, sowie der Gemeinden, wobei dem volkswirtschaftlichen Aus- und Aufbau ein besonderes Augenmerk zu widmen ist und der Ausbau der Gesetze insbesondere unter diesem Gesichtspunkte zu erfolgen hat.   

II. Wirtschaftspolitische Bestrebungen

Die nächste Zukunft verlangt insbesondere, dass die wirtschaftspolitischen Fragen in erster Linie zu behandeln sind und ihnen vermehrte Bedeutung geschenkt werde.

1. Die Volkspartei steht dafür ein, dass das Land sich besonders der Wohlfahrt und der Hebung der Verdienstmöglichkeit und der Erwerbsfähigkeit der Bevölkerung und des fachlichen Bildungs- und Vereinswesens sich annehme, daher Unterstützung jedweder Förderung von Gewerbe und Industrie und sonstiger Verdienstgelegenheit, d.h.: „Die Heimat zur Heimat machen.“

2. Hinsichtlich der Landwirtschaft und Forstwirtschaft verlangt die Volkspartei:

Vermehrte staatliche Mithilfe bei Güterzusammenlegung, jedoch Verhinderung eines übergrossen Besitzes, damit die andern Bürger nicht von der Scholle vertrieben werden;

im Sinne der finanziellen und technischen Möglichkeit Unterstützung und Förderung der Entsumpfungen und Kanalisierungen;

Förderung der Gross- und Kleinviehzucht;

Unterstützung der landwirtschaftlichen Versicherungen und Förderung des Absatzes landwirtschaftlicher Produkte;

vermehrte Aufforstung im Hochgebirge und staatliche Unterstützung derselben.

3. Bezüglich der Gewerbe- und Handelspolitik wird angestrebt:

Ausbau der Gewerbegesetzgebung unter Rücksichtnahme auf die Interessen der Gewerbetreibenden und Konsumenten;

Bekämpfung des unlauteren Wettbewerbes und des gemeinschädlichen Geschäftsverkehres;

vermehrte Förderung und Unterstützung des Lehrlingswesens;

Unterstützung gewerblicher Kurse;

Regelung der öffentlichen Arbeitsvergebung (Submissionswesen) bei Staat und Gemeinden;

Unterstützung aller gesunden Bestrebungen zum wirtschaftlichen Heimatschutze; 

Unterstützung und Förderung der Berufsberatung;

Einhaltung des Gegenrechts für die Ausübung aller geistigen und anderen Berufe;

Förderung und Unterstützung von freiwilligen Gewerbevereinen;

unablässiges Bemühen, um den Kredit im Lande zu verbilligen, da die Leute an hohen Zinsen mehr bezahlen, als die Steuern ausmachen;

4. Hinsichtlich der Verkehrspolitik:

Ausbau des Strassenwesens;

das Verkehrswesen soll nach gemeinwirtschaftlichem Gesichtspunkte ausgebaut und gefördert werden;

Förderung aller Bestrebungen zur Hebung des Verkehrswesens im Lande im Rahmen des finanziell Möglichen;

Vermehrte Einflussnahme auf die das Land durchziehende Eisenbahn;

5. Zur Hebung des wirtschaftlichen Aus- und Aufbaues des Landes ist es unbedingt notwendig, dass eine Stelle besteht, die systematisch und unablässig für diese Aufgabe im In- und Auslande tätig sein soll, daher Unterstützung der Wirtschaftskammer, Ausbau der Organisation und besonders der wirtschaftlichen, ehrenamtlichen Vertretung im Auslande usw.

III. Sozialpolitische Postulate

Arbeiterschutz und Arbeiterrecht

Schutz der Arbeiter, insbesondere weiterer Ausbau der Arbeiterschutzgesetzgebung neben der Fabrikgesetzgebung, somit Ausbau des Obligationenrechtes (besonders der Haftpflicht, des Arbeits- und Lehrvertrages u.a.), sowie auch durch Ausbau der übrigen Gesetzgebung, Gerüstkontrolle und andere vorbeugende Massnahmen;

Einführung des Versicherungszwanges und amtliche Kontrolle;

nach Möglichkeit Einführung der Krankenversicherung, überhaupt Ausbau der bezüglichen Verfassungsartikel;

nach finanzieller Tunlichkeit Ausbau einer Alters- und Invalidenversicherung, besonders auch die Ausgestaltung der Unfall- und Krankenversicherung und der Krankenpflege;

vermehrte Pflege des öffentlichen Gesundheitswesens, Bekämpfung von Volkskrankheiten wie Tuberkulose und ähnlicher Krankheiten durch vermehrte Aufklärung seitens des Staates etc.

Unterstützung von Trinkwasserversorgungen;

Ausbau der Freizügigkeit für Studierende;

Ausbau der Armengesetzgebung, der Armenpflege und Verbesserung der Armenpolizei, insbesondere durch gesetzliche Massnahmen gegen Arbeitsscheue, Liederliche und Trinker sowie Massnahmen gegen den Alkoholismus;

zweckmässige Versorgung von Waisen, Geisteskranken, Unheilbaren und Altersschwachen;

Ausbau des Arbeitsvermittlungswesens;

Förderung der kollektiven Arbeits- und Tarifverträge.

IV. Verfassungspolitische Fragen

Angestrebt wird eine gesunde, demokratische Monarchie; alle Teile der Bevölkerung sollen in gerechten Verhältnissen zur Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung herbeigezogen werden.

Alle Berufs-, Klassen- und Standesvorrechte sollen mit Vorbehalt jener des Fürstenhauses abgeschafft bleiben; die Partei verwirft jede Willkür, insbesondere jede geheime unkontrollierbare Verwaltungstätigkeit von Staatsorganen (Geheimaktenwirtschaft etc.) und bekämpft auch unnötige Reglementierereien.

Die wichtigsten Landes- und Gemeindebehörden sollen durch das Volk selber gewählt werden unter Vorbehalt eines allfälligen Genehmigungsrechtes des Monarchen für gewisse Staatsbehörden oder deren Mitglieder;

Heranziehung der Frauen zur Mitwirkung in Schulen, im Armenwesen und beim Jugendschutz;

kleinere Angelegenheiten in Zivil-, Straf- und Verwaltungssachen sollen vor Gemeindebehörden beziehungsweise vor Vermittleramt ausgetragen werden können;

nach Wahl der Parteien steht es frei, in Zivil- und Übertretungsstrafsachen ein auf Kosten der Parteien wirkendes und vom Landtage zu bestellendes Kollegialgericht mit Einschluss des Landrichters, wobei die beisitzenden Richter nur Taggelder erhalten, bestellt werden; dem Staate sollen möglichst keine Ausgaben entstehen;

Unvereinbarkeit voll bezahlter staatlicher Stellen mit dem Wirteberufe oder Vorsteheramte;

die liechtensteinischen Angelegenheiten in der Umgebung des Fürsten sollen durch einen im Einvernehmen mit dem Lande bestellten Liechtensteiner bearbeitet werden, der gleichzeitig wie die Regierung verantwortlich ist;

Sorge für Schutz der Liechtensteiner im Ausland und ihrer Interessenvertretung.

V. Verwaltungspolitik insbesondere

Die Partei strebt an:

Eine möglichst kaufmännische, sparsame und nach einfachen Grundsätzen ohne bürokratischen Einschlag geführte Landesverwaltung mit dem Grundsatz, dass die Beamten für das Volk und nicht das Volk für die Beamten da sind;

tüchtige Beamte und Bezahlung ohne Unterschied von Stand und Rang;

nicht vollbeschäftigte, aber vollbezahlte Staatsstellen sollen zusammengelegt oder umgewandelt werden;

Behandlung der Postbeamten und Angestellten gleich andern Staatsangestellten.

VI. Finanzpolitisches

Die Partei verlangt:

Dass alles aufgeboten werde, um in der Landesbilanz in Zukunft einen Ausgleich zwischen Ausgaben und Einnahmen beizubehalten und mit allen Mitteln verhindert werde, dass die Landesbilanz wieder passiv wird; und nur unter diesem Gesichtspunkte wird die Erfüllung der in diesem Programm aufgestellten Forderungen, Bestrebungen und Postulate verlangt;

möglichste Vermeidung der Schaffung neuer bezahlter Staatsstellen und besonders sorgfältige Behandlung der Beitragsgesuche, wobei insbesondere auf die Unterstützung der finanziell Schwächeren zu sehen ist;

Schaffung von neuen Staatseinnahmen zur Entlastung der Steuerträger, insbesondere der kleinen Steuerträger; Vermeidung der Erhöhung der Steuer durch Bewilligung neuer Auslagen;

den Ausbau der wirtschaftlichen Vertretung im Ausland, damit neuer Verdienst und aber auch Einnahmsquellen dem Lande erwachsen;

gerechte Progression im Steuerwesen mit stärkerer Heranziehung höherer Vermögen und Einkommen gemäss der Verfassungsbestimmung.

möglichste Erleichterung der Gebühren und Abgaben bei Eintragung der Grundpfandschulden;

möglichste Volksbefragung für Projekte, die grössere Ausgaben erheischen, bevor dem Staate Ausgaben erwachsen.

VII. Kulturpolitisches

Alle kulturellen Fragen will die Partei nach den unverrückbaren Grundsätzen des Christentums geregelt wissen. Sie verlangt:

Schutz des Volkes gegen alle Unmoral, die seine Kräfte zu untergraben sucht;

eine Vertiefung jeglicher Bildung. Nur tüchtiges Wissen gepaart mit Charakter dient dem Wohle des Einzelnen wie des Volkes.

Die Schule soll von berufenen Faktoren im Einvernehmen mit dem Volke gefördert und unsern Verhältnissen angepasst werden, ein praktisches Wissen vermitteln und zu arbeitsfreudigem Pflichtbewusstsein erziehen.

Daher verlangen wir: Revision der Schulgesetze, Abschaffung des 9. Schuljahres und anderweitiger entsprechender Ersatz durch Ausbau der Fortbildungsschulen, stärkere Heranziehung und vermehrten wirksamen Einfluss des Ortschulrates auf die Schule, Sorge für Schulung von Kindern, die wegen körperlicher oder geistiger Gebrechen die Volksschule nicht besuchen können, ferner Sorge für verwahrloste Kinder und jugendliche Verbrecher, Beteiligung an der Unterstützung von Besserungsanstalten, Unterstützung und Förderung des Fortbildungs- und Realschulwesens, Ausbau des hauswirtschaftlichen, landwirtschaftlichen, gewerblichen Berufs- und Unterrichtswesens, insbesondere soll der gewerbliche und landwirtschaftliche Unterricht den Verhältnissen und Zielen entsprechend an den Schulen ausgebaut werden; ausgiebigere Erteilung von Stipendien an intelligentere, aber wenig bemittelte Studierende, gleichviel in welchem Nachbarstaat sie höhere Schulen besuchen; Freiheit des Privatunterrichts. Wir verlangen zur weiteren Bildung die Abhaltung von Kursen und Gründung einer gutgeleiteten Volksbücherei durch das Land. Forderung nach vermehrtem staatsbürgerlichem Unterricht in der Schule.

VIII. Gemeindewesen

Die Partei strebt an:

Die Schaffung eines modernen Gemeindegesetzes unter möglichster Wahrung der Gemeindeselbständigkeit und mit Ausscheidung der politischen und Bürgergemeinden und deren Aufgaben;

die gesetzliche Ermöglichung der freiwilligen Einführung von Gemeindeschreibern und Überweisung verschiedener Aufgaben an die Gemeinden;

ein möglichst einfaches und technisch richtiges Gemeinderechnungswesen;

den Ausbau der Gemeindegesetzgebung, so dass sie dem demokratischen Aufbau der Verfassung und der neueren Gesetzgebung entspricht;

Verlegung aller Gemeindehauptwahlen auf Anfang des Jahres, damit der Aktivbürger nicht nur eine Aktivbürgersteuer bezahlen, sondern das Aktivbürgerrecht auch ausüben kann.

Weiterer Ausbau der Volksrechte in Gemeindeangelegenheiten.

IX. Gesetzgebungspolitisches

Möglichste Vereinfachung der Gesetze, volkstümliche und klare, unsern Verhältnissen angepasste Gesetze;

besondere Berücksichtigung der Wünsche und Interessen des Volkes in der Gesetzgebung wie Verwaltung und Anpassung an die Verhältnisse und Bedürfnisse der verschiedenen Landesgegenden und Bevölkerungsklassen;

nach Tunlichkeit und den finanziellen Kräften entsprechend weiterer Ausbau der Privatrechtsgesetze, vor allem Schaffung eines zeitgemässen Obligationenrechts, eines modernen, dem Volksempfinden entsprechenden Erbrechtes mit Einschluss des Verlassenschaftsverfahrens, eines Familienrechtes mit besonderem Schutze von Frauen und Kindern und besserem Ausbau des Vormundschaftsrechtes, wobei auch die Heimatsgemeinde einen vermehrten Einfluss bekommen soll;

Ersetzung des veralteten Strafrechtes durch ein zeitgemässes und Zusammenfassung der vielen Gesetzlein sowie Aufhebung der Mindeststrafsätze, Zulassung sichernder Massnahmen neben oder anstatt der Strafe, weiterer Ausbau des Jugendstrafrechtes und der Jugendstrafgerichtsbarkeit.

Dringend fordert die Partei den Erlass eines zeitgemässen Zwangsvollstreckungs- und Konkurs- und Ausgleichsrechtes, da der heutige Zustand mit der Verfassung und anderen Gesetzen nicht mehr vereinbar ist, insbesondere zeitgemässe Schaffung von Exekutionsbefreiungen ähnlich wie in den Nachbarstaaten;

Schaffung eines Gesetzes über geistiges Eigentum jeder neuen Art, eines neuen Baugesetzes mit Heimatschutzbestimmungen;

Neuregelung des Ein- und Ausbürgerungsrechtes, wobei neu Eingebürgerte eine gewisse Zeit vom Stimmrecht in Gemeinde- und Landesangelegenheiten ausgeschlossen werden können;

Erlass eines zeitgemässen Pressgesetzes;

Revision der gesetzlichen Bestimmungen über Gastwirtschaften.

Dieses Programm ist in der Vertrauensmännerversammlung der Volkspartei angenommen worden.

Namens der Vertrauensmännerversammlung:        

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[1] L.N., Nr. 16, 20.2.1926, Beilage. Original in LI PA VU. Das Parteiprogramm der Christlich-sozialen Volkspartei wurde von einer Vertrauensmännerversammlung am 26.12.1925 im Gasthaus Kirchthaler in Vaduz genehmigt. Obwohl die Hauptwahlen zum Landtag bereits am 10.1.1926 stattfanden, wurden die Grundzüge des Programmes erst in den „Liechtensteiner Nachrichten“ vom 20.1. dargestellt (L.N., Nr. 7, 20.1.1926, S. 1-2 (Das Partei- und Arbeitsprogramm der Volkspartei“)). Am 20.2. erschien schliesslich das Parteiprogramm in seinem vollen Wortlaut.
[2] Vgl. O.N., Nr. 3, 18.1.1919, S. 1-2 („Programm der christl.-sozialen Volkspartei Liechtensteins“).
[3] Vgl. die Verfassung des Fürstentums Liechtenstein vom 5.10.1921, LGBl. 1921 Nr. 15.
[4] Anspielung auf die Fortschrittliche Bürgerpartei.