Die fürstliche Zentraldirektion kritisiert die zögerliche und widersprüchliche Vorgangsweise in den Angelegenheiten der tschechoslowakischen Bodenreform


Maschinenschriftliche Abschrift eines Schreibens der fürstlichen Zentraldirektion, nicht gez., an Fürst Johann II. [1]

25.2.1921, Koloděje

Euere Durchlaucht!

Die in tiefster Ehrfurcht gefertigte Zentraldirektion gestattet sich in der gegenwärtigen kritischen Situation nachstehende

Denkschrift

zu unterbreiten.

1.

Mittelst Erlasses des Bodenamtes Prag vom 20. April 1920, Zahl 34611/19, [2] wurde die Zentraldirektion verständigt, dass ihre Errichtung im öffentlichen Interesse erfolgte, insbesondere über Initiative und Wunsch des Bodenamtes, damit die Verwaltung der Liechtensteinischen Güter in der Č.S.R. von der bisherigen Hofkanzlei in Wien völlig emanzipiert werde und sämtliche Liechtensteinische Güter, soweit sie in der čechoslowakischen Republik gelegen sind, ausschliesslich von einer Zentral Direktion verwaltet werden, die ihren Sitz im Gebiete der Čechoslowakischen Republik hat und haben muss. Die Zentraldirektion wurde am 1. Oktober 1919 in Prag errichtet. [3]

2.

Mittelst höchster Resolution vom 17. November 1919 [4] wurde dem Finanzkonsulenten [Dr. Rudolf Siebenschein] die Spezialvollmacht „zur ausschliesslich und alleinigen Führung der gegenwärtig schwebenden Unterhandlungen mit der čechoslowakischen Regierung zwecks Schaffung eines Ausgleiches in den Fragen der Vermögensabgabe und des Bodenreformgesetzes“ erteilt, [5] auf Grund welcher dieser am 19. Jänner 1920 bei dem čsl. Aussenministerium in Prag das Memorandum de dto Prag im Oktober 1919 überreichte.

3.

Auf Grund der in Feldsberg unter dem Vorsitze Seiner Durchlaucht des Herrn Prinzen Alois abgehalten Konferenz wurde diese Vollmacht an die Zentraldirektion übertragen, [6] welche am 17. Juli 1920 den Standpunkt Ew. Durchlaucht an der Hand der trefflichen völkerrechtlichen Ausführungen des Professors Strisover [Leo Strisower] [7] dem Bodenamte und am 20. Juli dem čsl. Aussenministerium und dem Finanzministerium zur Kenntnis brachte.

4.

Allein die der in tiefster Ehrfurcht gefertigten Zentraldirektion erteilte Vollmacht wurde ihr neuerlich entzogen und mit ihr der Generaldirektor [Emil] Sommerschuh betraut, mit dem Auftrage, dass sich die Zentraldirektion jedweder Ingerenz zu enthalten habe. Die Zentraldirektion wurde bis heute nicht verständigt, ob und welche Schritte der Generaldirektor Sommerschuh unternahm.

5.

Über wiederholte mündliche und schriftliche Bitten der Zentraldirektion wurde mit der Behandlung der inzwischen brennend gewordenen Bodenreformangelegeheiten Seine Durchlaucht der Herr Prinz Alois betraut, was die Zentraldirektion gleich am 20. Jänner 1921 sowohl dem Aussenminister [Edvard Beneš] als auch dem Kanzler [8] zur Kenntnis brachte.

6.

Laut höchster Resolution vom 6. März 1920, Nro. 147, [9] betitelt ergänzende Verfügungen anlässlich Ausgabe der Vollmachten an die Zentraldirektion in Prag wurde von Ew. Durchlaucht im Punkte 3. der höchste Auftrag erteilt, dass der Spezialbevollmächtigte die Zentraldirektionen von allen wichtigeren Schritten am Laufenden unterrichtet zu halten habe. Insbesondere hat der Finanzrechtskonsulent in allen Angelegenheiten, welche ausserhalb seines eigentlichen in diesem Punkte umschriebenen Ressorte liegen, mit den Zentraldirektionen derart Fühlung zu halten, dass sie von allen zu unternehmenden Schritten, Verhandlungen, Eingaben etc. Vorhinein und derart rechtzeitig und vollständig industriert sind, dass sie Gelegenheit finden, ihre allfälligen Bedenken an höchster Stelle zur Geltung zu bringen, falls vorherige Aussprache nicht ein Einvernehmen herbeiführt.

7.

Erst als die hochfürstliche Kabinettskanzlei anfangs Feber dem Zentraldirektor [Krešl] die Erledigung der Kanzlei des Präsidenten [Thomas Masaryk] vom 26. Jänner abschriftlich mitteilte, [10] gelangte zu ihrer Kenntnis, dass in der Zwischenzeit von irgend Jemand in Angelegenheiten der Bodenreform Schritte unternommen wurden, von welchen die in tiefster Ehrfurcht gefertigte Zentraldirektion überhaupt keine Ahnung hatte. Sowohl dem Zentraldirektor als auch dem Justizrate [Victor Kaplan] erschien die Erledigung an Herrn Dr. Siebenschein bedenklich, weil sie mit den sonstigen Gepflogenheiten dieser Behörde nicht im Einklange zu stehen schien. Deshalb erbat sie das Original dieser Zuschrift und gewahrte, dass sie nicht vom Herrn Kanzler, sondern von dem Ministerialrate Koschin gezeichnet wurde. Die weiteren Erhebungen ergaben, dass am selben Tage und unter der gleichen Zahl auch der hochfürstliche Rechtsanwalt Dr. Vaniček seitens der Kanzlei des Präsidenten eine Erledigung erhielt, welche von dem Sektionschef Veber unterfertigte war und welche mit der vorzitierten Zuschrift im Widerspruche stand. Dem Dr. Vaniček wurde darin mitgeteilt, dass das Bodenamt auf dem Standpunkte stehe, dass auch die ausländischen Grossgrundbesitzer den Bodenreformgesetzen in gleicher Weise unterstehen wie die hiesigen Staatsangehörigen; es wurde ferner an Ew. Durchlaucht das Ansuchen gestellt, die Giltigkeit der čsl. Bodenreformgesetze auch für höchsteigene Person zuerkennen; das Bodenamt werde mit den ausländischen Besitzern vor Beschlagnahme und Enteignung ihrer Güter wegen Erzielung einer gütlichen Vereinbarung in Fühlung treten, wie dieser Vorgang auch bei den inländischen Grossgrundbesitzern beobachtet werde; die Souveränität und Exterritorialität Ew. Durchlaucht könne daran nichts ändern. Dr. Vaniček ging der Sache nach und erhob bei dem Bodenamte, dass dieses bereit am 8. Jänner 1921 der Kanzlei des Präsidenten den vorstehend ausgeführten Standpunkt mitteilte. Die weiteren Erhebungen der Zentraldirektion brachten ihr die Kenntnis davon, dass die ihr bis heute völlig unbekannte Eingabe den Gegenstand 2 Beratungen in den interministeriellen Konferenzen bildete, ohne dass es dabei zu irgend einem Beschlusse gekommen wäre. Die in tiefster Ehrfurcht gefertigte Zentraldirektion erfuhr dabei, dass in dieser Angelegenheit der Prager Advokat Dr. Schwarz intervenierte; dieser, ein čechischer Jude, ist Vertreter der Živnostenská banka in Prag und zählte zu den angesehendsten Advokaten in Prag und gilt als Kapazität in Handelssachen bei Gesellschaftsgründungen und bei Finanzoperationen.

8.

Aus den tiefergebensten Berichten der Zentral Direktion Ew. Durchlaucht bekannt sein, dass sie mit der gegenwärtigen Regierung und Ihren einflussreichsten Ministern auf dem besten Fuss steht und das sie öfters und gerne der Justizrat besuchen und mit ihm einen freundschaftlichen Verkehr pflegen. Die in tiefster Ehrfurcht gefertigte Zentraldirektion gestattet sich daher ihrer Überzeugung Raum zu geben, dass es ihr gelungen wäre, auf die interministeriellen Konferenzen einen gewissen Einfluss zu nehmen wenn sie von den unternommenen Schritten etwas gewusst hätte.

9.

Unter diesen Umständen sah die in tiefster Ehrfurcht gefertigte Zentraldirektion ein, dass ein Ausweg aus der gegenwärtigen äusserst gefährlichen Situation nur dann gefunden werden dürfte, wenn eine gemeinsame diplomatische Aktion aller alliirten, associirten und neutralen Grossgrundbesitzer unternommen werde; [11] hinüber gestattete sie sich einen tiefergebensten Bericht zu unterbreiten und um die höchsten Weisungen zu bitten, die aber bis heute ausblieben. Inzwischen erfuhr die in tiefster Ehrfurcht gefertigte Zentraldirektion, dass Anfange dieser Woche entscheidende Beratungen des Bodenamtes stattfinden sollen, bei welchen über die Einziehung einzelner Güter beschlossen werden soll. Diese Situation vertrag keinen Aufschub, weshalb sich die in tiefster Ehrfurcht gefertigte Zentraldirektion an die Spitze der vorerwähnten Aktion stellte und in Verbindung mit allen in Betracht kommenden Grossgrundbesitzern trat. Diese Aktion wurde von allen mit Begeisterung begrüsst und sie erhielt von allen schriftliche und telegrapische Mitteilungen, dass sie sich der Aktion anschliessen und die Zentraldirektion ersuchen, die Führung der Aktion in der Hand zu behalten.

10.

Inzwischen kam es am Mittwoch, den 23. Feber 1921 zu tiefeinschneidenden Beschlüssen des Bodenamtes, wornach gewaltige Stücke des landwirtschaftlichen Besitzes zu den schandbaren Preisen des Entschädigungsgesetzes enteignet werden sollen. Welcher forstwirtschaftliche Besitz zur Enteignung zu gelangen hat, wird das Bodenamt demnächst entschliessen; gedacht wird in erster Reihe an die den Grenzgebieten gelegenen Waldungen. [12]

In tiefster Ehrfurcht:

______________

[1] LI LA SF 01/1921/026 (Aktenzeichen der fürstlichen Zentraldirektion: Z.D. 3159). Stempel mit der tschechoslowakischen Bezeichnung der Zentraldirektion. Die Abschrift wurde von Justizrat Victor Kaplan mit Begleitschreiben vom 26.2.1921 Landesverweser Josef Peer zugesandt (ebd. (Aktenzeichen: Z.D. 3159.J.R.)). Vgl. die ebenfalls nach Vaduz gesandte Abschrift eines Schreibens der Zentraldirektion bzw. des fürstlichen Justizrates Victor Kaplan an Prinz Alois vom 26.2.1921 (LI LA SF 01/1921/026 (ohne Aktenzeichen)).
[2] Nicht aufgefunden.
[3] Vgl. in diesem Zusammenhang die Höchste Entschliessung des Fürsten Johann II. vom 23.11.1920 betreffend Richtlinien für die Reorganisation der Zentralbehörden (LI LA SF 01/1920/174 (Aktenzeichen der fürstlichen Kabinettskanzlei: Präs. No. 823)).
[4] Nicht aufgefunden.
[5] Vgl. in diesem Zusammenhang das Schreiben Siebenscheins an Fürst Johann II. vom 19.9.1919 betreffend die Einsetzung eines Arbeitskomitees zu Fragen der tschechoslowakischen Vermögensabgabe, der internationalen Rechtsstellung des Fürsten und des Fürstentums, zu Finanzreformfragen in Liechtenstein sowie zu allen Fragen, die sich aus öffentlich-rechtlichen, auf die Veränderung der Eigentumsverhältnisse am Grundbesitz bezüglichen Verfügungen ergaben (LI LA V 003/0061 (Aktenzeichen: V/Gu. Aktenzeichen der liechtensteinischen Gesandtschaft in Wien: Blge 282/2)).
[6] Mit Schreiben an Fürst Johann II. vom 4.5.1920 legte Rudolf Siebenschein die ihm 1919 übertragene Spezialvollmacht als Unterhändler bei der tschechoslowakischen Regierung zurück. Er begründete dies mit der Gegensätzlichkeit seiner und der Auffassungen der führenden Persönlichkeiten der Zentraldirektion über die Methoden und Wege hinsichtlich einer Vereinbarung mit der Prager Regierung in den zahlreichen schwebenden Fragen (LI LA V 003/0104 (Aktenzeichen der liechtensteinischen Gesandtschaft in Wien: 369/1)).
[7] Vgl. in diesem Zusammenhang das undatierte Rechtsgutachten des Wiener Völkerrechtsprofessors Leo Strisower über die Souveränität des Fürstentums Liechtenstein und des Fürsten von Liechtenstein (LI LA V 003/0337 (Aktenzeichen der liechtensteinischen Gesandtschaft in Wien: 153/1)).
[8] Möglicherweise ist damit Jan Černy angesprochen, welcher vom 15.9.1920 bis zum 26. September 1921 als tschechoslowakischer Ministerpräsident fungierte. Es könnte sich aber auch um den Leiter der Kanzlei des tschechoslowakischen Präsidenten handeln.
[9] Vgl. die „Ergänzenden Verfügungen anlässlich Ausgabe der Vollmachten an die Zentraldirektion in Prag“ von Fürst Johann II. vom 6.3.1920, versendet durch Josef Martin, dem Vorstand der fürstlichen Kabinettskanzlei (LI LA V 003/0097 (Aktenzeichen der Kabinettskanzlei in Wien: Präs. Nr. 147. Aktenzeichen der liechtensteinischen Gesandtschaft in Wien: 222/1)).
[10] Nicht aufgefunden.
[11] Vgl. dazu den Bericht von Victor Kaplan bzw. der fürstlichen Zentraldirektion vom 25.2.1921 über eine Konferenz mit Vertretern verschiedener alliierter, assoziierter und neutraler Staaten vom selben Tag betreffend die Frage der Durchführung einer gemeinsamen diplomatischen Aktion in Angelegenheit der tschechoslowakischen Bodenreform (LI LA SF 01/1921/026 (Aktenzeichen der Zentraldirektion: Z.D. 3159)).
[12] Der fürstliche Kabinettsrat Josef Martin teilte Landesverweser Josef Peer mit Schreiben vom 2.3.1921 mit, dass die fürstliche Zentraldirektion die Rechte Seiner Durchlaucht in Sache der tschechoslowakischen Bodenreform der Regierung in Prag gegenüber vertreten werde. Um der geplanten Eingabe Nachdruck zu verschaffen, sollten die einzelnen ausländischen Grossgrundbesitzer durch die Regierungen ihres Heimatstaates bzw. durch die betreffenden diplomatischen Vertretungen in Prag unterstützt werden. Justizrat Victor Kaplan werde sich mit Zustimmung des Fürsten an Peer wenden, um eine Unterstützung dieser Aktion, sei es durch die fürstliche Regierung, sei es im Wege des liechtensteinischen Geschäftsträgers in Bern Emil Beck durch die Schweizer Regierung bzw. durch deren Konsul in der Tschechoslowakei Gerold F. Déteindre, zu erreichen. Die von der Zentraldirektion eingeleitete Demarche hatte den „ungeteilten Beifall“ des Fürsten gefunden . Peer wurde ersucht, im Gegenstande direkt mit der Zentraldirektion den weiteren dienstlichen Verkehr zu pflegen (LI LA SF 01/1021/033 (Aktenzeichen der fürstlichen Kabinettskanzlei: ad Präs. No. 48)). Vgl. in weiterer Folge das Ersuchen der liechtensteinischen Gesandtschaft in Bern an das Eidgenössische Politische Departement vom 22.3.1921 um die Übernahme der liechtensteinischen Interessenvertretung in Prag in den Angelegenheiten der Bodenreform (LI LA V 002/0048 (Aktenzeichen der liechtensteinischen Gesandtschaft Bern: 312/21)).