Landesvikar Johann Baptist Büchel beruft sich als Beschuldigter in einer Ehrenbeleidigungssache vor dem F.L. Landgericht auf das privilegium fori


Handschriftliches Schreiben von Kanonikus und Landesvikar Johann Baptist Büchel, gez. ders., an das F.L. Landgericht [1]

17.4.1919, Vaduz

Wohllöbliches fürstliches Landgericht!

Das f. Landgericht hat mich auf den 23. d. M. in einer Klagesache der beiden Advokaten Dr. [Wilhelm] Beck und Dr. [Martin] Ritter [2] vor sein Forum zitiert.

Nun aber ist in dem neuestens [1917] von der obersten Kirchenbehörde veröffentlichten Codex Iuris Canonici das den Priestern zustehende alte privilegium fori aufrecht erhalten worden und lautet der Canon 120 § 1 dieses Gesetzbuches: Clerici in omnibus causis sive contentiosis sive criminalibus apud iudicem ecclesiasticum conveniri debent, nisi aliter pro locis particularibus legitime provisum fuerit. Und Canon 123 sagt: Memoratis privilegiis clericus renuntiare nequit. [3]

Ein dem entgegenstehendes Partikularrecht existiert für das Fürstentum Liechtenstein nicht.

Daher habe ich mich, um nicht gegen das kirchliche Gesetz zu handeln, an das hochwürdigste bischöfliche Generalvikariat in Chur gewendet mit der Bitte, mir zu sagen, was ich in dieser Sache zu tun habe. Der H. Generalvikar [Laurenz Matthias Vincenz] liess mir nun heute durch den Herrn Katecheten [Johann Peter Alois] Balzer (Gutenberg), der heute von Chur kam, sagen, ich solle mich auf das privilegium fori berufen. Das möchte ich nun auch hiemit getan haben.

Um meinen Anwalt [4] von der Entschliessung des wohllöbl. Landgerichtes möglichst bald verständigen zu können, bitte ich um ehetunlichste Bekanntgabe derselben. [5]

Des wohllöblichen Landgerichtes ergebenster

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[1] LI LA J 007/S 046/100 (Aktenzeichen des F.L. Landgerichts: Z. 355 Sts.). Eingangsstempel des F.L. Landgerichts vom 18.4.1919. 
[2] Vgl. die Privatanklageschrift gegen Landesvikar Johann Baptist Büchel vom 2.4.1919 wegen Übertretung gegen die Sicherheit der Ehre (LI LA J 007/S 046/100 (Aktenzeichen des Landgerichtes: Z. 314 Sts.)).
[3] Das privilegium fori (wörtlich Privileg des Gerichtsorts) war ein Rechtsprivileg für Kleriker aus dem Mittelalter und bedeutete, dass diese nicht vor ein weltliches Gericht zitiert werden konnten. Der CIC von 1917 erneuerte dieses kirchliche Recht. Vom CIC 1917 gibt es keine offizielle Übersetzung. Canon 120 § 1 besagt, dass Kleriker sowohl in Zivil- wie auch in Strafsachen vor ein kirchliches Gericht geladen werden müssen, ausser wenn für bestimmte Gebiete etwas anderes bestimmt sei. Canon 123 besagt, dass der Geistliche auf diese Privilegien nicht verzichten kann.
[4] Vgl. die schriftliche Bevollmächtigung des Feldkircher Rechtsanwaltes Ferdinand Redler bzw. des Rechtsanwaltsanwärters Arthur Ender durch Landesvikar Büchel am 18.4.1919 (LI LA J 007/S 046/100). 
[5] Landrichter Julius Thurnher teilte dem Landesvikar mit Schreiben vom 17.4.1919 mit, dass die staatlichen Gesetze das kanonische privilegium fori für Kleriker nicht anerkannten. Es bestand somit für das Gericht kein Grund, von den getroffenen Verfügungen abzugehen (LI LA J 007/S 046/100 (Aktenzeichen des Landgerichtes: Z. 355 Sts.)). Am 30.4.1919 zogen allerdings Beck und Ritter ihre Privatanklage zurück (LI LA J 007/S 046/100 (Aktenzeichen des Landgerichtes: 406 Sts.)) und erschienen auch nicht zur Gerichtsverhandlung am 1.5.1919, sodass im Hinblick auf den Vorwurf der Übertretung der Sicherheit der Ehre nach den §§ 488, 491 des Strafgesetzes 1852/1859 ein Freispruch gemäss § 201 Z. 2 der Strafprozessordnung, LGBl. 1914 Nr. 3, erging (LI LA J 007/S 046/100 (Aktenzeichen des Landgerichtes: Z. 411 Sts.)).