Die Solothurner Zeitung berichtet, dass sich Liechtenstein bereits seit Sommer 1918 darum bemüht, dass die Schweiz all jene Funktionen übernehmen soll, die Österreich bisher für Liechtenstein ausübte


Nicht gez. Bericht in der Solothurner Zeitung [1]

25.11.1918

Liechtenstein als zugewandter Ort

Vor einigen Tagen erklärte bekanntlich der schweizerische Bundesrat, auf Ansuchen der liechtensteinischen Regierung überall da, wo schweizerische Auslandsvertretungen bestehen, auch den Schutz der Interessen des kleinen Nachbarstaates übernehmen zu wollen.

Im Sommer schon richtete die Regierung des Fürstentums an die Schweiz das Gesuch, in Unterhandlungen treten zu wollen zwecks Übernahme aller jener Funktionen, die bisher der österreichische Staat im Namen des Fürstentums  ausgeübt hatte. Die Schweiz sollte also übernehmen die Zollverwaltung, Post, Telegraph, Münzwesen, selbst die oberste Gerichtsarbeit, indem das Bundesgericht als letzte Instanz angerufen werden sollte. Mit der Übernahme dieser Tätigkeit durch die Schweiz würde Liechtenstein tatsächlich ein zugewandter Ort der Eidgenossenschaft.

Wir vernehmen nun an zuständiger Stelle, dass in den nächsten Tagen die eidg. Räte Kommissionen bestimmen werden, die über alle die angeschnittenen Fragen mit den Vertretern Liechtensteins verhandeln sollen. Bereits hat das Fürstentum seine Delegierten ernannt.

Die Probleme selbst bleiben natürlich vollständig unpräjudiziert, und es ist sehr fraglich, ob dem Ansuchen überhaupt entsprochen werden kann. So wird z. B. die Frage der Zollunion aus vielen Gründen sehr schwierig sein. Post- und Telegraphenverwaltung liessen sich leichter auf die Schweiz übertragen. Auch ein Beitritt zur lateinischen Münzunion ist praktisch nicht allzuschwierig, und zum Schlusse lässt sich in dem kleinen Staate auch die Rechtssprechung leicht der schweizerischen anpassen.

Vermehrte Bedeutung erhält das ganze Problem auch im Hinblick auf die Vorarlbergerfrage, wenn man auch eine gleichartige Lösung für Vorarlberg auch nicht als glücklich ansehen kann, denn dieses Land soll entweder ganz schweizerisch werden – oder gar nicht. Ein Mittelding kann nur ein Übergangsstadium, niemals aber eine endgültige Lösung darstellen. Die Verhandlungen mit Liechtenstein aber könnten leicht als Muster und Beispiel für jene mit Vorarlberg dienen. Die Engerknüpfung der staatlichen Bande bietet aber zugleich auch Gewähr, dass die Glückspiele in Vaduz wohl nie zustandekommen werden; denn Liechtenstein weiss genau, dass sie ein grosses Hindernis für eine freundnachbarliche Ausgestaltung der Beziehungen darstellen würden.

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[1]Solothurner Zeitung 25.11.1918.