Emma Rheinberger an Alois Rheinberger über das ärztliche Schreibverbot im Kurort Arosa, die Zusendung von Fotografien aus Amerika, die Staubkrankheit der Weinreben in Vaduz, die dortige Weinernte, die geistliche Berufung des Dienstmädchens im „Roten Haus“, die armseligen kirchlichen Verhältnisse in Arosa, die Eisenbahnprojekte von Chur nach Arosa sowie für Liechtenstein, den Patriotismus für das friedfertige Fürstentum Liechtenstein, die langen und strengen Winter in den Bündner Bergen sowie die Übersendung einer Medaille aus Lourdes und der Biografie des Komponisten Josef Gabriel Rheinberger nach Nauvoo


Handschriftliches Originalschreiben der Emma Rheinberger, Arosa (Graubünden), an Alois Rheinberger, Nauvoo (Illinois) [1]

o.D. (wohl Dezember 1906), Arosa (Graubünden)

Mein lieber Herr Vetter!

Ein herzlich „Grüss-Got“,
lieber Herr Vetter! Gar sehr leid ist es mir, so lange viel
zu lange mit dem Danke, den ich Ihnen für eine grosse
Freude schulde, gezögert zu haben. Eine ziemlich ausge-
breitete Corespondenz, die ich hier habe, lässt mich oft, die
meinem Herzen liebsten Personen fast vernachlässigen, um
so mehr man in Arosa vom Dor. [Doktor] [2] mit wahren Argusaugen
verfolgt wird, ob man seinem Verbot, zu schreiben
nachkomme. – Dieses fürchterliche [3] Gebot des Nichtstun, das
hier zur Bedingung der Lungenheilung gefordert wird,
ist ein entsetzlich‘ Verlangen, lieber Herr Vetter, – ein arbeits-
loses Leben deutet für mich ein Leben der Qual, – doch
weil der liebe Gott mein Krankwerden haben wollte,
sei ihm auch das gedankt. –

1000mal Dank, Sie lieber, guter Herr Vetter, wie ha-
ben Sie mich wieder erfreut mit einem herzlich willkomm-
nen, lb. Brieflein u. mit 3 Photographien, die mir
in meinem Zimmerchen nun lieb u. traut von der Wand
herunter winken. – Sie sind der Schmuck, die Freude
meines Zimmerchens geworden, Ihre u. nun auch meine
Lieben u. am liebsten möchte ich oft mit ihnen Zwiegespräche
[4] halten, ach könnten sie mir nur erzählen, recht,
recht viel erzählen von Ihrer Heimat drüben über dem
grossen Meer, ich könnte ja nicht satt werden mit [5]
Zuhören, vom lb. Grossväterchen, bis zum Grossenkel möchte
ich sie alle geschieldert haben. (Verzeihen Sie doch recht [6]
sehr, ich muss in meiner liegenden Lage so schlecht schreiben.)
Aus Ihrem lb. Brief sehe ich so recht, was für ein arbeits-
u. Folge dessen Freudvolles Jahr Sie wieder hinter sich haben. –
Wie beneide ich Sie um Ihr tatenreiches u. Segensvolles Leben,
wie muss einen da ein Glücksgefühl erfüllen, wenn man
sich sagen darf, dass man so viel genützt, gewirkt u.
geschafft hat im Leben. – Oft will es mich furchtbar weh-
mütig überfallen, im Gedanke, so Berufslos gar nichts
zu nützen auf der Welt. –

Und gesegnet hat Gott dies Jahr besonders die Arbeit
in Ihren Weinreben mit so schönem Ertrag. Gewiss war
dann auch die Ernte eine recht freudige. Der liebe Gott ist
so gut, nicht wahr, mit vollen Händen teilt er immer wieder
aus. – Doch auch froh werden Sie sein, die gewis strapaz-
öse Weinernte hinter sich zu haben, zu mal man ja
mit d. Arbeitern bei Ihnen recht schwer zu tun scheint. –
In Vaduz war die Weinernte keine besonders gute.
Im Frühling u. Sommer hatte man noch die schönsten
Hoffnungen, prachtvoll versprach es zu werden, so
dass ich mich in Arosa wahrhaft d‘rüber freute. – Aber
eines Nachts setzte sich ein fürchterliches Gewitter an
u. in wenigen Tagen d’rauf waren sämmtliche Weinberge
krank, immer kranker (staubkrank). Man spritzte u.
spritzte mit Kupfervitriol immer mehr d’rauf los, die
reinste Apotheke werden unsre Reben daheim, mittelst
immer heftigerem Spritzen [7] suchen unsre Weinbauern
zu siegen, so dass ich darüber einmal heimschrieb:
wahrhaftig, nun hiess es in unsern Reben bald, [8]
"alle Stund ein Esslöffel voll.“ – Dann schickte ich Ihren
lb. Brief, in dem Sie davon sprachen, dass Sie letzten Sommer
mit so schönem Erfolg [9] gar nicht mehr spritzen u. sie
waren sehr erstaunt darüber, vielleicht dass man in Va-
duz mit der Zeit auch gescheidter wird mit dem übertrie-
ben vielen Spritzen. – Der lb. Gott schenkte uns in seiner
Güte dann aber doch noch vermöge eines wunderbar schönen,
heissen, günstigen Oktobers, ein nettes Mitteljahr.
Bis zu diesem war eben beinahe das ganze Jahr fast
vom Februar an, nass, kalt, durchschnittlich schlecht. –
Eine Frage, die mir doch am meisten am Herzen liegt,
habe ich noch gar nicht getan, – fühlen Sie sich
auch ganz, ganz wohl, lieber Herr Vetter? Ach wie
so sehr hoffe ich das. Die Ruhestündchen des
Winters, welche ich mir in Ihrem lb. trauten Heim,
(das für Sie wohl unsäglich Liebes birgt) so
behaglich denke, mögen Sie neu stärken zu der
Arbeit des Frühlings. Dieser bringt nämlich
uns daheim stets die heisseste Arbeit des ganzen
Jahres im Weinbau. –

Sie schauen mich wohl fraglich an, lieber Herr
Vetter: „immer noch in Arosa?“ Ja, Vetterchen,
liebes, die ich Ihnen wohl all mein Leid klagen
könnte, „immer noch in Arosa“. Ob man mich
überhaupt noch heimlässt? Bange Zweifel
möchten mich schliesslich bemeistern, – noch ein-
mal einen ganzen Winter [10] soll ich in Arosa ver-
bringen. Gehörte ich Ihnen an, würden Sie mein
Väterchen sein, nicht wahr, dann würden Sie auch an- [11]
fangen, um mich zu bangen? Doch versichert der
Dor. [12], dass wirklich keine Ursache dazu da wäre u. er ist
ein ehrlicher Mann, der einen zu hintergehen kaum vermag.
Neulich frug ich ihn, in welchem Stadium meine Lunge
denn eigentlich krank wäre? „Im ersten“ antwortete er
mir. Darauf war ich wieder guten Mutes. Ich weiss ja
auch sehr wohl, dass auch nur ein kl. Stückchen kran-
ker Lunge, grosser, langer, sorgsamer Pflege bedarf,
wenn sie wieder ganz gesund werden soll, – so
harre ich, harre ich kindlich vertrauend der Hilfe des
Herrn, bis er sie sendet. – Und auch Sie, lb. Herr Vetter,
o wollen Sie es unserm lieben gütigen Gott im Himmel
nicht sagen, wie sehr ich seiner Hilfe bedürfe? Meinen
ganzen Herzensdank möchte ich Ihnen dafür schicken.

Inzwischen hatten Sie gewiss wieder
manch lb. Besuch von Ihren lb. Kindern u. Enkelchen.
Eine dieser „Erna Rheinbg.“ muss mit ganz beson-
derm hochintelligenten Geiste ausgerüstet sein nach
Ihrem seltenem Exsamen, worauf sie sogar auf
Staatskosten weiter zu studieren berechtigt ist. –
Wie muss das Ihr Grossvaterherz erwärmen. Welch
ein Studium beabsichtigt sie denn nun? – Und
zwei kleine herzige Uhrenkelchen wohl haben Sie
mir geschickt, o wie ich diese lieb habe, man möchte
in Ihre Bäcklein beissen! So ein reicher, Glücks-
reicher Vater u. Grossvater wie Sie sind! Wie
lauter warmes Sonnengold muss das einen erfüllen. –
Daheim im „roten Haus“ webt sich so ein Tag in
den andern, gemischt mit Freud u. Leid. - [13]
Eine unsrer Hausgenossen, unser Dienstmädchen ist zu
einem gar tapfern Entschluss gekommen, sie will sich
den Klosterberuf erwählen, wesshalb sie gestern vor-
erst zu einem Spezialisten nach Zürich kam, denn mit
ihrem Leiden nimmt man sie nicht auf im Kloster. –
Ich verliere die arme, mutterlose, rührend gute Waise,
ein vorzügliches Mädchen, sehr ungern u. freue ich
mich andern Teils wieder innig, wenn sie der lb. Gott
eben ganz für sich haben will.

Unsre kirchlichen Verhältnisse in Arosa sind noch
immer dieselben armseligen. Der Rohbau eines denk-
barst armen Kirchleins steht nun da, das heisst, d.
untere Stock bildet eine kleine Kapelle [14] u. d. obere die
Pfarrerwohnung. – Ich raffe mich immer wieder
von Neuem auf, unter den Kurgästen für diese
unbeschreibliche Armut unsrers Herrn u. Gottes
zu betteln, aber ach, was sie mir geben, lässt
mich oft im Innersten aufseufzen u. für Putz,
Flitter u. Tand haben sie so viel Geld. –

Liess mich der liebe Gott doch nur einmal [15] einen
recht barmherzigen, guten, hilfswilligen Kurgast
finden, der es einsähe, wie Hilfe so nötig. –
Wenn es sich um sichtlichen Gewinn handelt, dann
kommen Geldmittel Haufenweise zum Vorschein.
So auch wieder mit dem neuen Projekt einer
Eisenbahn von Chur nach Arosa (bisher war ja
nur d. Postwagenverkehr), welche nicht wenig
zu kosten scheint, eine Stelle von Castil [Castiel] allein
wird zu 200‘000 [16] frs. berechnet. Auch uns Liech- [17]  
tensteinern schimmert nun wieder ein bischen Hoffnung
zu einer aber sehr notwendigen Bahn, möchte es nur
endlich wahr werden, wir mangeln sie ja wirklich
empfindlich. [18] – Mit einer wahren Wut nehme ich, be-
sonders hier, immer wieder wahr, wie man sich über
mein kl. [19] lb. Vaterland lustig machen will, – wären sie
nur so glücklich die andern grossen, stets kampf-
bereiten
[20] Staaten, wie unser genügsam, stets friedfertig
Völkchen, weniger Krieg u. Elend hätten wir dann
in der Welt. –

S. Franzisko konnt es sich u. besonders d. lb. Anverwandten
dort doch wieder orndendlich erholen? [21] - Gott sei Dank,
bejate dies zwar schon Ihr letztes lb. Schreiben. –

Samstag, am 24. November hatten wir in Arosa
auch wieder, wie schon im vergangenen Winter
Anzeichens eines Erbebens, aber nur ganz wenig
rüttelte es uns. – Ein ganz unheimlich Jahr
das! Hatten Sie auch letzten Winter in Nauvoo
nichts von Erdbeben verspürt? –

Hier oben in den 2-3000 Meter hohen Graubünd-
ner bergen hat der Winter natürlich längst
begonnen, Eis u. Schnee eine Menge, die lieblichen
Gebirgsseen sind bereits eingefroren. Man
kann in dieser Höhe etwa 8-9 Monate Winter
u. die übrigen Monate Sommer rechnen. Früh-
ling u. Herbst giebt es ja nur höchst selten.
Schnee hatten wir vergangenen Winter im Ganzen
5 Mtr. [22] u. im vorhergehenden 6 ½ [23] Mtr. –
Man kann sich von einem solchen Schnee-
fall anderswo überhaupt keinen Begriff machen. [24]

Jetzt habe ich Ihnen noch viel, viel liebe,
gute Wünsche auf Weihnachten u. Neujahr
zu entbieten. – Der liebe Gott weile bei
Ihnen, mein lieber Vetter, jeden Tag, jede
Stunde des ganzen Jahres mit vollen, segnenden
Gnadenhänden. Und Christkindchen? – Ach
es komme in Ihr Herz mit himmlischem Glücke. –
Nehmen Sie auch meine kl. Weihnachtsgabe,
Onkel Josef Rheinberger‘s [Josef Gabriel Rheinberger] ganz neu erschienene
Biographie. Die Hefte gehen gleichzeitig mit
diesem Briefe ab. – Sie lernen darin unsre ganze
Grosselterliche Familie (väterlicher Seits) kennen.
Der „Peter“ darin ist mein selg. liebes Väterchen [Peter Rheinberger],
die Hanni, od. Johanna [Maxentia Rheinberger] die einzige noch lebende
Tochter Grossvater Rentmeisters [Johann Peter Rheinberger], jetzige General-
oberin vieler Klöster. – Auch finden sie hinten eini-
ge Bilder Onkels Josefs u. dessen Vater-, mein
Grossvaterhaus. – Möchte ich Ihnen doch eine
kl. Freude damit machen.

Längst auch schon hatte ich Ihnen schon einmal er-
zählt, ich hätte Ihnen damals von unsrer grossen,
ergreifenden Pilgerreise nach Lourdes etwas
mit gebracht. Es ist leider verschwindend kl. das
beiliegende Bildchen hier mit d. kl. Medaille, aber
dennoch von hohem Werte, es ist berührt an dem
Felsen, wo die liebe Muttergottes einst selbst
gestanden, halten Sie es, besonders die Medaille
in Ehren.

(Kann es erst heute nach so langer Zeit d. Pilgerfahrt senden, weil es mir
erst kürzlich von daheim übermittelt wurde.) [25]

Weihnachten wird für mich gar traurig werden,
krank, fern von meinen Lieben, – doch was sag
ich, nein, nein eine glückseelige Weihnachten
wird es unter demselben Dache [26] mit dem neuge-
borenen Jesukindlein sein, d. liebe Gott hat
ja seinen Tabernakel hier in dem Hause in
welchem ich wohne, unten neben dem armen
Keller, im Erdgeschoss aufgeschlagen.

Grüssen Sie bitte Ihre lb. Kinder u. Enkelchen alle
u. seien sie behütet u. beschützt von dem bald er-
scheinenden Göttl. Christkindlein, dann wird’s Ihnen
so gut gehen, lieber Herr Vetter, wie es von
Herzen wünscht /

Ihr anhänglich Bäschen
Emma Rheinberger.

______________

[1] LI LA AFRh Ha 18. Brief in lateinischer Schrift. Späterer Vermerk: "um 1907?".
[2] Doppelt unterstrichen.  
[3] Unterstrichen.
[4] Durchstreichung.
[5] Durchstreichung.
[6] Seitenwechsel.
[7] Unterstrichen.  
[8] Seitenwechsel.
[9] Unterstrichen.
[10] Unterstrichen.
[11] Seitenwechsel.
[12] Doppelt unterstrichen.
[13] Seitenwechsel.
[14] Einweihung im Juli 1907.
[15] Unterstrichen.
[16] Unterstrichen.
[17] Seitenwechsel.
[18] Die für Liechtenstein unbefriedigende Streckenführung der Eisenbahn führte 1881-1884, 1903-1907 und 1926 zu erfolglosen Bemühungen, Vaduz, Triesen und Balzers an das Streckennetz anzuschliessen. Vgl. HLFL, Bd. 1, S. 175-176 (Artikel: „Eisenbahn“).
[19] Unterstrichen.
[20] Unterstrichen.
[21] San Francisco wurde im April 1906 durch ein Erdbeben zerstört.
[22] Unterstrichen.
[23] Unterstrichen.
[24] Seitenwechsel.
[25] Seitenwechsel.
[26] Unterstrichen.