Verfassungsentwurf von Wilhelm Beck (2)


Beitrag in den „Oberrheinischen Nachrichten", verfasst von Wilhelm Beck [1]

16.6.1920

Verfassungs-Entwurf des Fürstentums Liechtenstein

(Fortsetzung)

III. Hauptstück. 

Rechte und Pflichten der Liechtensteiner.

Art. 14. Der Aufenthalt im Lande begründet den Schutz nach dieser Verfassung und verpflichtet zur Beobachtung aller Gesetze. [2] 

Die Verfassung gewährleistet den Anspruch auf Schutz gegenüber dem Auslande, den inländischen Gerichten für private und öffentliche Ansprüche und auf Fürsorge des Staates in der Verwaltung. 

Die Erlangung der staatsbürgerlichen Rechte steht jedem Bürger nach den Bestimmungen dieser Verfassung zu. [3]

Über Entstehung und Erwerbung, Verlust und Untergang des Staatsbürgerrechtes bestimmen die Gesetze. [4] 

Art. 15. Die gemeinsamen Rechtsnormen der Landesangehörigen bilden die Landesgesetze. 

Die Rechtsgleichheit ist gewährleistet und alle öffentlichen Ämter sind unter Einhaltung der gesetzlichen Bestimmungen allen Liechtensteinern zugänglich. [5]  

Standes- und persönliche Vorrechte mit Ausnahme für die Familie des fürstlichen Hauses Liechtenstein finden nicht statt.

Art. 16. Die persönliche Freiheit und die Unverletzlichkeit der Wohnung, das Brief- und Schriftgeheimnis sind gewährleistet.  

Niemand darf verhaftet oder in Haft behalten und es darf keine Hausdurchsuchung und Durchsuchung von Personen, Briefen und Schriften stattfinden, ausser in den vom Gesetze bestimmten Fällen und in der vom Gesetze bestimmten Art und Weise.  

Ungesetzliche oder unverschuldete Haft oder Verurteilung gibt dem Betroffenen Anspruch auf eine vom Gericht festzusetzende Entschädigung aus der Staatskasse; ob und inwieweit dem Lande hiebei ein Rückgriffsrecht auf Dritte zusteht, bestimmt das Gesetz. [6]  

Art. 17. Niemand darf seinem verfassungsmässigen Gerichtstande entzogen und es dürfen keine Ausnahmegerichte eingeführt werden. [7]  

Strafen dürfen nur in Gemässheit der Gesetze angedroht und verhängt werden.  

In allen Strafsachen ist dem Angeschuldigten das Recht der Verteidigung gewährleistet. [8]  

Art. 18. Das Eigentum der Einzelnen und Korporationen ist unverletzlich u. gewährleistet.  

Es dürfen daher Vermögen, wie einzelne Sachen nur in den durch das Gesetz bestimmten Fällen eingezogen werden.  

Art. 19. Den Gemeinden, öffentlichen Genossenschaften, Korporationen, der Kirche und den Stiftungen ist ihr Eigentum, die gesetzliche Verwaltung und die rechtmässige, bezw. stiftsgemässe Verfügung über das Vermögen und dessen Ertrag gewährleistet.  

Ihr Vermögen darf nie unter einzelne Private verteilt werden. [9]  

Ist bei Stiftungen ihr ursprünglicher Zweck nicht mehr erfüllbar, so darf eine Verwendung zu andern Zwecken mit Zustimmung der Beteiligten und insoferne Landesanstalten in Betracht kommen, unter Zustimmung des Landtages erfolgen. 

Art. 20. Wo das öffentliche Wohl es erheischt, kann die Abtretung oder Belastung jeglicher Art unbeweglichen und beweglichen Gutes gegen volle, streitigenfalls durch den Richter festzustellende Entschädigung gefordert werden. [10] 

Das Gesetz bestimmt das Enteignungsverfahren.  

Art. 21. Die Freiheit des Handels und Gewerbes ist gewährleistet; Beschränkungen trifft die Gesetzgebung, insbesondere zur Bekämpfung eines unreellen und gemeinschädlichen Geschäftsverkehres. [11] 

Die Zulässigkeit ausschliesslicher Handels- und Gewerbsprivilegien für eine bestimmte Zeit wird durch das Gesetz geregelt. [12]  

Art. 22. Die Glaubens-, Kultus- und Gewissensfreiheit ist unverletzlich u. gewährleistet.  

Es darf die Ausübung bürgerlicher oder politischer Rechte nicht durch Vorschriften kirchlicher oder religiöser Natur beschränkt werden. [13]  

Die römisch-katholische Kirche geniesst den Schutz des Staates.  

Religiöse und kirchliche Angelegenheiten besorgen die kirchlichen Behörden; über die Verwaltung des Kirchengutes in den Gemeinden wird nach näheren gesetzlichen Bestimmungen ein Kirchenrat bestellt.  

Art. 23. Die Freiheit der Meinungsäusserung und Gedankenmitteilung durch die Presse, durch Schrift, Druck, bildliche Darstellung und Rede ist gewährleistet; gegen Missbrauch schützt das Gesetz.  

Es darf keine Zensur ausgeübt werden.

Die Verfassung gewährleistet das freie Vereins- und Versammlungsrecht; erforderliche Bestimmungen gegen den Missbrauch dieser Rechte trifft die Gesetzgebung. [14]

Art. 24. Das Petitionsrecht an den Landtag, den Landesausschuss und an sonstige Behörden ist gewährleistet. [15]

Es steht nicht nur einzelnen Landesangehörigen und andern in ihren Rechten Betroffenen, sondern auch Gemeinden und Korporationen zu, ihre Wünsche und Bitten durch einen Abgeordneten im Landtage vorbringen zu lassen. [16]

Art. 25. Jeder Liechtensteiner hat das Recht, sich in jeder Gemeinde des Landes unter den näheren gesetzlichen Bestimmungen frei niederzulassen.

Für Ausländer gelten die Staatsverträge, allenfalls das Gegenrecht.

Art. 26. In allen Landes- und Gemeindeangelegenheiten ist jede männliche Person nach erfülltem 21. Lebensjahre, wenn die sonstigen gesetzlichen Bestimmungen zutreffen, wahl- und stimmberechtigt.

Die Teilnahme an Wahlen und Abstimmungen ist Bürgerpflicht.

Bei der Wahl in kollegiale Behörden ist auf eine verhältnismässige Vertretung der Minderheiten der Bevölkerung Rücksicht zu nehmen.

Das Wahlrecht enthält die näheren Bestimmungen.

Das Grossjährigkeitsalter wird mit erfülltem 21. Lebensjahre erreicht.

Art. 27. Das Recht der Beschwerdeführung ist gewährleistet.

Jeder Landeseinwohner ist berechtigt, über das seine Interessen benachteiligende Verfassungs-Gesetz oder verordnungswidrige Benehmen oder Verfahren einer öffentlichen Behörde bei der unmittelbar vorgesetzten Stelle Beschwerde zu erheben und solche nötigenfalls bis zur höchsten Stelle zu verfolgen.

Wird die Beschwerde verworfen, so ist die Behörde verpflichtet, dem Beschwerdeführer die Gründe ihrer Entscheidung zu eröffnen. [17]

Vorbehalten bleiben die Bestimmungen über den Staatsgerichtshof.

Art. 28. Jeder Waffenfähige ist bis zum zurückgelegten sechzigsten Lebensjahre im Falle der Not zur Verteidigung des Vaterlandes verpflichtet. [18]

Die Gesetzgebung trifft die näheren Bestimmungen.

IV. Hauptstück.

Vom Landesfürsten.

Art. 29. Der Landesfürst ist das Staatsoberhaupt und übt sein Recht an der Staatsgewalt gemäss dieser Verfassung und den Gesetzen aus.

Seine Person ist unverletzlich. [19]

Die Regierungsrechte sind erblich im fürstlichen Hause Liechtenstein nach Massgabe der Hausgesetze und dieser Verfassung.

Nach den Hausgesetzen wird die Grossjährigkeit des Landesfürsten und des Erbprinzen sowie allenfalls die Vormundschaft geordnet. [20]

Art. 30. Der Landesfürst vertritt entweder persönlich oder durch die Regierung den Staat gegenüber fremden Staaten.

Ohne Zustimmung des Landtages darf das Land durch Staatsverträge weder im ganzen noch zum Teil oder sonstiges Staatseigentum veräussert, auf kein Staatshoheitsrecht verzichtet oder darüber irgendwie verfügt, ferner keine neuen Lasten auf das Fürstentum oder dessen Angehörige übernommen, endlich keinerlei Verpflichtungen zu Lasten des Landes oder seiner Angehörigen eingegangen werden. [21]

Art. 31. Zur Gültigkeit eines Gesetzes ist ausser der Zustimmung des Landtages die Sanktion des Landesfürsten und die Verkündigung durch die Regierung im Landesgesetzblatt erforderlich.

Wenn nichts anderes im Gesetze selbst bestimmt wird, tritt es acht Tage nach seiner Verkündigung in Kraft.

Alle Gesetze und Verordnungen, ferner alle vom Landesfürsten oder einer Regentschaft ausgehenden Erlasse und Regierungsakte bedürfen zu ihrer Giltigkeit der Gegenzeichnung eines Regierungsmitgliedes, das dadurch die Verantwortung übernimmt.

Art. 32. Ohne Mitwirkung und Zustimmung des Landtages dürfen keine Gesetze gegeben, abgeändert oder authentisch erklärt werden. [22]

In dringenden Fällen hat der Landesfürst durch die Regierung das zur Sicherstellung und Wohlfahrt des Staates Notwendige vorzukehren, jede solche Massregel bedingt aber die nachträgliche Zustimmung des Landtages; wird dieselbe verweigert, so ist die Anordnung aufzuheben. [23]

Art. 33. Der Fürst hat das Recht der Begnadigung und Strafmilderung.

Er darf die bereits eingeleitete Untersuchung nur auf Grund der Strafprozessordnung niederschlagen.

Zu Gunsten eines wegen seiner Amtshandlung verurteilten Regierungsmitgliedes darf die Begnadigung oder Strafmilderung nur auf Antrag des Landtages ausgeübt werden.

Art. 34. Der Landesfürst bezieht für sich keine Zivilliste. [24]

______________

[1] O.N., Nr. 48, 16.6.1920, S. 1 („Verfassungs-Entwurf des Fürstentums Liechtenstein"). Teil 1 des Entwurfes wurde abgedruckt in: O.N., Nr. 47, 12.6.1920, S. 1. Die Teile 3-6 des Entwurfes folgten in: O.N., Nr. 49, 19.6.1920, S. 1; O.N., Nr. 50, 23.6.1920, S. 1-2; O.N., Nr. 51, 26.6.1920, S. 1; O.N., Nr. 52, 30.6.1920, S. 2.
[2] Vgl. § 4 der liechtensteinischen Verfassung vom 26.9.1862.
[3] Vgl. § 5 Verfassung 1862.
[4] Vgl. § 6 Verfassung 1862.
[5] Vgl. § 7 Verfassung 1862.
[6] Vgl. Art. 30 Abs. 1-3 der Verfassung des Kantons St. Gallen vom 16.11.1890.
[7] Vgl. Art. 29 Verfassung St. Gallen 1890.
[8] Vgl. Art. 30 Abs. 4 Verfassung St. Gallen 1890.
[9] Vgl. Art. 32 Abs. 1 und 2 Verfassung St. Gallen 1890.
[10] Vgl. Art. 31 Abs. 2 Verfassung St. Gallen 1890.
[11] Vgl. Art. 27 Verfassung St. Gallen 1890.
[12] Vgl. § 17 Verfassung 1862.
[13] Vgl. Art. 22 Abs. 1 und 2 Verfassung St. Gallen 1890.
[14] Vgl. Art. 28 Verfassung St. Gallen 1890.
[15] Vgl. Art. 25 Verfassung St. Gallen 1890.
[16] Vgl. § 20 Verfassung 1862.
[17] Vgl. § 19 Verfassung 1862.
[18] Vgl. § 21 Abs. 1 Verfassung 1862.
[19] Vgl. § 2 Verfassung 1862.
[20] Vgl. § 3 Verfassung 1862.
[21] Vgl. § 23 Abs. 2 Verfassung 1862.
[22] Vgl. § 24 Abs. 1 Verfassung 1862.
[23] Vgl. dagegen § 24 Abs. 2 Verfassung 1862.
[24] Unter "Zivilliste" wird der jährliche Beitrag aus der Staatskasse für den Monarchen und dessen Familie verstanden.